§ 2. Charakter des Kunstprodukts

[293] a) Das Kunstwerk reflektiert uns die Identität der bewußten und der bewußtlosen Tätigkeit. Aber der Gegensatz dieser beiden ist ein unendlicher, und er wird aufgehoben ohne alles Zutun der Freiheit. Der Grundcharakter des Kunstwerks ist also eine bewußtlose Unendlichkeit [Synthesis von Natur und Freiheit]. Der Künstler scheint in seinem Werk außer dem, was er mit offenbarer Absicht darein gelegt hat, instinktmäßig gleichsam eine Unendlichkeit dargestellt zu haben, welche ganz zu entwickeln kein endlicher Verstand fähig ist. Um uns nur durch Ein Beispiel deutlich zu machen, so ist die griechische Mythologie, von der es unleugbar ist, daß sie einen unendlichen Sinn[293] und Symbole für alle Ideen in sich schließt, unter einem Volk und auf eine Weise entstanden, welche beide eine durchgängige Absichtlichkeit in der Erfindung und in der Harmonie, mit der alles zu Einem großen Ganzen vereinigt ist, unmöglich annehmen lassen. So ist es mit jedem wahren Kunstwerk, indem jedes, als ob eine Unendlichkeit von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künstler selbst gelegen habe, oder aber bloß im Kunstwerk liege. Dagegen in dem Produkt, welches den Charakter des Kunstwerks nur heuchelt, Absicht und Regel an der Oberfläche liegen und so beschränkt und umgrenzt erscheinen, daß das Produkt nichts anderes als der getreue Abdruck der bewußten Tätigkeit des Künstlers und durchaus nur ein Objekt für die Reflexion, nicht aber für die Anschauung ist, welche im Angeschauten sich zu vertiefen liebt, und nur auf dem Unendlichen zu ruhen vermag.

b) Jede ästhetische Produktion geht aus vom Gefühl eines unendlichen Widerspruchs, also muß auch das Gefühl, was die Vollendung des Kunstprodukts begleitet, das Gefühl einer solchen Befriedigung sein, und dieses Gefühl muß auch wiederum in das Kunstwerk selbst übergehen. Der äußere Ausdruck des Kunstwerks ist also der Ausdruck der Ruhe und der stillen Größe, selbst da, wo die höchste Spannung des Schmerzes oder der Freude ausgedrückt werden soll.

c) Jede ästhetische Produktion geht aus von einer an sich unendlichen Trennung der beiden Tätigkeiten, welche in jedem freien Produzieren getrennt sind. Da nun aber diese beiden Tätigkeiten im Produkt als vereinigt dargestellt werden sollen, so wird durch dasselbe ein Unendliches endlich dargestellt. Aber das Unendliche endlich dargestellt ist Schönheit. Der Grundcharakter jedes Kunstwerks, welcher die beiden vorhergehenden in sich begreift, ist also die Schönheit, und ohne Schönheit ist kein Kunstwerk. Denn ob es gleich erhabene Kunstwerke gibt, und Schönheit und Erhabenheit in gewisser Rücksicht sich entgegengesetzt sind, indem eine Naturszene z.B. schön sein kann, ohne deshalb erhaben zu sein, und umgekehrt, so ist doch der Gegensatz zwischen Schönheit und Erhabenheit ein solcher,[294] der nur in Ansehung des Objekts, nicht aber in Ansehung des Subjekts der Anschauung stattfindet, indem der Unterschied des schönen und erhabenen Kunstwerks nur darauf beruht, daß, wo Schönheit ist, der unendliche Widerspruch im Objekt selbst aufgehoben ist, anstatt daß, wo Erhabenheit ist, der Widerspruch nicht im Objekt selbst vereinigt, sondern nur bis zu einer Höhe gesteigert ist, bei welcher er in der Anschauung unwillkürlich sich aufhebt, welches dann ebensoviel ist, als ob er im Objekt aufgehoben wäre.29 Es läßt sich auch sehr leicht zeigen, daß die Erhabenheit auf demselben Widerspruch beruht, auf welchem auch die Schönheit beruht, indem immer, wenn ein Objekt erhaben genannt wird, durch die bewußtlose Tätigkeit eine Größe aufgenommen wird, welche in die bewußte aufzunehmen unmöglich ist, wodurch denn das Ich mit sich selbst in einen Streit versetzt wird, welcher nur in einer ästhetischen Anschauung enden kann, welche beide Tätigkeiten in unerwartete Harmonie setzt, nur daß die Anschauung, welche hier nicht im Künstler, sondern im anschauenden Subjekt selbst liegt, völlig unwillkürlich ist, indem das Erhabene (ganz anders als das bloß Abenteuerliche, was der Einbildungskraft gleichfalls einen Widerspruch vorhält, welchen aber aufzulösen nicht der Mühe wert ist) alle Kräfte des Gemüts in Bewegung setzt, um den die ganze intellektuelle Existenz bedrohenden Widerspruch aufzulösen.

Nachdem nun die Charaktere des Kunstwerks abgeleitet sind, so ist zugleich auch der Unterschied desselben von allen andern Produkten ins Licht gesetzt.

Denn vom organischen Naturprodukt unterscheidet sich das Kunstprodukt hauptsächlich dadurch, [a) daß das organische Wesen noch ungetrennt darstellt, was die ästhetische Produktion nach der Trennung, aber vereinigt darstellt; b)] daß die organische Produktion nicht vom Bewußtsein, also auch nicht von dem unendlichen[295] Widerspruch ausgeht, welcher Bedingung der ästhetischen Produktion ist. Das organische Naturprodukt wird also, [wenn Schönheit durchaus Auflösung eines unendlichen Widerstreits], auch nicht notwendig schön sein, und wenn es schön ist, so wird die Schönheit, weil ihre Bedingung in der Natur nicht als existierend gedacht werden kann, als schlechthin zufällig erscheinen, woraus sich das ganz eigentümliche Interesse an der Naturschönheit, nicht insofern sie Schönheit überhaupt, sondern insofern sie bestimmt Naturschönheit ist, erklären läßt. Es erhellt daraus von selbst, was von der Nachahmung der Natur als Prinzip der Kunst zu halten sei, da, weit entfernt, daß die bloß zufällig schöne Natur der Kunst die Regel gebe, vielmehr, was die Kunst in ihrer Vollkommenheit hervorbringt, Prinzip und Norm für die Beurteilung der Naturschönheit ist.

Wodurch sich das ästhetische Produkt vom gemeinen Kunstprodukt unterscheide, ist leicht zu beurteilen, da alle ästhetische Hervorbringung in ihrem Prinzip eine absolut freie ist, indem der Künstler zu derselben zwar durch einen Widerspruch, aber nur durch einen solchen, der in dem Höchsten seiner eignen Natur liegt, getrieben werden kann, anstatt daß jede andere Hervorbringung durch einen Widerspruch veranlaßt wird, der außer dem eigentlich Produzierenden liegt, und also auch jede einen Zweck außer sich hat.30 Aus jener Unabhängigkeit von äußern Zwecken entspringt jene Heiligkeit und Reinheit der Kunst, welche so weit geht, daß sie nicht etwa nur die Verwandtschaft mit allem, was bloß Sinnenvergnügen ist, welches von der Kunst zu verlangen der eigentliche Charakter der Barbarei ist, oder mit dem Nützlichen, welches von der Kunst zu fordern nur einem Zeitalter möglich ist, das die höchsten Efforts des menschlichen Geistes in ökonomische Erfindungen setzt31, sondern selbst die Verwandtschaft mit allem, was zur Moralität gehört, ausschlägt, ja selbst die Wissenschaft, welche in Ansehung ihrer Uneigennützigkeit am nächsten an die Kunst grenzt, bloß darum, weil sie immer auf einen Zweck außer sich[296] geht, und zuletzt selbst nur als Mittel für das Höchste (die Kunst) dienen muß, weit unter sich zurückläßt.

Was insbesondere das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft betrifft, so sind sie beide in ihrer Tendenz so sehr entgegengesetzt, daß, wenn die Wissenschaft je ihre ganze Aufgabe gelöst hätte, wie sie die Kunst immer gelöst hat, beide in Eines zusammenfallen und übergehen müßten, welches der Beweis völlig entgegengesetzter Richtungen ist. Denn obgleich die Wissenschaft in ihrer höchsten Funktion mit der Kunst eine und dieselbe Aufgabe hat, so ist doch diese Aufgabe, wegen der Art sie zu lösen, für die Wissenschaft eine unendliche, so, daß man sagen kann, die Kunst sei das Vorbild der Wissenschaft, und wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst hinkommen. Es läßt sich eben daraus auch erklären, warum und inwiefern es in Wissenschaften kein Genie gibt, nicht etwa, als ob es unmöglich wäre, daß eine wissenschaftliche Aufgabe genialisch gelöst werde, sondern weil dieselbe Aufgabe, deren Auflösung durch Genie gefunden werden kann, auch mechanisch auflösbar ist, dergleichen z.B. das Newtonische Gravitationssystem ist, welches eine genialische Erfindung sein konnte, und in seinem ersten Erfinder Kepler wirklich war, aber ebensogut auch eine ganz szientifische Erfindung sein konnte, was es auch durch Newton geworden ist. Nur das, was die Kunst hervorbringt, ist allein und nur durch Genie möglich, weil in jeder Aufgabe, welche die Kunst aufgelöst hat, ein unendlicher Widerspruch vereinigt ist. Was die Wissenschaft hervorbringt, kann durch Genie hervorgebracht sein, aber es ist nicht notwendig dadurch hervorgebracht. Es ist und bleibt daher in Wissenschaften problematisch, d.h. man kann wohl immer bestimmt sagen, wo es nicht ist, aber nie, wo es ist. Es gibt nur wenige Merkmale, aus welchen in Wissenschaften sich auf Genie schließen läßt; (daß man darauf schließen muß, zeigt schon eine ganz eigne Bewandtnis der Sache). Es ist z.B. sicherlich da nicht, wo ein Ganzes, dergleichen ein System ist, teilweise, und gleichsam durch Zusammensetzung, entsteht. Man müßte also umgekehrt Genie da voraussetzen, wo offenbar die Idee des Ganzen den einzelnen Teilen vorangegangen ist. Denn da die Idee des Ganzen doch[297] nicht deutlich werden kann, als dadurch, daß sie in den einzelnen Teilen sich entwickelt, und doch hinwiederum die einzelnen Teile nur durch die Idee des Ganzen möglich sind, so scheint hier ein Widerspruch zu sein, der nur durch einen Akt des Genies, d.h. durch ein unerwartetes Zusammentreffen der bewußtlosen mit der bewußten Tätigkeit, möglich ist. Ein anderer Vermutungsgrund des Genies in Wissenschaften wäre, wenn einer Dinge sagt und Dinge behauptet, deren Sinn er, entweder der Zeit nach, in der er gelebt hat, oder seinen sonstigen Äußerungen nach, unmöglich ganz durchsehen konnte, wo er also etwas scheinbar mit Bewußtsein aussprach, was er doch nur bewußtlos aussprechen konnte. Allein daß auch diese Vermutungsgründe höchst trüglich sein können, ließe sich sehr leicht auf verschiedene Art beweisen.

Das Genie ist dadurch von allem anderen, was bloß Talent oder Geschicklichkeit ist, abgesondert, daß durch dasselbe ein Widerspruch aufgelöst wird, der absolut und sonst durch nichts anderes auflösbar ist. In allem, auch dem gemeinsten und alltäglichsten Produzieren wirkt mit der bewußten Tätigkeit eine bewußtlose zusammen; aber nur ein Produzieren, dessen Bedingung ein unendlicher Gegensatz beider Tätigkeiten war, ist ein ästhetisches und nur durch Genie mögliches.

29

Statt des letzten Passus im Handexemplar: Denn ob es gleich erhabene Kunstwerke gibt, und die Erhabenheit der Schönheit entgegengesetzt zu werden pflegt, so ist kein wahrer, objektiver Gegensatz zwischen Schönheit und Erhabenheit; das wahrhaft und absolut Schöne ist immer auch erhaben, das Erhabene (wenn dies wahrhaft) ist auch schön.

30

(absoluten Übergang ins Objektive).

31

Runkelrüben.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 2, Leipzig 1907, S. 293-298.
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