11

[65] Dieser Unterschied besteht in voller Größe zwischen den Wikingern des Blutes und den Wikingern des Geistes im Aufstieg der faustischen Kultur. Jene erreichen in unstillbarem Drang nach unendlichen Fernen vom hohen Norden aus 796 Spanien, 859 das Innere Rußlands, 861 Island und zur selben Zeit Marokko, von dort her die Provence und die Nähe von Rom, 865 über Kijew (Kaenugard) das Schwarze Meer und Byzanz, 880 das Kaspische Meer, 909 Persien. Sie besiedeln um 900 die Normandie und Island, um 980 Grönland,[65] entdecken um 1000 Nordamerika. 1029 sind sie von der Normandie her in Unteritalien und Sizilien, 1034 von Byzanz aus in Griechenland und Kleinasien, 1066 erobern sie von der Normandie aus England.6

Mit derselben Kühnheit und demselben Hunger nach geistiger Macht und Beute dringen nordische Mönche des 13. und 14. Jahrhunderts in die Welt technisch-physikalischer Probleme ein. Hier ist nichts von der tatfremden müßigen Neugierde chinesischer, indischer, antiker und arabischer Gelehrten. Hier gibt es keine Spekulation mit dem Ziel, eine bloße »Theorie«, ein Bild zu erhalten von dem, was man nicht wissen kann. Zwar ist jede naturwissenschaftliche Theorie ein Mythus des Verstandes von den Mächten der Natur, und jede ist von der zugehörigen Religion durch und durch abhängig.7 Hier aber, und hier allein, ist die Theorie von Anfang an Arbeitshypothese.8 Eine Arbeitshypothese braucht nicht »richtig«, sie muß nur praktisch brauchbar sein. Sie will die Geheimnisse der Welt rings um uns her nicht enthüllen, sondern bestimmten Zwecken dienstbar[66] machen. Deshalb die Forderung der mathematischen Methode, die von den Engländern Grosseteste (geb. 1175) und Roger Bacon (geb. um 1210), den Deutschen Albertus Magnus (geb. 1193) und Witelo (geb. 1220) erhoben wurde. Deshalb das Experiment, Bacons scientia experimentalis, die Befragung der Natur mit der Folter, mit Hebeln und Schrauben.9 Experimentum enim solum certificat, wie Albertus Magnus schrieb. Es ist die Kriegslist geistiger Raubtiere. Sie glaubten, daß sie »Gott erkennen« wollten, und wollten doch allein die Kräfte der anorganischen Natur, die unsichtbare Energie in allem, was geschieht, isolieren, faßbar, benutzbar machen. Die faustische Naturwissenschaft und diese allein ist Dynamik, gegenüber der Statik der Griechen und der Alchymie der Araber.10 Nicht auf Stoffe, sondern auf Kräfte kommt es an. Die Masse selbst ist eine Funktion der Energie. Grosseteste entwickelt eine Theorie des Raumes als einer Funktion des Lichtes, Petrus Peregrinus eine Theorie des Magnetismus. In einer Handschrift von 1322 wird die kopernikanische Theorie von der Bewegung der Erde um die Sonne angedeutet, worauf fünfzig Jahre[67] später Nikolaus von Oresme in »De coelo et mundo« diese Theorie klarer und tiefer begründet als Kopernikus selbst und in »De differentia qualitatum« die Fallgesetze Galileis und die Koordinatengeometrie von Descartes vorwegnimmt. Man erblickt in Gott nicht mehr den Herrn, der von seinem Thron aus die Welt regiert, sondern eine unendliche, kaum noch persönlich gedachte Kraft, die überall in der Welt gegenwärtig ist. Es war ein seltsamer Gottesdienst, diese experimentelle Erforschung der geheimen Kräfte durch fromme Mönche. Und, wie ein alter deutscher Mystiker sagte: Indem du Gott dienst, dient Gott dir.

Man hatte es satt, sich mit dem Dienste von Pflanzen, Tieren und Sklaven zu begnügen, die Natur ihrer Schätze zu berauben – der Metalle, Steine, Hölzer, Faserstoffe, des Wassers in Kanälen und Brunnen –, ihre Widerstände zu besiegen durch Schiffahrt, Straßen, Brücken, Tunnels und Deiche. Sie sollte nicht mehr in ihren Stoffen geplündert, sondern in ihren Kräften selbst ins Joch gespannt werden und Sklavendienste tun, um die Stärke des Menschen zu vervielfachen. Dieser ungeheuerliche Gedanke, so fremd allen andern, ist so alt wie die faustische Kultur. Schon im 10. Jahrhundert treffen wir technische Konstruktionen[68] von einer ganz neuen Art. Schon Roger Bacon und Albertus Magnus haben über Dampfmaschinen, Dampfschiffe und Flugzeuge nachgedacht. Und viele grübelten in ihren Klosterzellen über der Idee des Perpetuum mobile.11

Dieser Gedanke ließ uns nicht wieder los. Das wäre der endgültige Sieg über Gott oder die Natur – deus sive natura – gewesen: Eine kleine selbstgeschaffene Welt, die sich wie die große aus eigener Kraft bewegt und nur dem Finger des Menschen gehorcht. Selbst eine Welt erbauen, selbst Gott sein – das war der faustische Erfindertraum, aus dem von da an alle Entwürfe von Maschinen hervorgingen, die sich dem unerreichbaren Ziel des Perpetuum mobile so sehr als möglich näherten. Der Begriff der Beute des Raubtieres wird zu Ende gedacht. Nicht dies und das, wie das Feuer, das Prometheus stahl, sondern die Welt selbst wird mit dem Geheimnis ihrer Kraft als Beute davongeschleppt, hinein in den Bau dieser Kultur. Wer nicht selbst von diesem Willen zur Allmacht über die Natur besessen war, mußte das als teuflisch empfinden, und man hat die Maschine stets als die Erfindung des Teufels empfunden und[69] gefürchtet. Mit Roger Bacon beginnt die lange Reihe derjenigen, die als Zauberer und Ketzer zugrunde gingen.

Aber die Geschichte der westeuropäischen Technik schritt vorwärts. Um 1500 beginnt mit Vasco da Gama und Kolumbus eine neue Reihe von Wikingerzügen. Neue Reiche werden in West- und Ostindien geschaffen oder erobert und ein Strom von Menschen nordischen Blutes12 ergießt sich nach Amerika, wo einst die Islandfahrer vergeblich gelandet waren. Und gleichzeitig werden die Wikingerfahrten des Geistes in gewaltigem Maßstabe fortgesetzt. Schießpulver und Buchdruck werden erfunden. Seit Kopernikus und Galilei folgen unzählige technische Verfahren aufeinander, die sämtlich den Sinn hatten, anorganische Kraft aus der Umwelt zu isolieren und an der Stelle von Tieren und Menschen Arbeit leisten zu lassen.

Die Technik ist mit den wachsenden Städten bürgerlich geworden. Der Nachfolger jener gotischen Mönche war der weltlich gelehrte Erfinder, der wissende Priester der Maschine.[70] Mit dem Rationalismus endlich wird der »Glaube an die Technik« fast zur materialistischen Religion: Die Technik ist ewig und unvergänglich wie Gott Vater; sie erlöst die Menschheit wie der Sohn; sie erleuchtet uns wie der Heilige Geist. Und ihr Anbeter ist der Fortschrittsphilister der Neuzeit, von Lamettrie bis Lenin.

In Wirklichkeit hat die Leidenschaft des Erfinders mit ihren Folgen gar nichts zutun. Sie ist sein persönlicher Lebenstrieb, sein persönliches Glück und Leiden. Er will für sich den Triumph über schwierige Probleme genießen, den Reichtum und Ruhm, den ihm der Erfolg einbringt. Ob seine Erfindung nützlich oder verhängnisvoll ist, schaffend oder zerstörend, das ficht ihn nicht an, selbst wenn irgendein Mensch imstande wäre, das von Anfang an zu wissen. Aber die Wirkung einer »technischen Errungenschaft der Menschheit« sieht niemand voraus, abgesehen davon, daß »die Menschheit« nie etwas erfunden hat. Chemische Erfindungen wie die Synthese des Indigo und in kurzer Zeit wahrscheinlich die des künstlichen Gummi zerstören die Lebensbedingungen ganzer Länder, die elektrische Kraftübertragung und die Erschließung der Wasserkräfte haben die alten Kohlengebiete Europas samt ihrer Bevölkerung[71] entwertet. Haben solche Überlegungen je einen Erfinder dahin gebracht, sein Werk zu vernichten? Dann kennt man die Raubtiernatur des Menschen schlecht. Alle großen Erfindungen und Unternehmungen stammen aus der Freude starker Menschen am Sieg. Sie sind Ausdruck der Persönlichkeit und nicht des Nützlichkeitsdenkens der Massen, die nur zusehen, aber die Folgen hinnehmen müssen, wie sie auch sind.

Und diese Folgen sind ungeheuerlich. Die kleine Schar der geborenen Führer, der Unternehmer und Erfinder, zwingt die Natur, eine Arbeit zu leisten, die nach Millionen und Milliarden von – Pferdekräften bemessen wird und der gegenüber das Quantum menschlicher Körperkraft nichts mehr bedeutet. Man versteht die Geheimnisse der Natur so wenig als je, aber man kennt die Arbeitshypothese, die nicht »wahr«, sondern nur zweckmäßig ist, mit deren Hilfe man sie zwingt, dem menschlichen Befehl, dem leisesten Druck auf einen Knopf oder Hebel zu gehorchen. Das Tempo der Erfindungen wächst ins Phantastische, und trotzdem, es muß immer wieder gesagt werden, es wird dabei nichts von menschlicher Arbeit gespart. Die Zahl der notwendigen Hände wächst mit der Zahl der Maschinen, weil der technische Luxus[72] jede andere Art von Luxus steigert13 und weil das künstliche Leben immer künstlicher wird.

Seit der Erfindung der Maschine, der listigsten aller Waffen gegen die Natur, die überhaupt möglich ist, haben Unternehmer und Erfinder die Zahl der Hände, deren sie bedürfen, im wesentlichen auf deren Herstellung verwendet. Die Arbeit der Maschine wird von der anorganischen Kraft geleistet, der Spannkraft von Dampf oder Gas, der Elektrizität und der Wärme, die aus oder durch Kohle, Erdöl und Wasser befreit werden. Aber damit ist die seelische Spannung zwischen Führern und Geführten gefährlich gewachsen. Man versteht einander nicht mehr. Die frühesten »Unternehmungen« der vorchristlichen Jahrtausende forderten die verstehende Mitarbeit aller, die wußten und fühlten, um was es ging. Es war eine Art Kameradschaft dabei, wie heute auf der Treibjagd und beim Sport. Schon bei den großen Bauten im frühen Ägypten und Babylonien kann das nicht mehr der Fall gewesen sein. Der einzelne Arbeiter begriff weder das Ziel noch den Zweck des ganzen Verfahrens. Sie waren ihm auch gleichgültig,[73] vielleicht verhaßt. »Arbeit« war ein Fluch, wie es die Paradieserzählung am Anfang der Bibel darstellt. Jetzt aber, seit dem 18. Jahrhundert, arbeiten die zahllosen »Hände« an Dingen, von deren tatsächlicher Rolle im Leben, auch im eigenen, sie gar nichts mehr wissen und an deren Gelingen sie gar keinen inneren Anteil nehmen. Eine seelische Verödung greift um sich, eine trostlose Gleichförmigkeit ohne Höhen und Tiefen, die Erbitterung weckt – gegen das Leben der Begabten, die schöpferisch geboren sind. Man will es nicht sehen, man versteht es nicht mehr, daß Führerarbeit die härtere Arbeit ist, daß das eigene Leben von ihrem Gelingen abhängt. Man fühlt nur, daß diese Arbeit glücklich macht, daß sie die Seele beschwingt und bereichert, und darum haßt man sie.

6

K. Th. Strasser, Wikinger und Normannen (1928).

7

Z. folg. Unterg. d. Abendl. Bd. I Kap. VI.

8

Ebenda Bd. II Kap. III § 19.

9

Ebenda Bd. II Kap. V § 6.

10

Ebenda Bd. I Kap. VI § 12.

11

Unterg. d. Abendl. Bd. II Kap. V: Die Maschine. – Epistola de Magnete des Petrus Peregrinus von 1269.

12

Denn auch was aus Spanien, Portugal und Frankreich hinüberwandert, sind sicherlich zum größten Teil Nachkommen der Eroberer aus der Völkerwanderung gewesen. Was zurückblieb, war der Menschenschlag, der schon Kelten, Römer und Sarazenen überdauert hatte.

13

Man vergleiche das Leben von Arbeitern um 1700 und 1900 und die Lebenshaltung städtischer Arbeiter überhaupt mit der von Bauern.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. München 1931, S. 65-74.
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