Zweiter Hauptabschnitt.

Allgemeine Deduktion des transzendentalen Idealismus

Vorerinnerung

[51] 1. Der Idealismus ist schon in unserem ersten Grundsatze ausgedrückt. Denn weil das Ich unmittelbar durch sein Gedachtwerden auch ist (denn es ist nichts anderes als das Sichselbstdenken), so ist der Satz Ich = Ich = dem Satz: Ich bin, anstatt daß der Satz A = A nur so viel sagt: wenn A gesetzt ist, so ist es sich selbst gleich gesetzt. Die Frage: ist es denn gesetzt? ist vom Ich gar nicht möglich. Ist nun der Satz: Ich bin, Prinzip aller Philosophie, so kann es auch keine Realität geben, als die der Realität dieses Satzes gleich ist. Aber dieser Satz sagt nicht, daß ich für irgend etwas außer mir, sondern nur, daß ich für mich selbst bin. Also wird auch alles, was überhaupt ist, nur für das Ich sein können, eine andere Realität wird es überhaupt nicht geben.

2. Der allgemeinste Beweis der allgemeinen Idealität des Wissens ist also der in der Wissenschaftslehre geführte durch unmittelbare Schlüsse aus dem Satz: Ich bin. Es ist aber noch ein anderer Beweis davon möglich, der faktische, der in einem System des transzendentalen Idealismus selbst dadurch geführt wird, daß man das ganze System des Wissens wirklich aus jenem Prinzip ableitet. Da es nun hier nicht um[51] Wissenschaftslehre, sondern um das System des Wissens selbst nach Grundsätzen des transzendentalen Idealismus zu tun ist, so können wir auch von der Wissenschaftslehre nur das allgemeine Resultat angeben, um von dem durch sie bestimmten Punkte aus unsere Deduktion des genannten Systems des Wissens anfangen zu können.

3. Wir würden sogleich zur Aufstellung der theoretischen und praktischen Philosophie selbst gehen, wenn nicht diese Einteilung selbst erst durch die Wissenschaftslehre deduziert werden müßte, welche ihrer Natur nach weder theoretisch noch praktisch, sondern beides zugleich ist. Wir werden also vorerst den Beweis des notwendigen Gegensatzes zwischen theoretischer und praktischer Philosophie – den Beweis, daß sich beide wechselseitig voraussetzen, und keine ohne die andere möglich ist, führen müssen, wie ihn die Wissenschaftslehre führt, um auf diese allgemeinen Prinzipien das System beider selbst aufführen zu können.

Der Beweis, daß alles Wissen aus dem Ich abgeleitet werden müsse, und daß es keinen andern Grund der Realität des Wissens gebe, läßt immer noch die Frage: wie denn das ganze System des Wissens (z.B. die objektive Welt mit allen ihren Bestimmungen, die Geschichte usw.) durch das Ich gesetzt sei, unbeantwortet. Es läßt sich auch dem hartnäckigsten Dogmatiker demonstrieren, daß die Welt doch nur in Vorstellungen bestehe, die volle Überzeugung aber kommt erst dadurch, daß man den. Mechanismus ihres Entstehens aus dem innern Prinzip der geistigen Tätigkeit vollständig darlegt; denn es wird wohl niemand sein, der, wenn er sieht, wie die objektive Welt mit allen ihren Bestimmungen ohne irgend eine äußere Affektion aus dem reinen Selbstbewußtsein sich entwickelt, noch eine von demselben unabhängige Welt nötig finde, welches ungefähr die Meinung der mißverstandenen Leibnizischen prästabilierten Harmonie ist.4 Aber ehe dieser Mechanismus selbst abgeleitet wird, entsteht die Frage, wie wir dazu kommen, einen solchen Mechanismus[52] überhaupt anzunehmen. Wir betrachten in dieser Ableitung das Ich als völlig blinde Tätigkeit. Wir wissen, daß das Ich ursprünglich nur Tätigkeit ist; aber wie kommen wir dazu, es als blinde Tätigkeit zu setzen? Diese Bestimmung muß zum Begriff der Tätigkeit erst hinzukommen. Daß man sich auf das Gefühl des Zwangs in unserem theoretischen Wissen beruft, und dann so schließt: da das Ich ursprünglich nur Tätigkeit ist, so ist jene Gezwungenheit nur als blinde (mechanische) Tätigkeit zu begreifen, ist als Berufung auf ein Faktum in einer Wissenschaft wie die unsrige nicht erlaubt; vielmehr muß das Dasein jener Gezwungenheit aus der Natur des Ichs selbst erst deduziert werden; zudem setzt die Frage nach dem Grund jener Gezwungenheit eine ursprünglich freie Tätigkeit voraus, die mit jener gebundenen Eine ist. Und so ist es auch. Die Freiheit ist das einzige Prinzip, auf welches alles aufgetragen ist, und wir erblicken in der objektiven Welt nichts außer uns Vorhandenes, sondern nur die innere Beschränktheit unserer eignen freien Tätigkeit. Das Sein überhaupt ist nur Ausdruck einer gehemmten Freiheit. Es ist also unsere freie Tätigkeit, die im Wissen gefesselt ist. Aber hinwiederum würden wir keinen Begriff einer eingeschränkten Tätigkeit haben, wenn nicht zugleich eine uneingeschränkte in uns wäre. Diese notwendige Koexistenz einer freien, aber begrenzten, und einer unbegrenzbaren Tätigkeit in einem und demselben identischen Subjekt muß, wenn sie überhaupt ist, notwendig sein, und diese Notwendigkeit zu deduzieren, gehört der höheren Philosophie, welche theoretisch und praktisch zugleich ist.

Wenn also das System der Philosophie selbst in theoretische und praktische zerfällt, so muß sich allgemein beweisen lassen, daß das Ich ursprünglich schon und kraft seines Begriffs nicht eingeschränkte (obgleich freie) Tätigkeit sein kann, ohne zugleich uneingeschränkte Tätigkeit zu sein, und umgekehrt. Dieser Beweis muß der theoretischen und praktischen Philosophie selbst vorangehen.

Daß dieser Beweis der notwendigen Koexistenz beider Tätigkeiten im Ich zugleich ein allgemeiner Beweis des transzendentalen Idealismus überhaupt sei, wird aus dem Beweis selbst erhellen.[53]

Der allgemeine Beweis des transzendentalen Idealismus wird allein aus dem im Vorhergehenden abgeleiteten Satz geführt: durch den Akt des Selbstbewußtseins wird das Ich sich selbst zum Objekt.

In diesem Satz lassen sich sogleich zwei andere erkennen:

1. Das Ich ist überhaupt nur Objekt für sich selbst, also für nichts Äußeres. Setzt man eine Einwirkung auf das Ich von außen, so müßte das Ich Objekt sein für etwas Äußeres. Allein das Ich ist für alles Äußere nichts. Auf das Ich als Ich kann also nichts Äußeres einwirken.

2. Das Ich wird Objekt; also ist es nicht ursprünglich Objekt. Wir halten uns an diesen Satz, um von ihm aus weiter zu schließen.

a) Ist das Ich nicht ursprünglich Objekt, so ist es das Entgegengesetzte des Objekts. Nun ist aber alles Objektive etwas Ruhendes, Fixiertes, das selbst keiner Handlung fähig, sondern nur Objekt des Handelns ist. Also ist das Ich ursprünglich nur Tätigkeit. – Ferner im Begriff des Objekts wird der Begriff eines Begrenzten oder Beschränkten gedacht. Alles Objektive wird eben dadurch, daß es Objekt wird, endlich. Das Ich also ist ursprünglich (jenseits der Objektivität, die durch das Selbstbewußtsein darein gesetzt wird) unendlich – also unendliche Tätigkeit.

b) Ist das Ich ursprünglich unendliche Tätigkeit, so ist es auch Grund – und Inbegriff aller Realität. Denn läge ein Grund der Realität außer ihm, so wäre seine unendliche Tätigkeit ursprünglich eingeschränkt.

c) Daß diese ursprünglich unendliche Tätigkeit (dieser Inbegriff aller Realität) Objekt für sich selbst, also endlich und begrenzt werde, ist Bedingung des Selbstbewußtseins. Die Frage ist, wie diese Bedingung denkbar sei. Das Ich ist ursprünglich reines ins Unendliche gehendes Produzieren, vermöge dessen allein es niemals zum Produkt käme. Das Ich also, um für sich selbst zu entstehen (um nicht nur Produzierendes, sondern zugleich Produziertes zu sein, wie im Selbstbewußtsein), muß seinem Produzieren Grenzen setzen.[54]

b) Aber das Ich kann sein Produzieren nicht begrenzen, ohne sich etwas entgegenzusetzen.

Beweis. Indem das Ich sich als Produzieren begrenzt, wird es sich selbst Etwas, d.h. es setzt sich selbst. Aber alles Setzen ist ein bestimmtes Setzen. Alles Bestimmen aber setzt voraus ein absolut Unbestimmtes (z.B. jede geometrische Figur den unendlichen Raum), jede Bestimmung ist also Aufhebung der absoluten Realität, d.h. Negation.

Aber Negation eines Positiven ist nicht möglich durch bloße Privation, sondern allein durch reelle Entgegensetzung, z.B. 1+0=1, 1-1=0).

Im Begriff des Setzens wird also notwendig auch der Begriff eines Entgegensetzens gedacht, also in der Handlung des Selbstsetzens auch die eines Setzens von Etwas, was dem Ich entgegengesetzt ist, und die Handlung des Selbstsetzens ist nur darum identisch und synthetisch zugleich.

Jenes ursprünglich Entgegengesetzte des Ichs entsteht aber nur durch die Handlung des Selbstsetzens, und ist abstrahiert von dieser Handlung schlechterdings nichts.

Das Ich ist eine ganz in sich beschlossene Welt, eine Monade, die nicht aus sich heraus, in die aber auch nichts von außen hereinkommen kann. Es würde also nie etwas Entgegengesetztes (ein Objektives) in sie kommen, wenn nicht durch die ursprüngliche Handlung des Selbstsetzens zugleich auch jenes gesetzt wäre.

Jenes Entgegengesetzte (das Nicht-Ich) kann also nicht wieder der Erklärungsgrund dieser Handlung sein, wodurch das Ich für sich selbst endlich wird. Der Dogmatiker erklärt die Endlichkeit des Ichs unmittelbar aus dem Beschränktsein durch ein Objektives; der Idealist muß seinem Prinzip zufolge die Erklärung umkehren. Die Erklärung des Dogmatikers leistet nicht, was sie verspricht. Hätten sich, wie er voraussetzt, das Ich und das Objektive ursprünglich in die Realität gleichsam geteilt, so wäre das Ich nicht ursprünglich unendlich, wie es ist, da es erst durch den Akt des Selbstbewußtseins endlich wird. Da das Selbstbewußtsein nur als Akt begreiflich ist, so kann es nicht erklärt[55] werden aus etwas, was nur eine Passivität begreiflich macht. Abgesehen davon, daß das Objektive mir erst durch das Endlichwerden entsteht, daß das Ich erst durch den Akt des Selbstbewußtseins der Objektivität sich aufschließt, daß Ich und Objekt sich entgegengesetzt sind, wie positive und negative Größen, daß also dem Objekt nur diejenige Realität zukommen kann, die im Ich aufgehoben ist, so erklärt der Dogmatiker die Begrenztheit des Ichs nur so, wie sich die eines Objekts erklären läßt, d.h. die Begrenztheit an und für sich, nicht aber ein Wissen um dieselbe. Das Ich als Ich aber ist nur dadurch begrenzt, daß es sich als solches anschaut, denn ein Ich ist überhaupt nur, was es für sich selbst ist. Bis zur Erklärung des Begrenztseins reicht die Erklärung des Dogmatikers, nicht aber bis zur Erklärung des Selbstanschauens in derselben. Das Ich soll eingeschränkt werden, ohne daß es aufhöre, Ich zu sein, d.h. nicht für ein Anschauendes außer ihm, sondern für sich selbst. Was ist denn nun jenes Ich, für welches das andere eingeschränkt sein soll? Ohne Zweifel ein Uneingeschränktes; das Ich also soll begrenzt werden, ohne daß es aufhöre, unbegrenzt zu sein. Es fragt sich, wie dieses denkbar sei.

Daß das Ich nicht nur begrenzt sei, sondern auch sich selbst anschaue als solches, oder daß es, indem es begrenzt wird, zugleich unbegrenzt sei, ist nur dadurch möglich, daß es sich selbst als begrenzt setzt, die Begrenzung selbst hervorbringt. Das Ich bringt die Begrenzung selbst hervor, heißt: das Ich hebt sich selbst als absolute Tätigkeit, d.h. es hebt sich überhaupt auf. Dies ist aber ein Widerspruch, der aufgelöst werden muß, wenn nicht die Philosophie in ihren ersten Prinzipien sich widersprechen soll.

e) Daß die ursprünglich unendliche Tätigkeit des Ichs sich selbst begrenze, d.h. in eine endliche verwandle (in Selbstbewußtsein), ist nur dann begreiflich, wenn sich beweisen läßt, daß das Ich als Ich unbegrenzt sein kann, nur insofern es begrenzt ist, und umgekehrt, daß es als Ich begrenzt, nur insofern es unbegrenzt ist.

f) In diesem Satz sind zwei andere enthalten.[56]

A. Das Ich ist als Ich unbegrenzt, nur indem es begrenzt wird.

Es fragt sich, wie so etwas sich denken lasse.

aa) Das Ich ist alles, was es ist, nur für sich selbst. Das Ich ist unendlich, heißt also, es ist unendlich für sich selbst. – Man setze einen Augenblick, das Ich sei unendlich, aber ohne es für sich selbst zu sein, so wäre zwar ein Unendliches, aber dieses Unendliche wäre nicht Ich. (Man versinnliche sich das Gesagte durch das Bild des unendlichen Raums, der ein Unendliches ist, ohne Ich zu sein, und der gleichsam das aufgelöste Ich, das Ich ohne Reflexion, repräsentiert.)

bb) Das Ich ist unendlich für sich selbst, heißt: es ist unendlich für seine Selbstanschauung. Aber das Ich, indem es sich anschaut, wird endlich. Dieser Widerspruch ist nur dadurch aufzulösen, daß das Ich in dieser Endlichkeit sich unendlich wird, d.h. daß es sich anschaut als ein unendliches Werden.

cc) Aber ein Werden läßt sich nicht denken als unter Bedingung einer Begrenzung. Man denke eine unendlich produzierende Tätigkeit als sich ausbreitend ohne Widerstand, so wird sie mit unendlicher Schnelligkeit produzieren, ihr Produkt ist ein Sein, nicht ein Werden. Die Bedingung alles Werdens also ist die Begrenzung oder die Schranke.

dd) Aber das Ich soll nicht nur ein Werden, es soll ein unendliches Werden sein. Damit es ein Werden sei, muß es beschränkt sein. Damit es ein unendliches Werden sei, muß die Schranke aufgehoben werden (Wenn die produzierende Tätigkeit nicht über ihr Produkt [ihre Schranke] hinausstrebt, so ist das Produkt nicht produktiv, d.h. es ist kein Werden. Wenn aber die Produktion in irgend einem bestimmten Punkte vollendet, die Schranke also aufgehoben ist [denn die Schranke ist nur im Gegensatz gegen die Tätigkeit, die über sie hinausstrebt], so war die produzierende Tätigkeit nicht unendlich.) Die Schranke soll also aufgehoben werden und zugleich nicht aufgehoben werden. Aufgehoben, damit das Werden ein unendliches, nicht aufgehoben, damit es nie aufhöre, ein Werden zu sein.[57]

ee) Dieser Widerspruch kann nur durch den Mittelbegriff einer unendlichen Erweiterung der Schranke aufgelöst werden. Die Schranke wird aufgehoben für jeden bestimmten Punkt, aber sie wird nicht absolut aufgehoben, sondern nur ins Unendliche hinausgerückt.

Die (ins Unendliche erweiterte) Begrenztheit ist also Bedingung, unter welcher allein das Ich als Ich unendlich sein kann.

Die Begrenztheit jenes Unendlichen ist also unmittelbar durch seine Ichheit, d.h. dadurch gesetzt, daß es nicht bloß ein Unendliches, sondern zugleich ein Ich, d.h. ein Unendliches für sich selbst ist.

B. Das Ich ist begrenzt nur dadurch, daß es unbegrenzt ist.

Man setze, dem Ich werde eine Grenze gesetzt ohne sein Zutun. Diese Grenze falle in jeden beliebigen Punkt C. Geht die Tätigkeit des Ichs nicht bis zu diesem Punkt, oder gerade nur bis zu diesem Punkt, so ist er keine Grenze für das Ich. Allein daß die Tätigkeit des Ichs auch nur bis zu dem Punkt C gehe, kann man nicht annehmen, ohne daß es ursprünglich ins Unbestimmte hin, d.h. unendlich tätig sei. Der Punkt C existiert also für das Ich selbst nur dadurch, daß es über ihn hinausstrebt, aber jenseits dieses Punktes liegt die Unendlichkeit, denn zwischen dem Ich und der Unendlichkeit liegt nichts als dieser Punkt. Also ist das unendliche Streben des Ichs selbst Bedingung, unter welcher es begrenzt wird, d.h. seine Unbegrenztheit ist Bedingung seiner Begrenztheit.

g) Aus den beiden Sätzen A und B wird auf folgende Art weiter geschlossen:

aa) Wir konnten die Begrenztheit des Ichs nur deduzieren als Bedingung seiner Unbegrenztheit. Nun ist aber die Schranke Bedingung der Unbegrenztheit nur dadurch, daß sie ins Unendliche erweitert wird. Aber das Ich kann die Schranke nicht erweitern, ohne auf sie zu handeln, und nicht auf sie handeln, ohne daß sie unabhängig von diesem Handeln existiert. Die Schranke wird also reell nur durch das Ankämpfen des Ichs gegen die Schranke. Richtete das Ich nicht seine Tätigkeit dagegen,[58] so wäre sie keine Schranke für das Ich, d.h. (weil sie nur negativ – in bezug auf das Ich setzbar ist) sie wäre überhaupt nicht.

Die Tätigkeit, welche gegen die Schranke sich richtet, ist nach dem Beweis von B. keine andere, als die ursprünglich ins Unendliche gehende Tätigkeit des Ichs, d.h. diejenige Tätigkeit, welche allein dem Ich jenseits des Selbstbewußtseins zukommt.

bb) Nun erklärt aber diese ursprünglich unendliche Tätigkeit allerdings, wie die Schranke reell, nicht aber, wie sie auch ideell werden, d.h. sie erklärt wohl das Begrenztsein des Ichs überhaupt, nicht aber sein Wissen um die Begrenztheit, oder sein Begrenztsein für sich selbst.

cc) Nun muß aber die Schranke zugleich reell und ideell sein. Reell, d.h. unabhängig vom Ich, weil das Ich sonst nicht wirklich begrenzt ist, ideell, abhängig vom Ich, weil das Ich sonst sich nicht selbst setzt, anschaut als begrenzt. Beide Behauptungen, die, daß die Schranke reell, und die, daß sie bloß ideell sei, sind aus dem Selbstbewußtsein zu deduzieren. Das Selbstbewußtsein sagt, daß das Ich für sich selbst begrenzt sei; damit es begrenzt sei, muß die Schranke unabhängig sein von der begrenzten Tätigkeit, damit begrenzt für sich selbst, abhängig vom Ich. Der Widerspruch dieser Behauptungen ist also nur aufzulösen durch einen Gegensatz, der im Selbstbewußtsein selbst statthat. Die Schranke ist abhängig vom Ich, heißt: es ist in ihm eine andere Tätigkeit außer der begrenzten, von welcher sie unabhängig sein muß. Es muß also außer jener ins Unendliche gehenden Tätigkeit, die wir, weil sie allein reell begrenzbar ist, die reelle nennen wollen, eine andere im Ich sein, die wir die ideelle nennen können. Die Schranke ist reell für die ins Unendliche gehende, oder – weil eben diese unendliche Tätigkeit im Selbstbewußtsein begrenzt werden soll – für die objektive Tätigkeit des Ichs, ideell also für eine entgegengesetzte, nichtobjektive, an sich unbegrenzbare Tätigkeit, welche jetzt genauer charakterisiert werden muß.

dd) Es sind außer jenen beiden Tätigkeiten, deren eine wir vorerst bloß postulieren als notwendig zur Erklärung der Begrenztheit[59] des Ichs, keine andern Faktoren des Selbstbewußtseins gegeben. Die zweite ideelle oder nichtobjektive Tätigkeit muß also von der Art sein, daß durch sie zugleich der Grund des Begrenztwerdens der objektiven und des Wissens um dieses Begrenztsein gegeben ist. Da nun die ideelle ursprünglich nur als die anschauende (subjektive) von jener gesetzt ist, um durch sie die Begrenztheit des Ichs als Ich zu erklären, so muß angeschaut– und begrenzt werden für die zweite, objektive Tätigkeit eins und dasselbe sein. Dies ist zu erklären aus dem Grundcharakter des Ich. Die zweite Tätigkeit, wenn sie Tätigkeit eines Ich sein soll, muß zugleich begrenzt werden und angeschaut werden als begrenzt, denn eben in dieser Identität des Angeschautwerdens und Seins liegt die Natur des Ich. Dadurch, daß die reelle Tätigkeit begrenzt ist, muß sie auch angeschaut, und dadurch, daß sie angeschaut wird, auch begrenzt werden, beides muß absolut Eines sein.

ee) Beide Tätigkeiten, ideelle und reelle, setzen sich wechselseitig voraus. Die reelle ursprünglich ins Unendliche strebende, aber zum Behuf des Selbstbewußtseins zu begrenzende Tätigkeit ist nichts ohne ideelle, für welche sie in ihrer Begrenztheit unendlich ist (nach dd). Hinwiederum ist die ideelle Tätigkeit nichts, ohne anzuschauende, begrenzbare, eben deswegen reelle.

Aus dieser wechselseitigen Voraussetzung beider Tätigkeiten zum Behuf des Selbstbewußtseins wird der ganze Mechanismus des Ich abzuleiten sein.

ff) So wie sich beide Tätigkeiten wechselseitig voraussetzen, so auch Idealismus und Realismus. Reflektiere ich bloß auf die ideelle Tätigkeit, so entsteht mir Idealismus, oder die Behauptung, daß die Schranke bloß durch das Ich gesetzt ist. Reflektiere ich bloß auf die reelle Tätigkeit, so entsteht mir Realismus, oder die Behauptung, daß, die Schranke unabhängig vom Ich ist. Reflektiere ich auf beide zugleich, so entsteht mir ein Drittes aus beiden, was man Ideal-Realismus nennen kann, oder was wir bisher durch den Namen transzendentaler Idealismus bezeichnet haben.

gg) In der theoretischen Philosophie wird die Idealität der[60] Schranke erklärt (oder: wie die Begrenztheit, die ursprünglich nur für das freie Handeln existiert, Begrenztheit für das Wissen werde), die praktische Philosophie hat die Realität der Schranke (oder: wie die Begrenztheit, die ursprünglich eine bloß subjektive ist, objektiv werde) zu erklären. Theoretische Philosophie also ist Idealismus, praktische Realismus, und nur beide zusammen das vollendete System des transzendentalen Idealismus.

Wie sich Idealismus und Realismus wechselseitig voraussetzen, so theoretische und praktische Philosophie, und im Ich selbst ist ursprünglich Eins und verbunden, was wir zum Behuf des jetzt aufzustellenden Systems trennen müssen.[61]

4

Nach derselben produziert zwar jede einzelne Monade die Welt aus sich selbst, aber doch existiert diese zugleich unabhängig von den Vorstellungen; allein nach Leibniz selbst besteht die Welt, insofern sie reell ist, selbst wieder nur aus: Monaden, mithin beruht alle Realität am Ende doch nur auf Vorstellkräften.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 2, Leipzig 1907, S. 51-62.
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