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I. (1.) Wenn ich nicht wüßte, Marcia, daß du von der Schwäche eines weibischen Gemüthes eben so weit entfernt bist, als von den übrigen Fehlern, und daß man in deinem Charakter gleichsam ein Musterbild alter Zeit erblickt: so würde ich es nicht wagen deinem Schmerze entgegen zu treten, dem selbst Männer gern nachhängen und beharrlich fröhnen, und ich würde nie die Hoffnung gefaßt haben, es bei so ungünstiger Zeit, vor einem so feindseligen Richter und bei einer so gehässigen Beschuldigung bewirken zu können, daß du dein Geschick von der Anklage frei sprächest. Vertrauen gab mir deine schon bewährte Seelenstärke und deine durch eine schwere Probe bestätige moralische Größe. (2.) Es ist offenkundig, wie du dich gegen die Personen deines Vaters benommen, den du nicht weniger, als deine Kinder, geliebt hast, nur den Umstand ausgenommen, daß du nicht wünschtest, er möchte sie überlegen, und ich weiß nicht, ob du es nicht sogar gewünscht hast. Denn große kindliche Liebe erlaubt sich wohl auch Etwas gegen die Gute Sitte. Du hast, so viel du konntest, den Tod des Aulus Cremutius Cordus, deines Vaters, zu verhindern gesucht. Als es dir klar geworden war, daß ihm mitten unter den Schergel des Sejanus nur der eine Weg offen stehe der Knechtschaft zu entfliehen, hast du seinen Vorsatz [freilich] nicht begünstigt, aber doch besiegt ihm die Hand gereicht und deine Thränen fließen lassen; öffentlich hast du zwar selbst deine Seufzer zurückgedrängt, jedoch nicht durch eine heitre Stirn verhehlt, und das in jener Zeit, wo es [schon] für große kindliche Liebe galt, nichts [geradezu] Liebloses zu thun.[5] (3.) Sobald aber die veränderten Zeiten nur einige Gelegenheit darboten, hast du den Geist deines Vaters, an welchem [eigentlich] die Todesstrafe vollzogen worden war, vor die Augen der Menschen zurückgeführt und ihn selbst vom wahren Tode gerettet, indem du die Bücher, die jener so muthige Mann mit seinem Blute geschrieben hatte, als ein geschichtliches Denkmal des Staates wieder in's Leben gerufen hast. Du hast dich [dadurch] um die römische Literatur auf's Höchste verdient gemacht, [denn] ein großer Theil derselben hatte [schon] gebrannt; auf's Höchste um die Nachwelt, auf welche eine unverfälschte und treue Darstellung der Geschichte kommen wird, die ihrem Verfasser so hoch angerechnet worden ist, auf's Höchste um ihn selbst, dessen Andenken lebt und leben wird, so lange es noch einen Werth haben wird, die römische Geschichte kennen zu lernen, so lange es noch Jemand geben wird, der zu den Thaten der Vorfahren zurückzukehren, der zu wissen wünscht, was ein römischer Mann sei, was, nachdem die Nacken Aller gebeugt und unter das Sejanische Joch geschmiegt waren, ein unbezwungener Mann, frei im Denken, im Wollen und im Handeln. (4.) Wahrlich, einen großen Verlust hätte der Staat erlitten, wenn du ihn, der zweier so herrlichen Dinge, der Beredtsamkeit und des Freimuths, wegen in die Vergessenheit verstoßen war, nicht herausgezogen hättest. [Jetzt] wird er gelesen, steht in Ansehen; in die Hände, in die Herzen der Menschen aufgekommen, fürchtet er nicht jemals zu veralten. Was dagegen jene Henker betrifft, so wird man selbst von ihren Verbrechen, dem Einzigen, wodurch sie im Andenken zu bleiben verdienten, sehr bald nicht mehr sprechen. Diese Größe deines Geistes verbot mir auf dein Geschlecht Rücksicht zu nehmen und ebenso auf deinen Gesichtsausdruck, den die ununterbrochene Traurigkeit so vieler Jahre, nachdem sie ihn einmal getrübt hat, [in dieser Beschaffenheit] festhält.[6] (5.) Auch siehe, wie ich mich nicht etwa bei dir einschmeicheln will, noch deiner Gemüthsstimmung einen Betrug zu spielen gedenke. Ein Unglück früherer Zeit habe ich dir in's Gedächtniß zurückgerufen, und willst du wissen, wie auch dieser Schlag geheilt werden soll? Ich zeigte dir die Narbe einer gleich großen Wunde. Mögen daher Andere immerhin gelind und einschmeicheln verfahren; ich habe beschlossen mit deiner Traurigkeit einen Kampf zu beginnen, und ich will den ermüdeten und erschöpften Augen, die, wenn du die Wahrheit hören willst, schon mehr Gewohnheit, als aus Sehnsucht [die Thränen] fließen lassen, Einhalt thun, wo möglich so, daß du von selbst den bei dir angewendeten Heilmitteln dich befreundest, wo nicht, selbst gegen deinen Willen. Halte immerhin deinen Schmerz fest umschlugen, der dir an deines Sohnes Stelle fortleben soll. (6.) Denn wann wird er ein Ende nehmen? Alles ist vergebens versucht worden; ermüdet ist der Zuspruch der Freunde, der Rath großer und dir verwandter Männer; die Studien, ein vom Vater angeerbtes Gut, gehen mit vergeblichem und kaum für die kurze Zeit der Beschäftigung mit ihnen wirkendem Troste an tauben Ohren vorüber. Selbst jenes natürliche Heilmittel der Zeit, das selbst den größten Kummer zu beschwichtigen pflegt, hat an dir allein seine Kraft verloren. (7.) Schon ist das dritte Jahr verstrichen, ohne daß inzwischen von jenem ersten Anfall Etwas nachgelassen hat; er erneuert sich und stärkt täglich die Trauer, er hat sich durch die Länge der Zeit bereits ein Recht erworben und ist schon weit gediehen, daß er es für schimpflich hält, dich zu verlassen. Wie alle Fehler sich tief im Innern festsetzen, wenn sie nicht im Entstehen unterdrückt worden sind, so nährt sich auch diese Traurigkeit, dieses Elend, dieses Wüthen gegen sich selbst zuletzt durch seine Bitterkeit selbst, und der Schmerz wird für das unglückselige Gemüth eine verkehrte Lust. (8.) Deshalb hätte ich gewünscht gleich in der ersten Zeit zu dieser Heilung schreiten zu können; mit leichteren Mitteln hätte die noch[7] im Entstehen begriffene Gewalt beschränkt werden können, mit Anwendung größerer Kraft muß gegen ein veraltetes Uebel kämpfen. Denn auch die Heilung von Wunden ist leicht, wenn sie noch frisch vom Blute sind; da lassen sie sowohl sich brennen, als die Sonde tief eindringen, und nehmen die Finger der Untersuchenden auf; sind sie aber vernachlässigt zu einem bösartigen Geschwüre geworden, so werden sie schwerer geheilt. Jetzt kann ich einem so unbeugsamen Schmerze nicht mehr mit Nachgiebigkeit und Gelindigkeit beikommen; er muß gebrochen werden.
II. (1.) Ich weiß, daß Alle, die Einen ermahnen wollen, mit Lehren anfangen und mit Beispielen aufhören. Bisweilen [aber] ist es gerathen, diese Sitte zu ändern; denn mit dem Einen muß man anders verfahren, als mit dem Andern. Manche lassen sich durch Vernunftgründe leiten; Manchen muß man berühmte Namen entgegenhalten und ein Ansehen, das den Geist des durch blendende Erscheinungen Betroffenem nicht sich selbst überläßt. (2.) Zwei der größten Muster sowohl deines Geschlechts als deiner Zeit will ich dir vor Augen stellen, das eine einer Frau, die sich dem Zuge ihres Schmerzes hingab, das andere einer solchen, die, von gleichem Unfall und noch größerem Schaden betroffen, dennoch dem Unglück keine lange Herrschaft über sich gestattete, sondern ihr Gemüth schnell in seine [ruhige] Lage zurückversetzte. Octavia und Livia, jene die Schwester, diese die Gemahlin des Augustus verloren beide im Jünglingsalter stehende Söhne, beide in der sichern Hoffnung, daß sie einst Herrscher sein würden. (3.) Octavia den Marcellus, auf dessen Schultern sich der Oheim und Schwiegervater zu stützen, dem er die Last der Regierung aufzulegen begonnen hatte, einen Jünglinn feurigen Geistes und gewaltigen Talentes,[8] aber von einer bei solchem Alter und bei solchen Mitteln nicht wenig zu bewundernden Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung, Anstrengungen gewachsen, den Wollüsten abhold und bereit, Alles zu tragen, was der Oheim ihm auflegen und, mich so auszudrücken, auf ihn bauen wollte. Er hatte sehr gut einen Grund gewählt, der keiner Last nachgeben würde. (4.) Die ganze Zeit ihres Lebens hindurch machte sie ihren Thränen, ihren Seufzern kein Ende, und lieh keinen Worten ihr Ohr, die etwas Heilendes brachten. Nicht einmal davon abrufen ließ sie sich; [nur] auf den einen Gegenstand achtend und mit ganzer Seele daran gefesselt, blieb sie ihr ganzes Leben lang so, wie sie beim Begräbniß gewesen war, und geschweige, daß sie gewagt hätte, sich zu erheben, verschmähte sie es auch, sich aufrichten zu lassen, und hielt es für ein zweites Verwaistsein, sich der Thränen zu enthalten. Kein Bild des theuern Sohnes wollte sie besitzen, nie desselben Erwähnung gethan hören. (5.) Sie haßte alle Mütter und war besonders auf Livia wüthend, weil das ihr verheißene Glück auf deren Sohn übergegangen zu sein schien. Mit der Dunkelheit und Einsamkeit vertraut und selbst ihrem Bruder keinen Blick schenkend, verschmähte sie die zur Feier von Marcellus Andenken verfaßten Gedichte und andre Ehrenbezeigungen der Zuneigungen und verschloß ihre Ohren jedem Troste. Sich zurückziehend von den herkömmlichen Beileidsbezeugungen, und selbst das die Größe ihres Bruders allzusehr umglänzende Glück hassend, vergrub und verbarg sie sich. Während Kinder und Enkel bei ihr saßen, legte sie doch das Trauerkleid nie ab, nicht ohne Beleidigung für alle die Ihrigen, bei deren blühendem Leben sie sich doch verwaist vorkam.
III. (1.) Livia hatte ihren Sohn Drusus verloren, der ein großer Fürst geworden sein würde und bereits ein großer Feldherr war. Er war tief in Germanien eingedrungen, und die Römer hatten [unter ihm] ihre Fahnen da aufgepflanzt, wo es kaum bekannt war, daß es irgend welche Römer gebe. Auf[9] dem Feldzuge war er als Sieger gestorben, indem die Feinde selbst ihm in seiner Krankheit Verehrung und gegenseitige Friedfertigkeit bewiesen und nicht zu wünschen wagten, was ihnen [doch] frommte. Es begleitete seinen Tod, den er für den Staat erlitten hatte, das größte Bedauern der Bürgen, der Provinzen und ganz Italiens, durch welches, da alle Municipien und Colonien zu dem Trauerdienste herbeiströmten, seine Leiche fast wie in einem Triumphzuge bis in die Stadt geführt wurde. (2.) Der Mutter war es nicht vergönnt gewesen, die letzten Küsse des Sohnes und die lieben Worte des sterbenden Mundes aufzufangen. Eine weite Strecke hatte sie die irdischen Ueberreste ihres Sohnes begleitet, aber, obgleich durch so viele in ganz Italien brennende Scheiterhaufen so aufgeregt, als müßte sie ihn eben so oft verlieren, begrub sie doch, sobald sie ihn in den Grabhügel versenkte, mit ihm zugleich auch ihren Schmerz und trauerte nicht mehr, als es anständig war beim [Tode] eines kaiserlichen Prinzen oder gebührend [gewesen wäre] beim [Tode] irgend eines Andern. Ferner hörte sie nicht auf, den Namen ihres Drusus zu feiern, sich ihn überall zu Hause und öffentlich zu vergegenwärtigen, sehr gern von ihm zu sprechen und von ihm sprechen zu hören, da kaum irgend ein Mensch das Andenken an einen Andern bewahren und öfters erneuern kann, der es sich zu einem traurigen gemacht hat. – (3.) Wähle also, welches von[10] diesen beiden Beispielen du für lobenswerther halten willst: willst du dem ersteren folgen, so schließest du dich aus der Zahl der Lebenden aus; du wirst sowohl gegen andere Kinder, als gegen deine eigenen Abneigung fühlen und dich [blos] nach ihm sehend [allen] Müttern als eine [Erscheinung von] traurigen Vorbedeutung entgegen treten. Ehrbare und erlaubte Freunden wirst du, als nicht anständig genug für dein Geschick, zurückweisen, von einem dir verhaßten Leben wirst du festgehalten werden, erbittert gegen dein Alter, daß es dich nicht jählings vernichte und ein Ende machte, und was sehr schimpflich und deiner von einer bessern Seite bekannten Gesinnung ganz widersprechend ist, du wirst zeigen, daß du nicht leben magst und doch nicht sterben kannst. (4.) Hältst du dich [dagegen] an das letztere [viel] gemäßigtere und mildere Beispiel jener so großen Frau, so wirst du ohne Trübsal sein und dich nicht in Qualen abhärmen. Denn welch' ein Unsinn ist es, sich selbst für sein Unglücklich zu strafen und seine Leiden zu vermehren! Du wirst die Tüchtigkeit und Ehrbarkeit des Charakters, die du in deinem ganzen Leben behauptet hast, auch in diesem Falle bewähren. Selbst bei der Trauer über jenen Jüngling gibt es ein gewisses Maß; indem du immer von ihm redest, immer an ihn denkst, wird er dir die würdigste Ruhe verschaffen. Du wirst ihm eine höhere Stelle anweisen, wenn er seiner Mutter so, wie er es im Leben pflegte, heiter und mit Freude entgegen tritt.[11]
IV. Und ich will dich nicht zu härteren Vorschriften hinführen, daß ich dich Menschliches auf übermenschliche Weise ertragen, daß ich am Begräbnißtage die Augen der Mutter trocken bleiben hieße; ich will dir selbst die Entscheidung überlassen: das sei die Frage unter uns, ob der Schmerz groß oder unaufhörlich sein soll. Ich zweifle nicht, daß dir das Beispiel der Julia Augusta, die du als vertraute Freundin verehrt hast, besser gefallen wird. (2.) Diese lieh in der ersten Aufwallung, wo alle Trübsal am unerträglichsten und heftigsten ist, dem Areus, dem Philosophen ihres Gatten, ihr Ohr und gestand, daß ihr dies sehr geholfen habe, mehr als das römische Volk, das sie durch ihre Traurigkeit nicht verstimmen wollte, mehr als Augustus, der, nachdem ihm diese eine Stütze entzogen war, wankte und nicht durch die Trauer der Seinen noch mehr gebeugt werden durfte, mehr als ihr Sohn Tiberius, dessen kindliche Liebe bewirkte, daß sie bei jenem bittern und von den Völkern beweinte Todesfalle nur das eine empfand, daß die Zahl [ihrer Söhne] nicht mehr voll sei. Dies war, wie ich glaube, der Eingang, dies der Anfang seiner Rede an jene Frau, welche die sorgfältige Hütterin der guten Meinung war, in der sie stand: (3.) »Bis auf diesen Tag, Julia, hast du dir (wenigstens so viel ich, der beständige Begleiter deines Gemahls, weiß dem nicht blos bekannt ist, was vor's Publikum gebracht wird, sondern auch alle geheimeren Regungen eurer Herzen) stets Mühe gegeben, daß sich Nichts an dir fände, was Jemand tadeln könnte.[12] Und dies hast du nicht nur bei wichtigeren Dingen beobachtet, sondern auch bei den geringfügigsten, daß du nie Etwas thatest, wovon du hättest wünschend daß der Ruf, der wortreichste Beurtheiler der Großen, es dir verzeihe. Und ich glaube, daß es nichts Schöneres gebe, als daß die auf die höchste Höhe [des Lebens] Gestellten vielen Dingen Verzeihung schenken, für keines sie begehren. Daher mußt du auch in diesem Falle deine Sitte beibehalten und dir Nichts erlauben, wovon du wünschen müßtest, daß es gar nichts oder anders geschehen wäre.«
V. (1.) »Sodann bitte und beschwöre ich dich, daß du dich gegen die Freunde nicht unzugänglich und ungefügig zeigest. Denn es kann dir nicht entgehen, daß diese alle nicht wissen, wie sie sich benehmen sollen, ob sie in deiner Gegenwart Etwas vom Drusus sprechen sollen, oder Nichts, damit nicht das Vergessen des herrlichen Jünglings eine Unbill gegen ihn, seine Erwähnung [aber] gegen dich sei. Wenn wir uns zurückgezogen haben und beisammen sind, feiern wir seine Thaten und seine Worte mit der Bewunderung, die er verdient, in deiner Gegenwart beobachten wir ein tiefes Stillschweigen über ihn. (2.) So entbehrst du denn das Größte Vergnügen, das Lob deines Sohnes, das du doch ohne Zweifel selbst mit Aufopferung deines Lebens, wenn es dir möglich wäre, auf alle Zeiten verlängern möchtest. Daher verstatte, ja veranlasse solche Gespräche, in welchen von ihm erzählt wird, und leihe dem Namen und dem Gedächtnisse deines Sohnes offne Ohren, und halte dies nicht für schwer nach der Sitte derer, die bei einem solchen Unfalle es für einen Theil des Unglücks halten, Trostworte zu hören. Jetzt hast du dich ganz auf die eine Seite gelegt, und dein besseres Loos vergessend, schaust du es nur von der Seite an, wo es schlimmer aussieht. (3.) Du denkst nicht an den [früheren] Umgang mit deinem Sohne und an sein erfreuliches Begegnen, nicht an seine kindlichen und süßen Schmeichelworte, nicht an seine Fortschritte in Kenntnissen, du hältst nur jene letzte Gestaltung der Dinge fest; auf sie häufst du, als wäre sie nicht schon an[13] sich schrecklich genug, Alles, was du nur kannst. Trachte doch nicht, ich beschwöre dich, nach dem ganz verkehrten Ruhme, für die Unglücklichste gehalten zu werden. Zugleich bedenke, daß es nichts Großes sei, sich in günstigen Verhältnissen stark zu zeigen, wenn das Leben in glücklicher Fahrt verläuft; auch die Kunst des Steuermannes zeigt sich nicht bei ruhiger See und günstigem Winde; etwas Widerwärtiges muß eintreten, das den Muth bewähre. Daher laß dich nicht werfen, nein im Gegentheil stelle dich festen Fußes hin, und welche Last auch von oben über dich herfällt, trage sie, nur durch ersten Lärm erschreckt. Durch Nichts wird der Unwille des Geschickes größer als durch Gleichmuth.« Hierauf verweist er sie auf den noch lebenden Sohn und die vom Verlorenen gezeugten Enkel.
VI. Deine Sache, Marcia, ist damals verhandelt worden, an deiner Seite hat Areus gesessen; verändre die Person, und er hat dich getröstet. Doch glaube [immer], es sei dir mehr entrissen worden, als je eine Mutter verloren hat, (ich schone dich nicht, ich verkleinere deinen Unfall nicht): wenn das Geschick durch Thränen besiegt wird, so laß sie uns vereinigten, der ganze Tag gehe unter Trauerklagen dahin, auch die ohne Schlaf verrinnende Nacht möge die Trauer ausfüllen; laß uns Hand anlegen an die zerkratzte Brust, selbst gegen das Antlitz geschehe ein Abgriff und in jeder Art der Grausamkeit versuche sich die Traurigkeit, wenn sie nur Etwas [dadurch] erreicht. (2.) Wenn aber die Gestorbenen durch kein Zerschlagen der Brust zurückgerufen werden, wenn das unbewegliche und in Ewigkeit feststehende Geschick durch kein Jammern geändert wird und der Tod Alles, was er dahingerafft hat, [zurückzugeben] verweigert, so höre der Schmerz auf, der [ja doch] verloren ist. Daher wollen wir uns beherrschen lassen, und jene Gewalt soll uns nicht querfeldein mit sich fortreißen. Das ist ein schmählicher Lenker eines Schiffes, dem die Fluthen das Steuer entreißen, der die flatternden[14] Segel verläßt und das Fahrzeug dem Wind und Wetter preisgibt; der aber ist selbst beim Schiffbruch zu preisen, den das Meer begräbt, während er das Steuerruder festhält und sich gegen [die Wogen] stemmt.
VII. »Aber die Sehnsucht nach den Seinigen ist doch etwas [ganz] Natürliches,« Wer leugnet es, so lange eine mäßige ist? denn [schon] ein Weggang, nicht blos der Verlust der uns Theuersten thut nothwendig weh und preßt auch die festesten Herzen zusammen. Allein was die Einbildung hinzufügt, ist mehr, als was die Natur geboten hat. Siehe, wie heftig bei den unvernünftigen Thieren die Sehnsucht nach ihren Verlornen ist, und dennoch wie kurz. Man hört das Gebrüll der Kühne einen und noch einen zweiten Tag lang, und nicht länger dauert auch das unstäte und unsinnige Hin- und Herlaufen der Stuten. Das Wild, wenn es die Spur der Jungen verfolgt und die Wälder durchirrt hat, wenn es mehrmals zu der ausgeraubten Lagerstätte zurückgekehrt ist, stillet dennoch seine Wuth in kurzer Zeit. (2.) Die Vögel umrauschen ihre ausgeleerten Nester mit gewaltigen Gezwitscher; jedoch in einem Augenblick beruhigt, beginnen sie wieder ihre gewöhnlichen Ausflüge. Bei keinem lebendem Geschöpfe nach den verlornen Jungen von langer Dauer, als bei dem Menschen, der seinem Schmerze nachhängt und nicht blos in dem Maße davon ergriffen wird, als er ihn [wirklich] fühlt, sondern als er ihn zu fühlen sich vorgenommen hat. Um dich aber zu überzeugen, daß es nicht naturgemäß sei, sich durch Trauer niederschlagen zu lassen, [so beachte, daß] derselbe Verlust mehr die Frauen, als die Männer, mehr Barbaren, als Leute einer gelassenen und gebildeten Nation, Ungebildete mehr, als Gebildete verwundet. Und so behauptet denn das, was seine Kraft von der Natur empfangen hat, dieselbe auch in allen Fällen. (3.) Es ist offenbar, daß nicht naturgemäß ist, was sich öfters ändert. Das Feuer wird jedes Lebensalter, Bürger jeder Stadt, sowohl Männer als Weiber, [gleichmäßig] brennen; das Eisen wird an jedem Körper seine[15] Kraft zu zerschneiden bewähren; weshalb? weil ihm seine Kräfte von der Natur verliehen sind, die keine Rücksicht auf Personen nimmt. Armuth [aber], Trauerfälle, Ehrgeiz empfindet der Eine so, der Andere anders, je nachdem die Gewohnheit ihn damit vertraut gemacht hat, und das schreckende Vorurtheil in Bezug auf Dinge, die nicht zu fürchten sind, macht ihn schwach und unfähig zum Ertragen.
VIII. (1.) Sodann nimmt, was natürlich ist, durch die Dauer nicht ab; den Schmerz [aber] verzehrt die lange Zeit. Mag er noch so hartnäckig sein, sich täglich [neu] erheben und gegen die Heilmittel aufbrausen, dennoch entnervt ihn die Zeit, das wirksamste Mittel den Trotz zu bändigen. Zwar hält bei dir, o Marcia, auch jetzt noch die heftige Trauer an und scheint [gleichsam] schon eine harte Haut bekommen zu haben, zwar nicht so aufgeregt, wie sie bei Jener war, aber [doch] hartnäckig und eigensinnig; und dennoch wird auch sie die Zeit nach und nach dir abnehmen. (2.) So oft du etwas Anderes thust, wird sich dein Gemüth erholen: jetzt hast du nur dich selbst im Auge; es ist aber ein großer Unterschied, ob du dir zu trauen erlaubst oder gebietest. Um wie viel mehr aber geziemt es der Schönheit deines Charakters, der Trauer lieber ein Ende zu machen, als es abzuwarten, und nicht auf den Tag zu harren, wo der Schmerz wider deinen Willen aufhört? Entsage ihm selbst.
IX. (1.) »Woher also rührt bei uns die große Hartnäckigkeit in dem Beklagen unsres Zustandes, wenn es nicht auf Geheiß der Natur geschieht?« [Daher], weil wir uns kein Uebel vorstellen, ehe es eintritt, sondern, als ob wir selbst sicher und ruhiger, als Andre, unsre Straße gingen, durch fremde Unfälle und nicht daran erinnern lassen, daß sie allgemeine sind.[16] So viele Leichenzüge gehen an unserm Hause vorüber, und wir denken [doch] nicht an den Tod; es [ereignen sich] so viele herbe Todesfälle, und wir beschäftigen uns in Gedanken mit der Toga unsrer Kinder, mit ihrem Kriegsdienste und mit ihrem Antritt der väterlichen Erbschaft; so vieler Reichen plötzliche Verarmung fällt uns in die Augen, und [doch] kommt es uns nie in den Sinn, daß auch unser Vermögen auf eben so schlüpfrigem Boden steht. (2.) Nothwendig müssen wir daher um so mehr zusammenstürzen, wenn wir gleichsam unvermuthet einen Schlag bekommen. Was man lange vorher [in Gedanken] durchlaufen hat, überfällt Einen nicht so plötzlich. Willst du dich überzeugen, daß du allen Schlägen [des Schicksals] ausgesetzt dastehst, und daß die Geschosse, welche Andere getroffen haben, auch dich umrauscht haben? Als ob du dich unbewaffnet einer Mauer oder einem von vielen Feinen besetzten und schwer zu ersteigenden Orte nähertest, erwarte eine Wunde und denke dir [alle] jene mit Pfeilen und Wurfspießen zugleich von oben herabfliegenden Steine als gegen deinen Körper geschleudert. So oft sie dir zur Seite oder hinter deinem Rücken niederfallen, so rufe aus: »Du täuschest mich nicht, Schicksal, und wirst mich nicht als sorglos unachtsam überraschen; ich weiß, was du im Schilde führst; einem Andern zwar hast du getroffen, aber auf mich es abgesehen.« (3.) Wer hat je seine Habe angeblickt, als ob er sterben werde? wer von Euch hat je an Verbannung, an Armuth, an Todesfälle zu denken gewagt? wer, der daran erinnert wird, weist es nicht wie eine gräßliche Vorbedeutung[17] von sich ab und heißt es auf das Haupt seiner Feinde oder des lässigen Mahners selbst übergeben? »Ich habe nicht geglaubt, daß es geschehen werde.« Wie? du glaubst nicht, daß es geschehen werde, da du doch weißt, daß es bei Vielen geschehen kann, und siehst, daß es schon Vielen begegnet ist? [höre] einen herrlichen und eines Verfassers wie Publius würdigen Vers:
Was Einem kann begegnen, kann's auch Jedermann.
Jener hat Kinder verloren; auch du kannst sie verlieren. Jener ist verurtheilt worden; auch deiner Unschuld droht ein Schlag. Der Schrecken täuscht uns, er verweichlicht uns, wenn wir Etwas erleiden, wovon wir nie ahnten, daß wir es erleiden könnten. Wer [aber] in die Zukunft hinausschaut, der entzieht dem Uebel, wenn es da ist, seine Kraft.
X. Was es auch sein mag, o Marcia, was um uns her als von Außen uns zugefallen glänzt, Kinder, Ehrenstellen, Reichthümer, geräumige Vorsäle und von der Schaar nicht eingelassener Clienten wimmelnde Vorhöfe, eine berühmte, vornehme oder schöne Gattin und das Uebrige, was vom unsichern und veränderlichen Glück abhängt, alles das ist fremder und uns [nur] geliehener Prunk. Nichts davon wird uns als Geschenk gegeben; [nur wie] mit zusammengeliehenem und zu seinem Eigenthümer wiederzurückkehrendem Geräth wird die Bühne [des Lebens] geschmückt. (2.) Das Eine davon wird am ersten, das Andere am zweiten Tage wieder fortgetragen werden, [nur] Weniges wird und bis zu Ende verbleiben. Daher haben keine Ursache uns zu brüsten, als säßen wir in unserm Eigenthum; wir haben es [blos] geliehen bekommen. Die Nutznießung ist unser; auf[18] wie lange Zeit, bestimmt der, welcher Herr über sein Geschenk ist; wir müssen bereit haltet, was uns auf einen unbestimmten Termin gegeben ward und es, aufgefordert, ohne Klage zurückgeben. Es verräth den schlechtesten Schuldner, seinen Gläubigern Grobheiten zu sagen. Daher müssen wir alle die Unsrigen, sowohl die, von welchen wir nach dem Gesetz der Geburt wünschen, daß sie uns überleben mögen, als auch die, deren gerechtester Wunsch es ist, uns voranzugehen, so lieben, als sei uns über ihren beständigen, ja selbst über ihren langen Besitz Nichts zugesagt. (3.) Immer müssen wir unser Herz daran erinnern, daß es [jene Dinge] liebe, wie solche, die wieder entweichen wer den, ja die schon bereits entweichen. Alles, was das Glück dir gegeben hat, besitze, wie Etwas, das keinen berechtigten Eigenthümer hat. Erhaschet die Genüsse des Kinderbesitzes, gebet euch dagegen euern Kindern zu genießen hin, und schöpfet ohne Aufschub jede Freude. [Selbst] für die heutige Nacht wird euch keine Bürgschaft gegeben; ich habe schon eine zu lange Frist gesetzt, keine für die jetzige Stunde. Es gibt zu eilen; schon steht [der Tod] im Rücken, gleich wird dieses Gefolge sich zerstreuen, gleich wird sich [das Band] dieser Genossenschaft auf den sich erhebenden Ruf [zum Aufbruch] lösen. (4.) Alle Dinge sind durch Raub erworben, [und] ihr Unglücklichen versteht nicht auf der Flucht zu leben? Wenn es dich schmerzt, daß dir der Sohn gestorben ist, so ist dieß ein Vorwurf gegen die Zeit, wo er geboren wurde; denn der Tod wurde ihm [schon] bei der Geburt angekündigt. Auf diese Bedingung hin wurde er dir gegeben; dieß Geschick verfolgte ihn gleich von Mutterliebe an. Unter die Herrschaft des Schicksals, und zwar eine harte und unwiderstehliche, sind wir gekommen, um nach seiner Willkür Verdientes und Unverdientes zu erdulden. Unserm Körper wird es auf zügellose, schmähliche und grausame Weise mitspielen; die Einen wird es mit Feuer brennen, sei es zur[19] Strafe, sei es Heilung angewendet, Andere wird es in Fesseln schlagen, und dieß bald einem Feinde, bald einem Mitbürger gestatten; Andere wird es nackt auf unsichern Meeren herumwerfen und, nachdem, nachdem sie mit den Fluthen gerungen, nicht einmal auf eine Sandbank oder das Ufer auswerfen, sondern in dem Bauche eines riesigen Seethieres begraben. Andere wird es, von Krankheiten verschiedener Art abgezehrt, lange mitten zwischen Leben und Tod schweben lassen. (3.) Wie eine veränderliche und eigensinnige Herrin, die ihre Sklaven vernachlässigt, wird es in Strafen und Belohnungen irren. Was braucht man einzelne Theile zu beweinen? Das ganze Leben ist beweinenswerth. Neue Widerwärtigkeiten werden dich quälen, ehe du den alten Genüge gethan. Daher ist Maß zu halten, besonders von euch Frauen, die ihr [Leiden] ertraget, ohne euch zu mäßigen, und das menschliche Herz zwischen Furcht und Schmerzen zu theilen.
XI. (1.) Wie kann man doch seine eigenen und die allgemeinen Verhältnisse so vergessen? Sterblich bist du geboren, Sterbliche hast du zur Welt gebracht; du, ein morscher und hinfälliger Leib, und wiederholt von Krankheiten heimgesucht, glaubst in einem so schwächlichen Stoffe etwas Festes und Ewiges zu tragen? Dein Sohn ist gestorben, d.h. er ist an das Ziel gelangt, dem Alle zueilen, die du für glücklicher hältst, als deine Leibesfrucht. Dahin wandert, [nur] ungleichen Schrittes, jener ganze Haufe, der auf dem Marktplatz in Prozessen streiten, in den Theatern sitzt, in den Tempeln betet. (2.) Sowohl was du liebst, als was du verachtest, wird, zu Asche geworden, einander gleich werden. Darauf zielt jene Aufschrift des Pythischen Orakels: »Lerne dich kennen.« Was ist der Mensch? ein herumgeschütteltes, von jedem Stoß zerbrechliches Gefäß; keines heftigen Sturms bedarf es und du zerschellest. Wo du irgend anstößest, da fällst du auseinander. Was ist der Mensch? ein schwacher, zerbrechlicher Körper, nackt, seiner Natur[20] nach wehrlos, fremder Hülfe bedürftig, jeder Mißhandlung des Schicksals preisgegeben, und, hat er auch seine Arme [noch so] gut geübt, [dennoch] das Opfer jeder Bestie, aus schwachem und lockerem Stoffe zusammengewebt, und [nur] den äußern Umrissen nach schön anzuschauen, [aber] Kälte, Hitze, Anstrengung zu ertragen unfähig, [schon] durch das ruhige Daliegen und Nichtsthun selbst der Verwesung entgegengehend, seine eigenen Nahrungsmittel fürchtend, da er bald durch ihren Ueberfluß, bald durch ihren Mangel zu Grunde geht, ein Gegenstand ängstlicher und besorgter Hut, mit erbetteltem und leicht stockendem Athem, den ihm ein den Ohren unerträglichen Ton, wenn er ihn etwas plötzlich und unvermuthet hört, benimmt, für sich allein nur stets ein schädliches und nutzloses Nahrungsmittel. (3.) Und da wundern wir uns über den Tod eines Einzigen, den doch Jeder erleiden muß? Ist es denn etwa eine Sache großer Anstrengung, daß er zusammenfalle? [Schon] Geruch und Geschmack und Ermüdung und Nachtwachen und Trank und Speise und [Alles], ohne was er nicht leben kann, ist tödtlich für ihn. Wohin er sich bewegt, wird er sich sogleich seiner Schwachheit bewußt, da er nicht jedes Klima zu ertragen fähig ist, durch ihm neues Wasser, durch das Wehen eines Luftzugs, an den er nicht gewöhnt ist, durch die geringfügigsten Ursachen und Anstöße kränkelnd, morsch, gebrechlich, mit Weinen in's Leben eingetreten – und doch welchen Lärm erregt dabei dieß so verachtete Geschöpf? auf welche Gedanken geräth es, seiner Natur vergessend? Unsterbliches, Ewiges bewegt er in seinem Geiste und trifft Anordnungen für Enkel und Urenkel, während ihn, indem er so weitgreifende Pläne entwirft, der Tod überrascht; und was man Greisenalter nennt, ist der Kreislauf weniger Jahre.
XII. (1.) Berücksichtigt dein Schmerz, o Marcia, wenn er[21] überhaupt einen überlegten Grund hat, das eigene Ungemach, oder das des Dahingeschiedenen? Regt er sich bei dem Verlust deines Sohnes darum, weil du von ihm keinen Genuß gehabt hast, oder weil du einen größeren hättest haben können, wenn er länger gelebt hätte? Sagt du, du habest keinen gehabt, so machst du dadurch deinen Verlust erträglicher, denn die Menschen sehnen sich weniger nach dem, wovon sie keine Freude, keine Wonne genossen haben. Gestehst du aber, du habest große Freunden [durch ihn] genossen, so darfst du nicht darüber klagen, was dir entzogen worden ist, sondern danken, was du geerntet hast. (2.) Denn ein großer Lohn für deine Bemühungen ist dir aus der Erziehung selbst erwachsen: es müßte denn sein, daß [bloß] die, welche junge Hunde und Vögel und [andere] fade Ergötzlichkeiten mit größter Sorgfalt pflegen, durch das Anschauen, das Betasten und die schmeichelnden Liebkosungen unvernünftiger Geschöpfe ein gewisses Vergnügen genössen, für die aber, die Kinder aufziehen, nicht schon die Erziehung selbst ein Lohn der Erziehung wäre. Möchte dir daher auch seine Thätigkeit Nichts eingetragen, seine Sorgfalt Nichts bewahrt, seine Klugheit Nichts gerathen haben: [schon] daß du ihn hattest, daß du ihn liebtest, ist ein Genuß, »Aber [sagst du,] er hätte länger und größer sei können.« (3.) Dein Loos war dennoch besser, als wenn er dir gar nichts zu Theil geworden wäre, weil, wenn Einem die Wahl gelassen wird, ob es besser sei, nicht lange glücklich zu sein, oder [überhaupt] niemals, es doch besser ist, daß Einem ein einst wieder entschwindendes Glück zu Theil wird, als gar keins. Möchtest du wohl lieber einen ungerathenen Sohn gehabt haben, der nur die Zahl und den Namen eines Sohnes ausgefüllt hätte, als einen von solchem Charakter, wie der deinige war? Ein Jüngling, früh verständig, früh liebevoll, früh Gatte, früh Vater, früh jeder Pflicht beflissen, früh Priester, Alles gleichsam jählings. (4.)[22] Fast Keinem werden große und [zugleich] lang dauernde Güter zu Theil; nur ein allmähliges Glück hat Dauer und bleibt bis an's Ende. Weil dir die Götter deinen Sohn nicht auf lange Zeit geben wollten, so gaben sie dir ihn gleich so, wie man [nur] in langer Zeit werden kann. Auch das nicht einmal kannst du sagen, du seiest von den Göttern dazu auserlesen gewesen, deinen Sohn nicht genießen zu können. Laß deine Blicke durch den ganzen zahlreichen Kreis von Bekannten und Unbekannten schweifen: überall werden die Leute begegnen, die noch Größeres erduldet haben. Das haben große Feldherrn, das haben Fürsten erfahren; selbst die Götter hat die Sage nicht verschont gelassen, ich glaube, damit es bei unsern Todesfälle ein Linderungsmittel sein sollte, daß auch das Göttliche zusammenstürze. (5.) Blicke umher auf Alle, sage ich, du wirst mir kein unglückliches Haus nennen können, das nicht in einem noch unglücklicheren seinen Trost fände. Wahrhaftig, ich denke von deinem Charakter nicht so schlecht, daß ich glaubte, du könntest deinen Unfall leichter ertragen, wenn ich dir die gewaltige Zahl von Trauernden vorführte: die große Menge der Ünglücklichen ist eine Art von schadenfrohem Trost; Einige aber will ich dennoch anführen, nicht damit du einsehest, daß dieß den Menschen zu treffen pflege – denn es ist lächerlich, Beispiele der Sterblichkeit zusammen zu suchen – sondern damit du dich überzeugest, es habe Viele gegeben, die ein hartes Schicksal durch [geduldiges] Ertragen milder machten. Bei dem Glücklichsten will ich beginnen. (6.) Lucius Sulla verlor einen Sohn; und dieser Umstand hat weder seinem Kriegsdienste und seiner so hitzigen Tapferkeit gegen Feinde und Mitbürger Abbruch gethan, noch bewirkt, daß man geglaubt hätte, er habe sich jenen Beinamen, den er [erst] nach Verlust seines Sohnes annahm, noch bei Lebzeiten desselben beilegen lassen; und er fürchtet dabei weder den Haß der Menschen, auf deren Unglück sein allzu großes Glück sich gründete, noch den Neid der[23] Götter, die ihm gerade das zum Vorwurf machten, Sulla sei so glücklich. Doch dieß möge als eine der noch unentschiedenen Fragen unerörtert bleiben, von welchem Charakter Sulla gewesen sei; selbst seine Feinde aber werden eingestehen, daß er die Waffen geschickt ergriffen, geschickt niedergelegt habe. Das, wovon hier gehandelt wird, bleibt ausgemacht, was auch über die Glücklichsten kommt, sei nicht das größte Uebel.
XIII. (1.) Daß Griechenland jenen Vater nicht mehr allzusehr bewundert, der, als ihm bei einem Opfer der Tod seines Sohnes gemeldet wurde, nur dem Flötenbläser zu schweigen befahl und den Kranz vom Haupte nahm, das Uebrige [aber] dem Herkommen gemäß vollführte, hat der Pontifex Pulvillus bewirkt, dem, während er den Tempelpfosten hielt und das Capitol einweihte, der Tod seines Sohnes gemeldet wurde; er that, als ob er es gar nicht gehört hätte, und sprach die feierlichen Worte der Weiheformel, ohne daß ein Seufzer sein Gebet unterbrach, und beim Namen seines Sohnes flehte er um Jupiters Gnade. Man sollte glauben, eine solche Trauer müsse wohl ein Ende finden, deren erster Tag, deren erster Ueberfall einen Vater von dem öffentlichem Altare und dem Segen erflehenden Gebete nicht entfernte. (2.) Wahrhaftig, dieser Mann war würdig der merkwürdigen Tempelweihe, würdig des angesehnsten Priesteramtes, der selbst die erzürnten Götter zu verehren nicht abließ. Derselbe ließ zwar, als er nach Hause zurückgekehrt war, Thränen seine Augen netzten und stieß einige Klageworte aus, als jedoch vollbracht war, was die Sitte den Todten zu leisten gebot, nahm er die Miene vom Capitol wieder an. Paullus gab in den[24] Tagen jenes so berümten Triumphes, bei welchem er den Perseus gefesselt vor seinem Wagen herführte, zwei Söhne als Adoptivkinder ab: die, welche er für sich behalten, trug er zu Grabe. Von welcher Art, glaubst du, daß er Zurückbehaltenen gewesen, da unter den Abgegebenen Scipio war? (3.) Nicht ohne Rührung sah das römische Volk des Paullus Wagen leer; er jedoch hielt seine Rede an's Volk und dankte den Göttern, daß er Gewährung seines Wunsches erhalten; er hatte nähmlich gefleht, daß, wenn seines ungeheuern Sieges wegen dem Neide Etwas zu entrichten sei, dies lieber mit seinem, als mit des Staates Nachtheil bezahlt werden sollte. Siehst du, mit welchem großen Geiste er [sein Schicksal] ertrug? Er hat sich seiner Kinderlosigkeit wegen Glück gewünscht. Und wen konnte eine so große Wandelung mehr ergreifen? Trost und Stütze verlor er zugleich; und doch hatte Perseus nicht die Freude, den Paullus traurig zu sehen.
XIV. Wozu soll ich dich nun durch die unzähligen Beispiele großer Männer hindurchführen und Unglückliche aufsuchen, als ob es nicht schwerer wäre, Glückliche zu finden? Denn wie viele Häuser haben wohl bis an's Ende in allen ihren Theilen festgestanden, ohne daß nicht irgend eine Störung darin vorgefallen wäre? Nimm das erste beste Jahr und rufe die obrigkeitlichen Personen aus ihm vor, (2.) den Marcus Bibulus, wenn du willst, und den Cajus Cäsar, und du wirst bei den einander feindseligsten Amtsgenossen ein übereinstimmendes Schicksal sehen. Dem Marcus Bibulus, einem mehr guten als tapfern, Manne, wurden zugleich zwei Söhne getödtet, die der Kurzweil eines Aegyptischen[25] Soldaten zum Opfer fielen, so daß nicht weniger, als der Verlust der Söhne selbst, auch der Urheber desselben eine gerechte Veranlassung zu Thränen war. Bibulus jedoch, der sich das Ganze Jahr seines Ehrenamtes hindurch der Mißgunst seines Amtsgenossen wegen zu Hause verborgen gehalten hatte, ging den Tag darauf, nachdem ihm der doppelte Todesfall gemeldet worden war, an seine gewohnten Amtsgeschäfte. (3.) Konnte er zwei Söhnen weniger als einen Tag widmen? So schnell endete derselbe Mann die Trauer um seine Kinder, der ein [ganzes] Jahr lang um den Staat getrauert hatte. Cajus Cäsar hörte, als er Britannien durchzog und sein Glück [selbst] nicht vom Ocean beschränkt wissen mochte, daß seine Tochter gestorben sei, an die sich das Schicksal des Staates knüpfte. Schon hatte er den Cnejus Pompejus in's Auge gefaßt, der es nicht gleichgültig mit ansehen würde, daß noch ein Anderer in Staate groß sei, und der dem Wachsthum des Andern, das ihm lästig erschien, Schranken setzen würde, wenn sie auch mit einander [an Einfluß] wuchsen: und dennoch hat er sich nach drei Tagen seinen Feldherrngeschäften wieder unterzogen und den Schmerz ebenso schnell besiegt, wie er Alles zu besiegen pflegte.
XV. (1.) Was soll ich dir die Todesfälle in den Familien anderer Cäsaren [Kaiser] aufzählen? Ich glaube, daß das Schicksal sie deshalb zuweilen verwundet, damit sie auch so dem Menschengeschlecht nützen, indem sie zeigen, daß auch sie, welche Göttersöhne und Götterzeuger genannt werden, ihr eigenes Schicksal nicht so in ihrer Gewalt haben, wie das Anderer. (2.) Der[26] vergötterte Augustus hat nach Verlust seiner Kinder und Enkel, nachdem die zahlreiche Kaiserfamilie ausgestorben war, dem verödeten Hause durch Adoption neue Stützen gegeben. Er ertrug es jedoch standhaft, wie Einer, um dessen Sache es sich schon jetzt handelte und dem sehr viel daran gelegen sein mußte, daß Niemand sich über die Götter beklagte. Der Kaiser Tiberius verlor beide Söhne, sowohl den selbst erzeugten, als den adoptirten; er selbst hielt jedoch auf der Rednerbühne seinem Sohne eine Lobrede, stand im Angesichte des vor ihm aufgestellten Leichnams, nur daß eine Hülle darüber geworfen war, welche den Blick des Pontifex von der Leiche abhalten sollte, und verzog, während das Volk Thränen vergoß, keine Miene; er gab dem ihm zur Seite stehenden Sejanus den Beweis, wie standhaft er den Verlust der Seinen ertragen könne. (3.) Siehst du nun, welche Menge der größten Männer es gibt, mit welchen jenes Alles niederwerfende Geschick keine Ausnahme machte, obgleich so viele Güter der Seele, so viele Zierden des öffentlichen, wie des Privatlebens auf sie gehäuft waren? So aber, siehst du wohl, nimmt jener Sturm seinen Kreislauf und verheert ohne Auswahl Alles und führt er mit sich fort, wie das Seinige. Heiße alle Einzelnen ihr Loos vergleichen: Keinem ist das günstige gefallen, straflos geborgen zu werden.
XVI. (1.) Ich weiß, was du sagen wirst: »Du hast vergessen, daß du ein Weib tröstet: du zählst mir Beispiele von Männern auf.« Wer aber hat je behauptet, die Natur sei mit den Gemüthern der Frauen mißgünstig verfahren und habe ihre Tugenden[27] auf enge Grenzen beschränkt? Sie haben, glaube mir, gleiche Kraft, gleiche Fähigkeit zu dem Sittlichguten, wenn sie nur wollen; Schmerz und Anstrengungen ertragen sie, wenn sie sich daran gewöhnt haben, auf gleiche Weise. In welcher Stadt, gute Götter, spreche ich dies? in der, wo Lucretia und Brutus einen den Häuptern der Römer drohenden König gestürzt haben; dem Brutus verdanken wir die Freiheit, der Lucretia den Brutus; wo wir die Clölia, die Feind und Strom verachtete, ihrer ausgezeichneten Kühnheit wegen beinahe unter die Männer rechnen. Auf einer Bildsäule zu Rosse sitzend an der heiligen Straße, an einem stark besuchten Platze, macht Clölia unsern jungen Männern, die auf das Polster [der Sänften] steigen, Vorwürfe, daß sie in derselben Stadt so ihren Weg machen, wo wir selbst Frauen mit einem Rosse beschenkt haben. (2.) Willst du, daß ich dir Beispiele von Frauen aufzähle, die den Verlust der Ihrigen standhaft ertragen haben, so brauche ich sie nicht von Haus zu Haus aufzusuchen: aus Einer Familie will ich dir zwei Cornelien nennen; zuerst die Tochter Scipio's, die Mutter der Gracchen. Sie hat sich die Erinnerung an zwölf Geburten durch ebensoviele Leichen zurückgerufen; und war dies auch bei den übrigen ein Leichtes, deren Geburt sowohl, als deren Verlust der Staat nicht merkte, so hat sie [doch auch] den Tiberius und Cajus Gracchus, von denen selbst derjenige, der sie nicht für gute Männer erklärt, doch gestehen wird, daß sie große waren, getödtet und unbegraben gesehen; und dennoch sagte sie zu denen, die sie trösten und unglücklich nannten: »Nie werde ich mich unglücklich nennen, da ich die Gracchen geboren habe.« (3.) Cornelia, die Gattin des Livius Drusus, hatte [ihren Sohn], einen ausgezeichneten jungen[28] Mann von vortrefflichen Anlagen, der auf den Fußstapfen der Gracchen einherschritt, und nach so manchen unausgeführten Gesetzvorschlägen in seinem eigenen Hause ermordet wurde, verloren, ohne daß man den Urheber des Mordes kannte: dennoch hat sie den nicht blos bittern, sondern auch ungerächten Tod ihres Sohnes mit demselben hohen Geiste ertragen, in welchem er seine Gesetzvorschläge gemacht hatte. Nun wirst du dich mit dem Schicksal aussöhnen, Marcia, wenn es die Pfeile, die es gegen die Scipionen und der Scipionen Mütter und Söhne absendete, und die es auf die Kaiser richtet, auch gegen dich nicht zurückhielt. (4.) Voll und angefochten von mancherlei Unfällen ist das Leben: Niemand hat lange Frieden vor ihnen, kaum einen Waffenstillstand. Vier Kinder hast du geboren, Marcia: kein Geschoß, sagt man, fällt vergebens, wenn es gegen einen dichtgedrängten Haufen abgeschossen wurde. Ist es ein Wunder, wenn eine solche Anzahl nicht ohne Anfechtung und Verlust davon kommen konnte? »Aber darin [sagst du,] war das Schicksal unbilliger, daß es [mir] die Söhne nicht blos genommen, sondern herausgelesen hat.« Niemals jedoch wird man es ein Unrecht nennen können, zu gleichen Theilen mit einem Mächtigern theilen zu müssen. Zwei Töchter hat es dir gelassen und die Enkel von ihnen, und selbst den, welchen du, des früher [Dahingeschiedenen] vergessend, am meisten betrauerst, hat es dir nicht ganz genommen; du hast zwei Töchter von ihm, die, wenn du [den Verlust] unwillig erträgst, eine große Last, wenn du ihn willig erträgst, ein großer Trost für dich sind. [Das Schicksal] führte dich dahin, daß du, wenn du sie erblicktest, an deinen Sohn, aber nicht an deinen Schmerz erinnert werden solltest. (5.) Wenn einem Landmanne Bäume zu Grunde gegangen sind, die entweder der Sturm mit[29] den Wurzeln ausgerissen, oder ein Wirbelwind durch einen plötzlichen Anfall abgeknickt hat, so hegt er die übriggebliebenen Sprossen, oder steckt von den verlornen sogleich wieder Samen und Pflanzen, und im Augenblicke (denn die Zeit ist wie zur Vernichtung so zum Wachsthum reißend schnell) wachsen sie fröhlicher, als die verlornen, empor. (6.) So setze denn nun diese Töchter deines Metilius an seine Stelle un fülle [durch sie] die leere Stelle aus. Lindre dir den einen Schmerz durch doppelten Trost. Freilich ist die Natur der Sterblichen so, daß ihnen Nichts mehr gefällt, als was verloren ist; aus Sehnsucht nach dem uns Entrissenen sind wir unbilliger gegen das uns Verbliebene; wenn du aber erwägen willst, wie schonend das Schicksal mit dir verfahren ist, auch als es wüthete, so wirst du dich überzeugen, daß du mehr als Trost besitzest: blicke auf die vielen Enkel und auf deine beiden Töchter.
XVII. (1.) Sage dir auch Folgendes, Marcia: »Es würde mir zu Gemüthe gehen, wenn das Schicksal eines Jeden seinen Sitten entspräche und niemals Leiden die Guten verfolgten: nun aber sehe ich, daß ohne allen Unterschied Böse und Gute auf dieselbe Weise herumgeschleudert werden. Dennoch ist es hart, einen Jünglings zu verlieren, den man erzogen und der schon der Mutter, schon dem Vater eine Stütze und Zierde geworden war.« Wer leugnet denn, daß es hart sei? aber es ist Menschenloos. Dazu bist du geboren, daß du verlierst, daß du vergehest, daß du hoffest, fürchtest, Andere und dich selbst beunruhigst, den Tod sowohl fürchtest, als wünschest und, was das Schlimmste ist, nie wissest, wie dein eigentlicher Zustand sei. (2.) [Es ist, als] wenn man zu Einem, der nach Syrakus reisen will, sagte: »Lerne erst alle Beschwerden und alle Annehmlichkeit deiner bevorstehenden Reise kennen, und dann segle ab. Was du bewundern könntest, ist Folgendes: Zuerst wirst du die Insel selbst sehen, wie sie durch eine enge Straße von Italien losgerissen ist, mit dessen Festland sie, wie bekannt ist, einst zusammenhing. Auf einmal brach das Meer herein und
Trennte den Sikulerstrand vom Hesperischen.
[30]
Sodann wirst du, (denn du kannst bei jenem so raubgierigen Meeresstrudel vorbeistreifen) jene fabelhafte Charybdis schauen, wie sie ruhig hingestreckt liegt, so lange sie vor dem Südwind Ruhe hat, wie sie aber, sobald von dorther ein heftigeres Wehen sich erhebt, in ihren großen und tiefen Schlund die Schiffe hinabschlingt. (3.) Du wirst die in Gedichten hochgefeierte Arethusa, die Quelle eines spiegelhellen und bis auf den Grund durchsichtigen See's, ihr sehr kaltes Gewässer ausgießen sehen, mag sie nun dasselbe erst dort entstehend gefunden haben, oder mag sie selbst ein unterhalb so vieler Meere ungestört fortströmender und von der Vermischung mit schlechterem Wasser frei gebliebener Fluß wieder an's Licht der Erde gebracht haben. Du wirst den Hafen erblicken, den ruhigsten von allen, die entweder die Natur zum Schutze der Flotten geschaffen, oder denen die Menschenhand nachgeholfen hat, so sicher, daß selbst die Wuth der größten Stürme keinen Spielraum in ihm hat. (4.) Du wirst die Stelle sehen, wo Athens Macht gebrochen wurde, wo jener natürliche Kerker von unendlich tief ausgehöhlten Felsen so viele Tausende von Gefangenen umschlossen hatte; dann die ungeheure Stadt selbst und ihr Ackergebiet,[31] das sich weiter erstreckt, als die Grenzen vieler Städte, mit einem sehr lauen Winter, wo kein Tag ohne allen Sonnenschein ist. Wenn du aber dies alles dort gefunden haben wirst, so macht ein beschwerlicher und ungesunder Sommer die Wohlthaten des Winterklima's wieder zu nichte. Es wird sich der Tyrann Dionysius dort zeigen, dieses Verderben der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gesetzmäßigkeit, herrschbegierig auch noch, nachdem Plato bei ihm gewesen, lebenslustig auch noch nach seiner Verbannung. Er wird die Einen brennen, die Andern geißeln, wieder Andere eines geringen Verstoßes wegen enthaupten lassen; er wird Männer und Weiber zur [Befriedigung der] Wollust herbeiholen lassen und unter den wüsten Schaaren königlicher Unersättlichkeit wird es ihm nicht genügen, sich immer mit Zweien zugleich zu begatten. (5.) Du hast nun, vernommen, was dich einladen, was dich abschrecken kann; nun so gehe denn zu Schiffe, oder bleibe zurück. Hätte Einer nach solcher Darstellung erklärt, er wolle Syrakus betreten: könnte er dann wohl über irgend Jemanden, als über sich selbst, gerechte Klage führen, da er nicht zufällig in jene Verhältnisse gerathen, sondern mit Wissen und Willen hinein gekommen wäre? Die Natur spricht zu uns Allen: Ich hintergehe Keinen; wenn du Söhne geboren hast, so kannst du wohlgestaltete, aber vielleicht auch mißgestaltete haben; wenn dir Viele geboren werden, so kann unter ihnen ebensogut ein Verräther, als ein Retter des Vaterlandes sein. (6.) Du hast keinen Grund der Hoffnung zu entsagen, daß sie einst in solcher Achtung stehen werden, daß dich Niemand ihretwegen zu beschimpfen wagt; stelle dir jedoch vor, daß sie auch in solche Schande kommen können, daß sie selbst ein Schimpf für dich sind. Nichts verbietet, daß sie dir die letzte Ehre erweisen, daß dir deine[32] Kinder die Grabrede halten sollten; aber bereite dich so vor, als ob du Einen als Knaben, oder als Jüngling, oder als Greis auf den Scheiterhaufen legen solltest. Denn die Jahre thun Nichts zur Sache, weil jeder Leichenzug, dem Eins der Eltern folgen muß, ein herber Gang ist. Gebierst du nach solchen dir vorgelegten Bedingungen Kinder, so sprichst du die Götter von allem Uebelwollen frei, da sie dir nichts Gewisses verbürgt haben.
XVIII. (1.) Mit Rücksicht auf dieses Gleichniß laß uns den Eintritt in's Leben überhaupt betrachten. Während du noch überlegtest, ob du Syrakus besuchen wolltest, habe ich dir Alles auseinandergesetzt, was dich [dort] ergötzen, was dir lästig fallen konnte; denke dir nun einmal, ich käme, um dir bei deiner Geburt einen Rath zu ertheilen. Du bist im Begriff in eine Göttern und Menschen gemeinschaftliche Stadt einzutreten, die Alles in sich faßt, die an bestimmte und ewige Gesetze gebunden ist, die dem unermüdeten Dienst der Himmlischen obliegt. Dort wirst du unzählige Sterne erblicken, wirst erstaunen, daß von einem einzigen Gestirn Alles durchdrungen wird, daß die Sonne durch ihren täglichen Lauf die Zeiten des Tages und der Nacht abgrenzt, und durch ihren jährlichen [Lauf] Sommer und Winter noch gleichmäßiger abtheilt. (2.) Du wirst des Mondes nächtliche Wechselfolge schauen, wie sie von der schwesterlichen Begegnung ein sanftes und mattes Licht erborgt, bald verborgen, bald mit vollem Antlitz der Erde zugewendet, im Zu- und Abnehmen veränderlich und stets der nächst vorhergegangenen Erscheinung unähnlich. Du wirst fünf Gestirne schauen, die verschiedene[33] Bahnen wandeln und einen der dahinstürzenden [übrigen] Welt entgegenstrebenden Lauf haben; von ihren leisesten Bewegungen hängt das Geschick der Völker ab, nach ihnen gestaltet sich das Größte, wie das Kleinste, je nachdem der Lauf des Gestirns ein günstiger oder ungünstiger gewesen. Du wirst das zusammengehäufte Regengewölk anstaunen und die herabstürzenden Wassergüsse und die schräg zuckenden Blitze und das Krachen des Himmels. (3.) Wenn du die durch den Anblick des Oberen gesättigten Augen auf die Erde herabwendest, so erwartet dich ein anderer und auf andere Art bewundernswürdiger Stand der Dinge. Hier eine ausgedehnte Fläche von sich in's Unendliche erstreckenden Gefilden, dort die gen Himmel ragenden Gipfel von Gebirgen, die sich mit mächtigen und schneebedeckten Rücken erheben; Wasserfälle und Ströme, die sich aus einer Quelle nach Ost und West ergießen, sich auf hohen Bergspitzen wiegende Haine und eine Masse von Wäldern mit den ihnen eigenen Thieren und dem verschieden tönenden Gesang der Vögel; die verschiedene Lage der Städte und durch Unzugänglichkeit der Gegenden abgeschlossene Völkerschaften, von denen einige sich auf die Berghöhen zurückziehen, andre, in Angst lebend, von Ufern, Seen und Thälern umschlossen sind; zum Lebensunterhalt Früchte, Saaten und Gesträuch ohne Pflege ihrer wilden Natur; der sanfte Schlangenlauf der Bäche durch Wiesen, anmuthige Buchten und Ufer, die, Häfen bildend, zurücktreten, so viele auf der[34] weiten See zerstreute Inseln, die durch ihr Dazwischentreten das Einerlei unterbrechen. (4.) Ferner der Glanz von Steinen und Edelsteinen, das im Sande reißender Waldbäche herschwimmende Gold, die mitten in den Ländern und ebenso mitten im Meere [die Menschen] erschreckende Feuermeteore und das Band der Länder, das Weltmeer, das den Zusammenhang der Völker durch einen dreifachen Meerbusen trennt und mit gewaltiger Ungebundenheit aufbraust. In diesem unruhigen und auch ohne Wind wogenden Gewässer wirst du auch durch ihre ungeheure Größe erschreckende Thiere herumschwimmen sehen, manche schwerfällig und [nur] unter fremder Leitung sich bewegend, manche rasch und behender, als schnell segelnde Schiffe, manche die Fluten einschlürfend und zu großer Gefahr der Vorüberschiffenden wieder ausspritzend. (5.) Du wirst hier Schiffe sehen, welche ihnen noch unbekannte Länder aufsuchen; du wirst sehen, wie die menschliche Kühnheit Nichts unversucht läßt, und wirst nicht blos Zuschauerin sein, sondern auch selbst an den Unternehmungen wesentlichen Antheil nehmen. Du wirst [mancherlei] Künste lernen und lehren, einige, die das Leben versorgen, andere, die es schmücken, andere, die es regeln. Da werden aber [auch] tausend für Körper und Seele verderbliche Dinge sein, Krieg und Straßenraub und Gift und Schiffbruch und Unregelmäßigkeit der Witterung und des Körperzustandes und der bittere Verlust der Theuersten und der Tod, von dem es ungewiß ist, ob er ein leichter oder zur Strafe und Qual verhängter sein[35] wird. (6.) Ueberlege nun bei dir und erwäge, was du wünschest: um zu Jenem zu gelangen, mußt du den Weg durch Dieses zurücklegen. Wirst du antworten, du wollest leben? Warum nicht? Doch nein, du wirst dich, glaub' ich, nicht an Etwas machen, wovon du dir [nur] mit Schmerz Etwas entziehen lässest. Indeß lebe nur, wie einmal die Uebereinkunft lautet. Du sagst: »Es hat uns ja Niemand darüber befragt.« O ja, unsre Eltern sind unsertwegen befragt worden; obgleich sie die Bedingungen des Lebens kannten, haben sie uns doch für dasselbe gezeugt.
XIX. (1.) Doch um auf die Trostgründe zu kommen, so laß uns zuerst betrachten, was wir in's Auge fassen müssen, und sodann, wie? Es bekümmert den Trauernden die Entbehrung dessen, den er geliebt hat. Es muß klar werden, daß diese an und für sich erträglich ist; denn um Abwesende oder solche, die abwesend sein werden, weinen wir nicht, wenn sie nur leben, obgleich uns aller Umgang mit ihnen und ihr Anblick geraubt ist. Die Vorstellung also ist es, welche uns quält, und jedes Uebel ist nur so groß, als wir es anschlagen; Gegenmittel haben wir in unserer Gewalt. Laß uns denken, sie seien abwesend, und [so] uns selbst täuschen. Wir haben sie weggeschickt, ja wir haben sie vorausgeschickt, um sie einzuholen. (2.) Es bekümmert den Trauernden auch [der Gedanke]: Es wird Niemand da sein, der mich vertheidigt, der mich vor Verachtung schützt. Um mich eines wenig einleuchtenden, aber wahren Trostgrundes zu bedienen: in unserm Staate verschafft das Verwaistsein eher Gunst, als daß es sie entzieht. Ja selbst die Greise führt das Verlassensein, das [sonst] zerstörend zu wirken pflegte, zur Macht, so daß Manche Haß gegen ihre Söhne erheucheln, ihre Kinder eidlich verleugnen und sich auf eigene Hand kinderlos machen. Ich weiß, was du sagen wirst: Meine Verluste bekümmert mich nicht; denn der ist des Trostes nicht werth, den der Tod eines Sohnes nicht anders wie der eines Sklaven schmerzt, und der dabei Muße hat, noch an etwas Anderes zu denken, als eben an den Sohn. (3.) Was[36] also bekümmert dich, Marcia? Daß dein Sohn gestorben ist, oder daß er nicht lange gelebt hat? Wenn [der Umstand], daß er gestorben ist, so mußtest du beständig trauern, denn du wußtest stets, daß er sterbe. Bedenke, daß der Gestorbene von keinem Uebel berührt wird; daß das, was und die Unterwelt furchtbar macht, Erdichtung sei; daß den Todten keine Finsterniß droht, kein Kerker, keine Feuerströme, kein Fluß der Vergessenheit, keine Richterstühle und Angeklagte und bei jener so schrankenlosen Freiheit nicht abermals Tyrannen. Das haben [nur] die Dichter gefabelt und uns durch leere Schreckbilder beunruhigt. (4.) Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allen Uebel, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus, der uns in jene Ruhe zurückversetzt, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden. Wenn Einer die Todten bemitleidet, so muß er auch die noch nicht Gebornen bemitleiden. Der Tod ist weder ein Gut, noch ein Uebel. Denn [nur] das kann entweder ein Gut oder ein Uebel sein, was [überhaupt] Etwas ist; was aber selbst ein Nichts ist und Alles in Nichts zurückführt, gibt uns keinem Schicksal Preis. Denn Uebel und Güter finden sich [nur] an irgend einem Stoffe. Das Schicksal kann das nicht festhalten, was die Natur entlassen hat, und der kann nicht elend sein, der [überhaupt] gar nicht ist. (5.) Dein Sohn hat die Schranken überschritten, innerhalb deren man ein Sklav ist; es hat ihn ein großer und ewiger Friede aufgenommen. Nicht von Furcht vor Armuth, nicht von Sorge für den Reichthum, nicht von dem Stachel der den Geist durch wollüstigen Genuß schwächenden Sinnlichkeit wird er angefochten, nicht berührt von dem Neide über fremdes Glück, nicht gedrückt von dem [Anderer] über sein eigenes, nicht einmal von Schmähungen werden seine zartfühlenden Ohren verletzt, er sieht kein öffentliches, kein häusliches Unglück drohen, auch hängt er nicht, um die Zukunft bekümmert, vom Ausgange ab, der sich[37] immer zum Ungewissen hinneigt. Endlich steht er da, von wo ihn Nichts [mehr] vertreibt, wo ihn Nichts [mehr] erschreckt.
XX. (1.) O wie unbekannt mit ihrem Elend sind die, welche den Tod nicht als die beste Erfindung der Natur preisen und erwarten, denn mag er ein Glück endigen, oder ein Unglück zurücktreiben, mag er dem Lebensüberdruß und der Erschöpfung des Greises ein Ziel setzen, oder ein jugendliches Alter, von dem man noch Schöneres hofft, in der Blüthe entführen, oder die Kindheit abrufen, ehe die härteren Altersstufen kommen: Allen ist er ein Ende, Vielen eine Hülfe, Manchen ein Wunsch, und macht sich um Keinen mehr verdient, als um den, zu welchem er kommt, ehe er gerufen wurde. (2.) Er erläßt die Sklaverei wider Willen des Herrn, er löst die Ketten der Gefangenen, er führt aus dem Kerker, wem unbändige Herrschergewalt den Ausgang daraus verboten hatte; er zeigt dem Verbannten, die Herz und Augen beständig dem Vaterlande zuwenden, daß es gleich sei, unter welcher Erde er ruhe; wenn das Schicksal die gemeinsamen Güter ungerecht vertheilt und von den mit gleichem Rechte Gebornen den Einen an den Andern verschenkt hat, – er gleicht Alles aus; er ist's, der nie Etwas nach eines Andern Willkür thut, er ist's, bei dem Niemand seine Niedrigkeit fühlt, er ist's, der Keinem unzugänglich war, er ist's, Marcia, nach dem dein Vater verlangt hat. (3.) Er ist's, sage ich, der da macht, daß es keine Strafe ist, geboren zu werden, der bewirkt,[38] daß ich nicht erliege bei den Drohungen des Mißgeschicks, daß ich meinen Geist unverletzt und seiner mächtig erhalten kann; da habe ich Etwas, was ich [um Hülfe] ansprechen kann. Dort erblicke ich Marterhölzer, und zwar nicht von einer Art, sondern von dem Einen so, von dem Andern anders gebildet. Einige hingen die Leute mit zur Erde gekehrtem Kopfe auf, Andere trieben den Pfahl durch Schamtheile, Andere dehnten die Arme am Galgen aus. Ich sehe Folterseile, ich sehe Geißelhiebe und [daß man] besondere Maschinen für jedes einzelne Glied und Gelenk erfunden hat, [aber] ich sehe auch den Tod. Dort sind blutdürstige Feinde, übermüthige Bürger; aber ich sehe dort auch den Tod. (4.) Da ist es nicht lästig zu dienen, wo man wenn man des Herren überdrüssig ist, mit einen einzigen Schritte zur Freiheit gelangen kann. Leben, ich liebe dich um der Wohlthat des Todes willen. Bedenke, wie viel Gutes der Tod, zu gelegener Zeit hat, wie Vielen es geschadet hat, daß sie länger lebten. Hätte den Cnejus Pompejus, jene Zierde und Stütze des Reichs, zu Neapel die Krankheit hingerafft, so wäre er unbezweifelt als der Erste des Römischen Reichs gestorben. (5.) So aber hat ihn der Zusatz einer kurzen Zeit von seiner Höhe herabgestürzt. Er sah [noch] die Legionen vor seinen Augen niedergemetzelt, und ein wie unglückseliger Ueberrest aus jener Schlacht, in welcher der Senat das erste Treffen bildete, war es, daß der Feldherr selbst noch übrig geblieben war! Er sah [noch] den Aegyptischen Henker und überließ seinen Leib, den die Sieger für unantastbar gehalten, einem Trabanten, und hätte, auch wenn er unverletzt geblieben wäre, seine Rettung dennoch nur bedauern können. Denn was wäre schimpflicher gewesen, als wenn Pompejus[39] durch die Gnade eines Königs gelebt hätte? (6.) Wäre Marcus Cicero zu der Zeit gefallen, wo er Catilina's Dolchen entging, die auf ihn, wie auf das Vaterland gerichtet waren, so hätte er nach Befreiung des Staats als Retter desselben, und wäre er auch erst der Leiche seiner Tochter [im Tode] gefolgt, so hätte er auch da noch als ein glücklicher Mann sterben können. Er hätte nicht die auf Häupter seiner Mitbürger gezückten Schwerter gesehen, noch die Vertheilung der Güter der Gemordeten an die Mörder, so daß jene sogar ihren Tod bezahlen mußten, nicht die Lanze, bei welcher die consularische Beute verkauft wurde, noch das Blutvergießen und die öffentliche Verpachtung des Raubes, die Kriege, Räubereien, eine solche Menge von Catilina's. (7.) Wenn den Marcus Cato bei seiner Rückkehr aus Cyprus und von der Regulirung der königlichen Erbschaft das Meer verschlungen hätte, auch mit dem Gelbe selbst, daß er als Gold, für den Bürgerkrieg brachte, wäre es nicht wohl um ihn bestellt gewesen? Er hätte wenigstens das davon gehabt, daß Niemand gewagt hätte, vor Cato's Augen zu freveln. Nun aber hat der Zusatz sehr weniger Jahre den nicht blos für seine eigene, sondern für die allgemeine Freiheit gebornen Mann gezwungen, vor Cäsar zu fliehen und dem Pompejus zu folgen. Jenem [deinem Sohne] hat also der zu frühzeitige Tod kein Unglück gebracht; er hat ihm sogar die Erduldung aller Uebel erlassen. »Doch er starb gar zu schnell und doch nicht reif [für den Tod]«. Zuerst nimm an, er wäre am Leben geblieben; nimm das längste Lebensziel, bis zu welchem dem Menschen zu gelangen verstattet ist, wie kurz ist es? Für eine überaus[40] kurze Zeit geboren, um bald wieder abzutreten von einem Orte, der uns nur auf diese Bedingungen hin verpachtet ist, sehen wir uns nach einer Herberge um. Ich spreche von unserer Lebensdauer, von der es bekannt ist, mit wie unglaublicher Schnelligkeit sie dahinfliegt. Ueberschlage doch die Zeitalter der Städte und du wirst sehen, wie selbst die, welche sich ihres Alters rühmen, gar nicht lange gestanden haben. Alles Menschliche ist kurz und hinfällig und nimmt von der unendlichen Zeit einen Theil ein, der ein Nichts ist. (9.) Diese Erde mit ihren Städten und Völkerschaften, ihren Flüssen und dem Umfange des Meers betrachten wir als einen Punkt, wenn wir sie in Beziehung zu dem Weltall bringen; einen noch kleineren Theil aber, als ein Punkt, nimmt unsre Lebensdauer ein, wenn wir sie mit der ganzen Zeit vergleichen, deren Maß größer ist, als das der Welt, da ja diese im Verlauf jener so oft ihre Bahn auf's Neue durchmißt. Was also liegt daran, das weiter auszudehnen, dessen Zuwachs, wie groß er auch immer sein möge, doch nicht weit von Nichts entfernt sein wird? Nur in einem Falle ist, was wir durchleben, viel, wenn es uns genug ist. (10.) Magst du mir, wenn's dir gefällig ist, Männer von einem als denkwürdig aufgezeichneten hohen Greisenalter nennen, indem du hundert und zehn Jahre aufzählst: wenn du deine Gedanken auf die ganze Zeit richtest, so wird zwischen der kürzesten und der längsten Lebensdauer kein Unterschied sein, sobald du nach Betrachtung der langen Zeit, die Einer lebte, damit die lange Zeit vergleichst, die er nicht gelebt hat. Sodann wenn er zu frühzeitig starb, so war ihm eben Nichts mehr zu leben übrig, (denn er lebte, so lange er leben sollte.) Die Menschen haben nicht einerlei Greisenalter, wie selbst die Thiere nicht. Manche von ihnen sind [schon] vor dem[41] vierzehnten Jahre entkräftet und ihr längstes Lebensalter ist, was bei dem Menschen die erste Stufe ist. Einem Jeden ist eine verschiedene Lebenskraft gegeben: Niemand stirbt zu früh, weil er nicht länger leben sollte, als er gelebt hat. (11.) Einem Jeden ist seine Grenze fest bestimmt, sie wird stets bleiben, wo sie [einmal] gesteckt ist, und keine Sorgfalt oder Gunst wird sie weiter hinausrücken. Er hat sein Theil dahin und »gelangte zum Ziel des beschiedenen Alters.« Du hast also keinen Grund, dir es durch den Gedanken schwer zu machen: Er hätte länger leben können. Sein Leben ist nicht abgebrochen und nie hat sich ein Zufall die [Lebens]jahre hineingeworfen. Es wird gehalten, was einem Jeden versprochen war. Das Loos geht seinen Gang nach eignem Triebe und fügt weder Etwas hinzu, noch nimmt es von dem Zugesagten auch nur ein einziges Mal Etwas hinweg: vergeblich sind Wünsche und Bemühungen. (12.) Ein Jeder wird so viel bekommen, als ihm der erste Tag zugeschrieben hat. Von dem Augenblicke an, wo er zuerst das Licht erblickte, hat er die Bahn des Todes betreten und ist seinem Verhängniß immer näher gerückt, und selbst jene Jahre, die dem Jünglingsalter zugelegt wurden, wurden vom Leben abgezogen. Wir alle befinden uns in dem Irrthume, daß wir glauben, nur schon Bejahrte und gebückt Einhergehende schritten dem Tode zu, während doch sofort die Kindheit und die Jugend, kurz jedes Lebensalter dahin führt. Das Schicksal thut, was seines Amtes; es benimmt uns den Gedanken an unsern Tod und um uns leichter zu beschleichen, verbirgt sich der Tod unter dem Namen des Lebens. Das unmündige Kind wird zum Knaben verwandelt, das Knabenalter vom Mannesalter, das Mannesalter vom Greisenalter dahingerafft. Das Wachsthum selbst ist, wenn man es recht betrachtet, ein Abnehmen.
XXI: (1.) Du klagst, Marcia, daß dein Sohn nicht so lange gelebt habe, als er hätte leben können? Woher du denn, ob es ihm länger gefrommt hätte? ob dieser Tod nicht sein Glück[42] war? Wen kannst du heut zu Tage finden, dessen Verhältnisse so gut bestellt und begründet wären, daß er im Verlaufe der Zeit Nichts zu fürchten hätte? [Alles] Menschliche gleitet und fließet dahin und kein Theil unseres Lebens ist so verwundbar und zart, als der, welcher uns der liebste ist. (2.) Daher ist den Glücklichsten der Tod zu wünschen, weil bei der so großen Unbeständigkeit und Verwirrung der Verhältnisse Nichts gewiß ist, als was vorüber ist. Wer bürgte dir dafür, daß der so schöne und Angesichts einer üppigen Stadt mir größter Bewahrung der Keuschheit erhaltene Körper deines Sohnes den Krankheiten so hätte entgehen können, daß er seine Schönheit unversehrt bis in's Greisenalter hinüber getragen hätte?
XXII: (1.) Bedenke die tausend Seuchen der Seele; denn auch wohlausgestattete Naturen erhalten die Hoffnungen, die sie in der Jugend von sich erregten, nicht bis zum Greisenalter wach, sondern dieselben werden meist vernichtet. Entweder bemächtigt sich ihrer eine späte und um so häßlichere Ueppigkeit und nöthigt sie den herrlichen Anfang zu schänden, oder sie fröhnen der Garküche und dem Magen und ihre größte Sorge ist, was sie essen, was sie trinken sollen. Nimm dazu Feuersbrünste, Einsturz, Schiffbruch, Zerfleischungen durch die Aerzte, die den noch Lebenden zersplitterte Knochen herausziehen, mit der ganzen Hand in die Eingeweide hineingreifen und mit außerordentlichen Schmerzen an den Schamtheilen ihre Curen machen. (2.) Sodann Verbannung: unschuldiger war dein Sohn doch nicht, als Rutilius; Gefängniß: weiser war er doch nicht, als Sokrates; eine durch freiwilligen Todesstoß durchbohrte Brust: unsträflicher war er doch nicht, als Cato. Wenn du Solches betrachtest, so wirst du erkennen, daß es denen am Besten geht, welche die Natur,[43] weil ihrer ein solcher Lohn des Lebens wartete, schnell in Sicherheit gebracht hat. Nichts ist so trügerisch, als das Menschenlebens, Nichts so voll Hinterhalt; wahrhaftig, es würde es Niemand angenommen haben, wenn man es nicht wider Wissen bekäme. Wenn es daher allergrößte Glück ist, nicht geboren zu werden, so halte ich es für das nächstgrößte, nach Ueberstehung eines kurzen Lebens schnell in den frühern unangefochtenen Zustand zurückversetzt zu werden. Stelle dir jene für dich so bittere Zeit vor, wo Sejanus deinen Vater seinem Schützlinge Satrius Secundus als Trinkgeld gab. Er zürnte ihm wegen einer oder der andern freimüthigen Aeußerung, weil jener es nicht stillschweigend ertragen konnte, daß uns ein Sejanus nicht einmal erst auf den Nacken gesetzt werde, sondern selbst hinaufsteige. (3.) Es wurde beschlossen, ihm eine Bildsäule im Theater des Pompejus zu setzen, welches der Kaiser nach dem Brande wieder herstellen ließ. Da rief Cordus aus: »jetzt erst gehe das Theater in Wahrheit zu Grunde.« Wie? hätte er nicht [vor Aerger] darüber bersten sollen, daß über der Asche des Cnejus Pompejus ein Sejanus und in dem Denkmal des größten Feldherrn [das Standbild] eines treulosen Soldaten geweihet wurde? Und sie wurde geweihet durch die Anklage; und die bissigen Hunde, die Jener, um sie gegen sich allein zahm, gegen alle [Anderen] wild zu haben, mit Menschenblut nährte, fingen sogleich an, auch jenen dem Tode geweihten Mann rings anzubellen. (4.) Was sollte er machen? wollte er leben, so mußte er den Sejanus bitten; wollte er leben, seine Tochter,[44] beide [wohl] unerbittlich. So beschloß er denn, seine Tochter zu täuschen: und nachdem er ein warmes Bad genommen, schon um desto mehr an Kräften zu verlieren, begab er sich in sein Zimmer, als wollte er etwas Weniges essen, und nachdem er die Diener fortgeschickt hatte, warf er Einiges, damit es scheinen sollte, als habe er gegessen, zum Fenster hinaus, enthielt sich dann der Hauptmahlzeit, als habe er sich schon in seinem Zimmer satt gegessen, und machte es am zweiten und dritten Tage eben so. Der vierte verrieht ihn durch die Kraftlosigkeit seines Körpers selbst. (5.) Daher umarmte er dich und sprach: »Theuerste Tochter, der ich in meinem ganzen Leben nur dies Eine verhehlt habe, ich habe den Todesweg betreten und schon beinahe die Mitte erreicht. Zurückrufen darfst und kannst du mich nicht.« Und so gebot er denn allem Lichte den Zutritt zu verschließen und verbarg sich in Finsterniß. Als sein Entschluß bekannt wurde, war allgemeine Freude, daß dem Rachen der heißhungrigen Wölfe die Beute entrissen wurde. Die Ankläger wenden sich auf Betrieb des Sejanus an den Richterstuhl, sie klagen, daß Cordus sterbe, um zu hintertreiben, wozu sie [selbst] ihn gezwungen hatten; so sehr glaubten sie, Cordus werde ihnen entgehen. (6.) Eine wichtige Frage bei der Untersuchung war, ob sich Angeklagte durch den Tod der Strafe entziehen dürften. Während berathschlagt wird, während die Ankläger sich zum zweiten Male [an die Consuln] wenden, hatte sich Jener gemacht. Siehst du, Marcia, welcher Wechsel ungünstiger Zeitumstände unerwartet eintritt? Du weinst, weil Einer der Deinen sterben mußte? Jenem wäre es beinahe nicht gestattet worden.[45]
XXIII. (1.) Außerdem, daß alles Zukünftige ungewiß ist und [nur] für das Schlimmere [etwas] gewisser, ist der Weg zum Himmel den Seelen leichter, die bei Zeiten von dem Verkehr mit den Menschen frei werden; denn sie haben noch sehr wenig von Hefen und beschwerender Masse in sich aufgenommen. Noch ehe sie sich damit überzogen und den irdischen Stoff tiefer in sich aufnahmen, befreit, schweben sie unbeschwerter wieder zu ihrem Ursprung empor und spülen alles Häßliche, was ihnen anklebt, leichter ab. Und nie ist großen Geistern ein langer Aufenthalt im Körper angenehm; sie sehnen sich herauszukommen und auszubrechen, und sie, die emporgetragen unstät das Weltall durchschweifen und gewohnt sind, aus der Höhe auf die Menschenwelt herabzuschauen, ertragen nur ungern diese Einengung. (2.) Daher ruft Plato aus: »die Seele des Weisen neige sich ganz dem Tode zu, das wolle, darauf sinne sie, von dieser Sehnsucht werde sie getrieben, stets nach Außen hinstrebend.« Wie konntest du, Marcia, da du in dem Jünglinge die Weisheit eines Greises sahest, einen Geist, der alle Lüste besiegte, der geläutert und frei von Lastern war, der nach Reichthum ohne Habsucht, nach Ehrenstellen ohne Ehrsucht, nach Vergnügen ohne Ueppigkeit strebte, [wie konntest du] glauben, daß es dir lange erhalten bleiben werde? Alles, was seinen Höhepunkt erreicht hat, ist seinem Ende nahe. Vollendete Tugend entreißt sich und entschwindet unsern Augen, und was [schon] im Anfange gereift ist, wartet nicht auf die äußerste Zeit. (3.) Ein Feuer verlischt um so schneller, je heller seine Flamme loderte; ein längeres Leben hat es, wenn es mit zähem und schwer brennendem Stoffe vereinigt und vom Rauche niedergedrückt in schmutziger Farbe leuchtet; denn dieselbe Ursache, die es mißliebig nährt, hält es auch auf. So find auch Geister, je heller sie sind, von um so kürzerer Dauer; denn wo kein Wachsthum [mehr] Statt finden[46] kann, da ist der Untergang nahe. Fabianus berichtet, was auch unsre Eltern selbst gesehen, es sei zu Rom ein Knabe von der Statur eines riesig großen Mannes gewesen: aber dieser starb sehr bald, und jeder Verständige sagte es [voraus], daß er in Kurzem sterben werde; denn er konnte unmöglich bis zu dem Alter gelangen, das er schon der Zeit erreicht hatte. So ist die Reise ein Zeichen des nahen Todes und das Ende kommt heran, wenn das Wachsthum erschöpft ist.
XXIV. (1.) Fange einmal an, ihn nach Tugenden, nicht nach Jahren zu schätzen: dann hat er lange genug gelebt. Unmündig [vom Vater] hinterlassen, war er bis zum vierzehnten Jahre unter der Aufsicht von Vormündern, immer aber unter der Pflege der Mutter. Obgleich er seine eignen Hausgötter hatte, wollte er doch die deinigen nicht verlassen, und blieb, während [sonst] Kinder kaum das Zusammenwohnen mit dem Vater ertragen, in der Wohnung der Mutter. Als ein Jüngling, durch Wuchs, Schönheit und sonstige Körperkraft für's Feldlager geschaffen, verschmähte er doch den Kriegsdienst, um sich nicht von dir trennen zu müssen. Erwäge, Marcia, wie selten Mütter, die in andern Häusern wohnen, ihre Kinder zu sehen bekommen, bedenke, daß so viele Jahre den Müttern verloren gehen und in Sorgen hingebracht werden, als sie ihre Söhne beim Heere haben: und du wirst einsehen, daß das ein langer Zeitraum war, vom welchem du nicht das Mindeste eingebüßt hast. (2.) Nie hat er sich deinem Anblick entzogen; unter deinen Augen hat er die Ausbildung seines ausgezeichneten Talents betrieben, worin er seinem Großvater gleichgekommen sein würde, wenn nicht seine Bescheidenheit im Wege gestanden hätte, welche die Fortschritte Vieler in Stillschweigen begraben hat. Als Jüngling von höchst seltener Schönheit hat er unter der so großen Schaar von Weibern, welche die Männer zu verführen suchen, keiner je Hoffnung auf seine Person gemacht, und als die Verdorbenheit einiger so weit ging, ihn zu versuchen, erröthete er, als ob er[47] [schon dadurch] gesündigt hätte, daß er gefallen hatte. Durch diese Unsträflichkeit der Sitten bewirkte er, daß er noch sehr jung eines Priesteramtes für würdig gehalten wurde, ohne Zweifel auf mütterliche Verwendung; aber selbst die Mutter hätte nichts vermocht, außer für einen so tugendhaften Bewerber. Durch Betrachtung dieser Tugenden setze dich mit deinem Sohne in Verbindung, als ob er dir gerade jetzt noch mehr angehörte. (3.) Jetzt hat er nichts [mehr], was ihn von dir wegriefe; nie wird er dir Kummer, nie Gram verursachen. Das Einzige, was dich an einem so trefflichen Sohne schmerzen konnte, das hat dich geschmerzt; das Uebrige ist vor Unfällen sicher und voll von Genuß, wenn du nur mit deinem Sohne umzugehen verstehst, wenn du nur einsiehst, was an ihm das Kostbarste gewesen. Nur das Bild deines Sohnes und eine nicht eben sehr Ähnliche Abbildung ist dahin: er selbst ist ewig und jetzt in einem besseren Zustande, entladen von fremder Bürde und ganz sich selbst überlassen. (4.) Diese uns umgebenden Gebeine, die man sieht, die Nerven und die darüber gezogene Haut, das Gesicht und die dienenden Hände und das Uebrige, worein wir gehüllt sind, sind [nur] Fesseln und Verdunkelungen des Geistes. Die Seele wird damit verdeckt, verdunkelt, angesteckt, abgehalten von dem Wahren und ihr Eigenthümlichen und in Irrthümer hineingestürzt: das ist ihr ganzer Kampf mit diesem sie beschwerenden Fleische, daß sie nicht irre geführt werde, sondern fest bleibe. Sie strebt dahin, von wo sie entlassen ist; dort wartet ihre ewige Ruhe, indem sie nach dem Verworrenen und Grobmassigen das Reine und Klare anschaut.
XXV. (1.) Daher brauchst du nicht nach dem Grabe deines Sohnes zu laufen: das Schlechteste und ihm selbst Lästigste liegt dort, Gebeine und Asche, was ebensowenig Theile von ihm sind, als Kleider und andre Körperhüllen. Unversehrt und Nichts auf Erden zurücklassend ist er entflohen und ganz von hier geschieden,[48] und wenn er ein Weilchen über uns geweilt haben wird, bis er geläutert ist und die ihm anhangenden Gebrechen und allen Wust des sterblichen Lebens abgestreift hat, so wandelt er dann, zu den höheren Regionen erhoben, unter seligen Geistern, [da empfängt ihn eine heilige Schaar, die Scipionen und Catonen] und unter Verächtern des Lebens und durch des Todes Wohlthat Befreiten. (2.) Dein Vater, Marcia, zieht dort, obgleich daselbst Allen Alles verwandt ist, den Enkel an seine Seite, der sich des neuen Lichtes freut, und lehrt ihn die Bahnen der benachbarten Gestirne [kennen]; und ihrer aller nicht [mehr bloß] durch Vermuthung, sondern nach ihrer wahren Natur kundig, führt er ihn mit Freuden in die Geheimnisse der Natur ein. Und so wie ein Wegweiser in unbekannten Städten dem Fremdlinge willkommen ist, so dem, welcher nach den Verhältnissen der Himmelskörper forscht, ein Erklärer, der darin zu Hause ist und [gewöhnt] seinen Scharfblick in die Tiefe der Erdenwelt hinabzusenden; denn es erfreut, von einer Höhe aus auf den verlaßenen Raum zurückzuschauen. (3.) Benimm dich demnach so, o Marcia, als ständest du unter den Augen deines Vaters und deines Sohnes, nicht als jener, die du kanntest, sondern als weit Erhabnerer und auf größter Höhe Stehender; erröthe über alles Niedrige und Gemeine und auch darüber, daß du die zu besseren Wesen verwandelten Deinen beweinst. In das ewige All durch freie und weite Räume entsendet, werden sie durch keine dazwischen fluthenden Meere, noch durch Bergeshöhen oder unwegsame Thalklüfte und Untiefen unsichrer Syrten gehemmt; überall ebene Pfade [bieten sich ihnen dar], die sich leicht verändern lassen, wohl gebahnt, einer in den andern auslaufend und zwischen Gestirnen dahinführend.
XXVI. (1.) Denke dir also, a Marcia, dein Vater, der so viel bei dir galt, als du bei deinem Sohne, spräche von jener Himmelsburg herab nicht in jenem Geiste, womit er die Bürgerkriege beweinte[49] und die, welche Aechtungen verhängten, selbst auf ewig geächtet hat, sondern in einem um so viel erhabenern, als er [jetzt] selbst erhabener ist, also zu dir: »Warum fesselt dich, meine Tochter, ein so langer Kummer? warum schwebst du in einer solchen Unkenntniß des Wahren, daß du meinst, es stehe übel um deinen Sohn, daß er sich bei vollem Wohlsein seines Hauses, bei vollem Wohlsein deiner selbst zu seinen Ahnen zurückgezogen hat? Weißt du denn nicht, durch was für Stürme das Schicksal Alles durcheinander wirft? wie es sich noch gegen Niemanden wohlwollend und gefällig erwies, als wer sich am wenigsten mit ihm eingelassen hatte? (2.) Soll ich dir Könige nennen, die höchst glücklich gewesen wären, wenn sie der Tod den ihnen bevorstehenden Unfällen früher entrückt hätte? oder römische Feldherrn, zu deren Größe Nichts fehlen würde, wenn man von ihrer Lebenszeit Einiges abziehen könnte? oder die edelsten und berühmtesten Männer, die ihren Nacken dem Streiche des Soldatenschwertes beugend dargestellt sind? Denke zurück an deinen Vater und Großvater. (3.) Letzterer verfiel der Willkür eines Andern, der ihn mordete; ich habe nie einem Andern Gewalt über mich gegeben und dadurch, daß ich mir die Speise versagte, gezeigt, wie es mich freute, mit so hohem Muthe geschrieben zu haben. Warum soll in unserm Hause der am längsten betrauert werden, der am glücklichsten stirbt? Wir[50] treten alle zusammen und sehen, keineswegs von tiefer Nacht umgeben, bei Euch nichts Wünschenswerthes (wofür ihr es haltet), nichts Erhabenes, nichts Glänzendes, sondern lauter Niedriges und Beschwerliches und Angstvolles und ach! welch' kleinen Theil von unserm Lichte Schauendes? (4.) Brauche ich erst zu sagen, daß hier keine Waffen in blutigem Zusammenstoß wüthen, nicht Flotten von Flotten zerstört werden, kein Vatermord bereitet oder auch nur gedacht, kein Marktplatz den ganzen Tag lang von Rechtsstreitigkeiten durchtost wird, daß Nichts im Verborgenen geschieht, daß die Gesinnungen aufgedeckt, die Herzen offen [daliegen], daß das Leben ein öffentliches, den Blicken Aller ausgesetztes ist, und ein Ueberschauen jedes Zeitaltes und der [noch] kommenden [Statt findet]? Es machte mir Freude, die Ereignisse eines einzigen Jahrhunderts aufzuzeichnen, welche im letzten Theile des Weltalls und nur unter sehr Wenigen vorfielen; jetzt ist mir vergönnt so viele Jahrhunderte und den Zusammenhang, die Reihenfolge so vieler Zeitalter und alle Jahre, so viele es deren gibt, zu überschauen, ich kann hinblicken auf die Reiche, die sich erheben, auf die Reiche, die versinken werden, auf den Fall großer Städte und auf neue Bahnen des Meeres. (5.) Denn, wenn dir das gemeinsame Schicksal ein Trost für deine Sehnsucht sein kann, es wird Nichts an der Stelle stehen bleiben, wo es jetzt steht, das Alter wird Alles niederwerfen und mit sich fortraffen; und nicht nur mit Menschen (denn ein wie kleiner Theil sind doch diese von dem, worüber dem Zufall Macht gegeben ist!), sondern mit Gegenden, mit Landstrichen, mit Welttheilen wird es sein Spiel treiben; viele Berge wird es niederdrücken und an anderen Stellen neue Felsen in die Höhe treiben; Meere wird es verschlingen, Ströme aus ihrer Bahn lenken und den Völkerverkehr durchbrechend die Verbindung und Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts auflösen.[51] Anderswo wird es Städte in ungeheure Schlünde hinabziehen, sie durch Erdbeben erschüttern und aus der Tiefe Pestdünste heraufsenden, alles bewohnte Land mit Ueberschwemmungen bedecken und, wenn der Erdkreis versinkt, jedes lebende Wesen tödten und mit ungeheuerm Feuer alles Sterbliche versengen und in Brand stecken. (6.) Und wenn die Zeit gekommen ist, wo die Welt, um erneuert zu werden, sich vernichten wird, da wird sich jenes alles durch seine eigne Kraft zerstören, Gestirne werden mit Gestirnen zusammenrennen, und während die ganze Weltmasse in Flammen steht, wird Alles, was jetzt in geregelter Ordnung leuchtet, in einem Feuermeere brennen. Auch wir selige Geister, die wir das Ewige erreicht haben, werden, wenn es der Gottheit gefällt, jenes alles noch einmal in's Werk zu setzen, bei dem allgemeinen Einsturz selbst nur eine kleine Zugabe zu der ungeheuern Verheerung, in die alten Urbestandtheile verwandelt werden. O wie glücklich ist dein Sohn, Marcia, der dies [alles] schon weiß.«[52]
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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