Das Doppelantlitz Russlands und die deutschen Ostprobleme

Vortrag, gehalten am 14. Februar 1922 auf der Rheinisch-westfälischen Wirtschaftstagung in Essen

[108] Angesichts der verzweifelten Lage Deutschlands, das wehrlos und von den Freunden seiner Feinde regiert von Westen her den unverminderten Krieg mit wirtschaftlichen und diplomatischen Mitteln zu ertragen hat, steigen die großen Probleme des Ostens, die politischen und die wirtschaftlichen, zu ganz entscheidender Bedeutung auf. Will man auf dieser Seite die wirkliche, sehr verwickelte Lage durchschauen, so genügt es nicht, die gegenwärtigen Verhältnisse des weiten Gebietes, die russische Innenpolitik und wirtschaftliche Gestaltung dieser Tage, die geographischen und militärischen Bedingungen zu kennen, unter denen Sowjetrußland lebt. Man muß die weltgeschichtliche Tatsache des Russentums überhaupt, seine Lage und Entwicklung zwischen den großen, alten Kulturen – dem Abendland, China, Indien und dem Islam – und im Lauf der Jahrhunderte, sein Volkstum, seine Seele verstehen. Politisches und wirtschaftliches Leben ist Leben überhaupt und ist noch in den scheinbar nüchternsten Fragen des Tages Ausdruck, Form, Teil dieses Lebens.

Man kann diese Dinge mit »russischen« Augen zu betrachten versuchen, wie es unsere kommunistischen und demokratischen Schriftsteller und Parteileute tun, das heißt von sozialen Ideologien des Abendlandes aus. Das ist aber nicht russisch, auch wenn es heute noch so viele Stadtmenschen in Rußland gibt, die es selbst dafür halten. Oder mit westeuropäischen, indem man das russische Volk wie jedes andere Volk »Europas« beurteilt. Aber das ist ebenso falsch. In Wirklichkeit ist der echte Russe uns seelisch sehr fremd, so fremd wie der Inder und Chinese, bei dem man ebenfalls niemals bis auf den Grund der Seele schaut. »Rußland und Europa«, wie die Russen sehr richtig unterscheiden, das »Mütterchen« Rußland gegen das »Vaterland« westlicher Völker, sind zwei Welten, die einander sehr fernstehen. Der Russe begreift diese Fremdheit. Er kommt, wenn er nicht gemischten Blutes ist, nie über eine scheue Abneigung oder naive Bewunderung[109] gegenüber dem Deutschen, Franzosen und Engländer hinaus. Der Tartare und Türke ist ihm in seinen Lebensäußerungen verständlicher und näher. Wir lassen uns durch den geographischen Begriff »Europa« verführen, der erst aus dem gedruckten Kartenbild seit 1500 entstanden ist, aber das wirkliche Europa hört an der Weichsel auf. Die Tätigkeit der deutschen Ritterorden im baltischen Gebiet war Kolonisation in einem fremden Erdteil und ist von ihren Teilnehmern nie anders aufgefaßt worden.

Wollen wir uns dieses fremdartige Volkstum verständlich machen, so müssen wir auf unsere eigene Vergangenheit zurückblicken. Die russische Geschichte von 900 bis 1900 entspricht nicht der abendländischen in diesen Jahrhunderten, sondern derjenigen von der Römerzeit bis auf Karl den Großen und die Staufenkaiser. Unsre Heldendichtung von Arminius bis zum Hildebrand-, Roland- und Nibelungenlied wiederholt sich in den russischen Bylinen, Volksgesängen, die mit den Recken am Hofe des Fürsten Wladimir († 1015), mit Igors Heerfahrt und Ilja von Murom beginnen und über Iwan den Schrecklichen, Peter den Großen und den Brand von Moskau bis in die Gegenwart fruchtbar und lebendig geblieben sind.1 Aber es spricht ein sehr verschiedenes Urgefühl aus diesen beiden Welten ursprünglichster Dichtung. Das russische Leben hat einen anderen Sinn. Die unendliche Ebene schuf ein weicheres Volkstum, demütig und schwermütig, auch seelisch in der flachen Weite aufgehend, ohne eigentlich persönlichen Willen, zur Unterwerfung geneigt. Das ist die Voraussetzung der großen Politik von Dschingiskhan bis Lenin. Die Russen sind außerdem Halbnomaden, auch heute noch. Es wird selbst dem Regiment der Sowjets nicht gelingen, das Schweifen der Fabrikarbeiter von einer Fabrik zur anderen, ohne Not, nur aus der Sehnsucht des Wanderns heraus, zu verhindern.2 Deshalb ist der durchgebildete Facharbeiter in[110] Rußland so selten.3 Auch dem Bauern ist die Heimat nicht das Dorf, die Landschaft seiner Geburt, sondern die weite russische Ebene. Selbst der Mir, der sogenannte Agrarkommunismus, der nichts Altertümliches, sondern aus der Verwaltungstechnik der Steuererhebung zaristischer Regierungen hervorgegangen ist, hat die Bauern nicht wie die germanischen seelisch an die Scholle zu binden vermocht. Sie strömten zu vielen Tausenden in die neuerschlossenen Gebiete der südrussischen Steppe, Kaukasiens und Turkestans, um ihrem Gefühl, ihrem Suchen nach den Grenzen des Unendlichen genug zu tun. Diesem Zug entspricht die unaufhörliche Ausdehnung des Reiches bis an die natürlichen Grenzen des Meeres und hoher Gebirge. Im 16. Jahrhundert wird Sibirien bis zum Baikalsee, im 17. bis zum Stillen Ozean besetzt und besiedelt.

Noch tiefer aber liegt ein dunkler mystischer Zug nach Byzanz, nach Jerusalem, der sich in Formen des orthodoxen Christentums und zahlreicher Sekten kleidet und so eine Macht auch innerhalb der großen Politik gewesen ist, in welchem aber eine ungeborene neue Religion eines noch unmündigen Volkstums schlummert. Das alles hat nichts vom Westen, denn auch Polen und Balkanslawen sind »Asiaten«. Und auch wirtschaftlich lebte dies Volk in eigenen, gänzlich »uneuropäischen« Formen. Die Kaufmannsfamilie der Stroganow, die unter Iwan Grosny4 auf eigne Rechnung die Eroberung Sibiriens begann und dem Zaren eigene Regimenter zur Verfügung stellte, hat nichts mit großen Geschäftsleuten desselben Jahrhunderts im Westen zu tun. So hätte das weite Land mit seinem schweifenden Volkstum noch Jahrhunderte dauern und auf seine Zukunft warten können, einstweilen als Objekt[111] abendländischer Kolonialbestrebungen, wenn nicht ein Mann von ungeheurer weltpolitischer Bedeutung aufgetreten wäre, Peter der Große.

Eine Wandlung im Schicksal eines ganzen Volkes, wie er sie vollzog, ist in der gesamten Geschichte vielleicht kein zweites Mal mit solchen Folgen nachzuweisen. Sein Wille nimmt Rußland aus den asiatischen Zusammenhängen heraus und macht es zu einem Staate westlichen Stils innerhalb der westlichen Staatenwelt. Er will Rußland, bis dahin ein Binnenland, ans Meer führen, zuerst vergeblich an das Asowsche, dann mit dauerndem Erfolg an die Ostsee. Daß die Küste des Stillen Ozeans bereits erreicht ist, bleibt in seinen Augen ohne jede Bedeutung. Die baltische Küste ist ihm die Brücke nach »Europa«. Dort gründet er Petersburg, mit seinem deutschen Namen ein Symbol. Statt der altrussischen Märkte und Residenzen wie Kijew, Moskau und Nischnij-Nowgorod werden der russischen Landschaft westeuropäische Städte eingepflanzt. Die Verwaltung, die Gesetzgebung, der Staat werden nach fremden Mustern aufgebaut. Aus den Bojarengeschlechtern altrussischer Häuptlinge wird ein Feudaladel wie in England und Frankreich geschaffen. Es soll eine Gesellschaft über dem ländlichen Volk entstehen, nach Kleidung, Sitte, Sprache und Denken. In der Tat bildet sich bald in den Städten eine Oberschicht mit leichtem westlichen Firnis. Man spielt Gelehrsamkeit wie die Deutschen und hat esprit und Manieren wie die Franzosen. Der gesamte Rationalismus Westeuropas dringt ein, kaum begriffen, unverdaut, verhängnisvoll, und schon Katharina II., eine Deutsche, sieht sich genötigt, Schriftsteller vom Schlage Nowikows und Radistschews ins Gefängnis und die Verbannung zu schicken, weil sie die Ideen der Aufklärung bereits am Russentum und seinen politischen und religiösen Formen erproben wollten.5[112]

Und ebenso wird die Wirtschaft anders. Neben die uralte russische Flußschiffahrt tritt ein Seehandel nach fernen Häfen. Über die kaufmännischen Gewohnheiten etwa der Stroganow mit ihrem Karawanenhandel nach China hin und der Messe von Nischnij-Nowgorod lagert sich westeuropäisches »Denken in Geld« mit Banken und Börsen.6 Neben dem alten Handwerk und dem Bergbau im Ural, der ganz nach urzeitlicher Art betrieben wurde, erscheinen Fabriken, Maschinen, zuletzt Eisenbahnen und Dampfschiffe.

Vor allem aber entstand eine Politik westlichen Stils, die sich auf ein Heer stützte, das nicht mehr aus den Bedingungen des Kampfes gegen Tartaren, Türken und Kirgisen heraus gebildet war, sondern für den Kampf gegen westliche Heere auf westlichem Boden, und das allein durch sein Dasein die Petersburger Diplomatie immer wieder verführte, politische Probleme allein im Westen zu sehen.

Trotz aller Schwächen einer künstlichen Schöpfung aus widerstrebendem Stoffe war der Petrinismus in den 200 Jahren seines Bestehens etwas Gewaltiges. Was er aufgebaut hatte, wird man erst aus einer fernen Zukunft zurückblickend würdigen und an dem Trümmerhaufen, den er hinterließ, abschätzen können. Er hat »Europa« scheinbar wenigstens bis zum Ural ausgedehnt und zu einer Einheit der Kultur gemacht. Ein Reich, das bis zur Behringstraße und zum Hindukusch reichte, war »europäischer« Gesittung in dem Grade unterworfen, daß der Unterschied von Städten etwa in Irland und Portugal und in Turkestan oder im Kaukasus um 1900 nicht mehr ins Gewicht fiel. Man reiste in Sibirien sicherer und bequemer als in manchem Lande Westeuropas. Die sibirische Bahn war der letzte Triumph, das letzte Symbol petrinischen Wollens vor dem Zusammenbruch.

Aber diese gewaltige Außenseite deckte das Verhängnis im Innern zu. Der Petrinismus war und blieb ein Fremdkörper im Russentum. Es gab in Wirklichkeit nicht ein Rußland, sondern zwei, das scheinbare und das wahre, das offizielle und das unterirdische. Und das fremde Element[113] trug das Gift herein, an welchem der gewaltige Körper krankte und starb. Es war der dem echt russischen Denken unzugängliche und unverständliche Geist des westlichen Rationalismus im 18. und des Materialismus im 19. Jahrhundert, der als russischer Nihilismus sein fratzenhaftes und gefährliches Dasein unter der »Intelligenz« der Städte führte. Es entstand ein Typus des intelligenten Russen, der wie der Reformtürke, Reformchinese und Reforminder seelisch und geistig durch Westeuropa bis zum Zynismus verflacht, entleert, verdorben ist. Mit Voltaire fing es an und führte über Proudhon und Marx zu Spencer und Häckel. Gerade die Oberklasse der Zeit Tolstois spielte sich damit auf, blasiert, geistreich sein wollend, glaubenslos, traditionsfeindlich und diese Weltanschauung drang hinab bis zur Hefe der großen Städte, den Literaten, Volksagitatoren und Studenten, die »ins Volk gingen« und dort einen Haß gegen die Oberschicht westlichen Stils entwickelten: Das Resultat war der doktrinäre Bolschewismus.

Zunächst war es aber ausschließlich die russische Außenpolitik, die im Westen bemerkt und zwar fühlbar bemerkt wurde. Das ursprüngliche russische Volkstum wurde nicht gesehen und jedenfalls nicht verstanden. Es war eine harmlose ethnographische Kuriosität, die man gelegentlich auf Maskenbällen und in Operetten nachahmte. Rußland war für uns eine Großmacht im westlichen Sinne, die das Spiel der großen Politik tatkräftig, zuweilen führend mitspielte.

Hier aber gingen zwei Strömungen, einander fremd und feindlich, durcheinander: die uralte, instinktive, unklare, unbewußte, unterirdische, die in der Seele jedes Russen vorhanden ist, mag sein Bewußtsein noch so westlich durchgebildet sein – der mystische Zug nach dem Süden, nach Konstantinopel und Jerusalem, eine echte Kreuzzugstimmung, wie sie unseren gotischen Vorfahren im Blute lag und die uns heute kaum nachfühlbar ist. Und darüber legte sich die offizielle Außenpolitik der Diplomatie einer Großmacht: Petersburg gegen Moskau! Es liegt das Bedürfnis darin, eine Rolle in der großen Welt zu spielen, in »Europa« als gleichstehend[114] anerkannt und behandelt zu sein. Daher die überhöfliche Form, die ausgezeichneten Manieren, der untadelige Geschmack, was alles in Paris seit Napoleon III. schon im Niedergang war. Den feinsten Ton westeuropäischer Gesellschaft lernte man in einigen Petersburger Kreisen kennen. Dabei liebte diese Art von Russen keines der westeuropäischen Völker. Man bewunderte, schätzte, bespöttelte und verachtete sie, je nachdem, aber man behandelte sie praktisch nur im Hinblick auf den Vorteil oder Nachteil, den Rußland davon hatte. Darauf beruht die Achtung in den Befreiungskriegen vor Preußen, das man gern einstecken wollte, und in den Jahren vor dem Weltkrieg vor Frankreich, über dessen seniles Revanchegeschrei man lachte. Für die intelligente und ehrgeizige Oberschicht aber war Rußland der künftige Herr Europas, geistig und politisch. Schon Napoleon hat das gefühlt. Das russische Heer war an der Westgrenze aufgestellt, in westlichen Ausmaßen und durchaus für westliches Gelände und westliche Gegner ausgebildet. Die Niederlage gegen Japan 1905 geht zum Teil auch auf den Mangel an Schulung für jeden anderen Kriegsschauplatz zurück. Dieser Politik diente das System der Botschafterposten in den großen Hauptstädten des Westens, welche die Sowjetregierung durch die Agitationszentren kommunistischer Parteien ersetzt hat. Die große Katharina nahm Polen weg und beseitigte damit die letzte Schranke zwischen Ost und West. Den Gipfel erreichte diese Politik mit dem symbolischen Einzug Alexanders I., des »Retters von Europa«, in Paris. Auf dem Wiener Kongreß war Rußland zu Zeiten entscheidend, ebenso in der Heiligen Allianz, die Metternich als das Bollwerk der Tradition gegenüber der westlichen Revolution ins Leben rief und die noch 1849 Nikolaus I. veranlaßte im habsburgischen Staate im Interesse von dessen Regierung Ordnung zu schaffen. So wurde durch die erfolgreiche Tradition der Petersburger Diplomatie Rußland immer tiefer in die große Politik Westeuropas verwickelt. Es nahm an allen Intrigen und Kombinationen teil, die dem Russentum nicht nur fern lagen, sondern völlig unverständlich waren. Das Heer an der Westgrenze wurde[115] zahlenmäßig zum stärksten der Welt gemacht, ohne inneren Grund, denn Rußland war das einzige Land, das seit Napoleon niemand anzugreifen beabsichtigte, während Deutschland von Frankreich und Rußland, Italien von Frankreich und Österreich, Österreich von Frankreich und Rußland bedroht waren. Man suchte ein Bündnis mit ihm, um die russische Armee auf seiner Seite als Gewicht in die Wagschale legen zu können und reizte so den Ehrgeiz der russischen Gesellschaft zu immer größeren Anstrengungen für nicht russische Interessen. Wir alle sind aufgewachsen unter dem Eindruck, daß Rußland eine europäische Großmacht und das Land jenseits der Wolga Kolonialgebiet sei. Der Schwerpunkt des Reiches lag unbedingt westlich von Moskau, nicht im Wolgagebiet. Aber der gebildete Russe dachte selbst so. Er empfand die Niederlage im fernen Osten von 1905 nur als belangloses Kolonialabenteuer, während er die kleinste Niederlage an der Westgrenze als Schande – vor den Augen des Westens – empfand. Im Süden und Norden wurde eine Flotte gebaut, die für die Küstenverteidigung ganz überflüssig lediglich dazu bestimmt war, in der großen Politik des Westens eine Rolle zu spielen.

Aber schon die Türkenkriege zur »Befreiung« der christlichen Balkanvölker berührten die russische Seele tiefer. Rußland als Erbe der Türkei – das war ein mystischer Gedanke. Darüber gab es keine diplomatischen Meinungsverschiedenheiten. Das war der Wille Gottes. Nur die Türkenkriege sind wirklich volkstümlich gewesen. Alexander I. fürchtete 1807 nicht ohne Grund den Meuchelmord durch eine Offiziersverschwörung. Das gesamte Offizierskorps wollte den Krieg gegen die Türkei statt gegen Napoleon. Das führte zum Bündnis Alexanders mit Napoleon in Tilsit, das bis 1812 die Weltpolitik beherrscht hat. Es ist bezeichnend, wie Dostojewski im Unterschied von Tolstoi durch den Krieg von 1877 in Ekstase geriet. Er lebte auf, er schrieb unaufhörlich seine metaphysischen Visionen nieder und predigte die religiöse Sendung des Russentums gegen Byzanz. Dem letzten Teil der »Anna Karenina« aber wurde vom »Russischen Boten« der Abdruck[116] verweigert, weil man Tolstois Skepsis der Öffentlichkeit nicht zu bieten wagte.

Wie schon gesagt, hatte auch der gebildete, ungläubige, westlich denkende Russe den allgemeinen mystischen Zug nach Jerusalem in sich: Das »dritte Rom« des Mönches von Kijew, welches dem Jerusalem der Apostel nach dem Rom der Päpste und dem Wittenberg Luthers die Erfüllung der Botschaft Christi durch das heilige Rußland bringen sollte. Dieser kaum bewußte nationale Instinkt aller Russen lehnt sich gegen jede Macht auf, welche den Weg über Byzanz nach Jerusalem politisch zu verlegen drohte. Während überall sonst die nationale Eitelkeit – im Westen – oder Gleichgültigkeit – im fernen Osten – verletzt oder nur berührt wurde, wurde hier die mystische Seele des Volkes getroffen und tief erregt. Daher die großen Erfolge der slawophilen Bewegung, die im Grunde weder Polen noch Tschechen, sondern nur die Slawen des christlichen Balkan, die Nachbarn von Konstantinopel, zu gewinnen versuchte. Schon früher war der heilige Krieg gegen Napoleon und der Brand von Moskau eine Sache des Volkstums, nicht eigentlich wegen der Verletzung und Plünderung russischen Gebietes, sondern wegen der Pläne Napoleons, der durch die Wegnahme der illyrischen Provinzen (des heutigen Jugoslawien) 1809 das Adriatische Meer beherrschte und dadurch seinen Einfluß auf die Türkei entscheidend verstärkte – gegen Rußland–, um durch seine Verbindung mit ihr und Persien von hier oder von Moskau aus den Weg nach Indien zu bahnen. Der Haß gegen Napoleon übertrug sich dann auf die habsburgische Monarchie, als deren Absichten auf türkisches Gebiet – seit Metternich auf die Donaumündungen, seit 1878 auf Saloniki – die russische Tendenz in Gefahr brachten. Er erstreckte sich seit dem Krimkrieg auf England, als es durch Sperrung der Meerengen und die spätere Besetzung von Ägypten und Zypern ebenfalls das türkische Erbe in Anspruch zu nehmen schien.

Und endlich wurde Deutschland das Objekt dieses tiefen, durch praktische Erwägungen nicht zu beeinflussenden Hasses, als es seit 1878 aus einem Verbündeten mehr und mehr der[117] Schützer und Erhalter des verfallenden habsburgischen Staates und damit leider, trotz Bismarcks Warnung, auch seiner Pläne auf dem Balkan wurde, und noch zuletzt den Gedanken des Grafen Witte, des letzten deutschfreundlichen Diplomaten, zwischen Österreich und Rußland zu wählen, nicht verstand. Aber es hätte Rußland wieder als aufrichtigen Verbündeten gewinnen können, sobald es die enge Bindung an Österreich preisgab. Noch 1911 wäre eine Neuorientierung der gesamten deutschen Politik vielleicht möglich gewesen.

Dieser Haß gegen Deutschland beginnt seit dem Berliner Kongreß sich über die gesamte russische Gesellschaft zu verbreiten, seit Bismarck dort im Interesse des Weltfriedens und der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der »europäischen« Großmächte die Diplomatie Rußlands in Schranken zu halten verstand. Es war von Deutschland aus gesehen damals wahrscheinlich richtig, und jedenfalls ein Meisterstück Bismarckscher Staatskunst; in den Augen von Petersburg aber war es ein Fehler: es nahm der russischen Seele die Hoffnung auf das türkische Erbe zugunsten Englands und Österreichs. Diese Seele gehörte zu den Imponderabilien, die diplomatischen Erwägungen unzugänglich sind. Die Feindschaft wuchs und ergriff alle Schichten der russischen Städte. Sie wurde vorübergehend abgelenkt, als Rußland durch die ganz plötzlich auftretende japanische Macht, welche die gesamte Weltpolitik in ein weiteres System brachte, gezwungen wurde, den fernen Osten als Gefahrzone zu sehen und zu erleben. Aber das war bald vergessen, vor allem infolge der grotesken Ungeschicklichkeit der deutschen Politik, die nichts begriff, weder Lagen noch Möglichkeiten, bis der unsinnige Gedanke Berlin-Bagdad auftauchte und Deutschland also diesen, für seine Politik wie Wirtschaft gleich wertlosen Weg über Konstantinopel selbst beherrschen zu wollen schien.

Ganz ebenso lagen im Wirtschaftsleben Rußlands zwei Strömungen übereinander, von denen die obere angreifend und durchdringend wirkte, während die andere sich im eigentlichen Sinne des Wortes leidend verhielt. Das war das altrussische Bauerntum mit seiner frühzeitlichen[118] »Landwirtschaft«,7 wozu der altrussische Kaufmann mit seinen Messen, Frachten, Wolgaschiffen gehörte, und ebenso das russische Handwerk und der urwüchsige Bergbau im Ural, der sich ganz unabhängig von westlichen Methoden und Erfahrungen aus den uralten Verfahren vorchristlicher »Schmiedevölker« entwickelt hat. Denn hier ist das Schmieden des Eisens im 2. Jahrtausend v. Chr. erfunden worden, wovon noch die Griechen eine dunkle Ahnung hatten. Darüber aber breitete sich immer mächtiger die zivilisierte Welt westlicher Großstadtwirtschaft8 mit ihren Banken, Börsen, Fabriken und Bahnen aus: Geldwirtschaft gegen Güterwirtschaft, die einander reiben, hassen oder verachten, angreifen und zu vernichten suchen. Aber der petrinische Staat brauchte die Geldwirtschaft, um seine große Politik westlichen Stils zu bezahlen, sein Heer, seine Verwaltung mit ihrer primitiven Korruption, einer öffentlichen Sitte, die seelisch zur Güterwirtschaft gehört und dem Wesen nach etwas ganz anderes ist als die geheime Korruption etwa der westeuropäischen Parlamentarier. Der Staat schützte und stärkte das westlich-kapitalistisch gerichtete Wirtschaftsdenken, das vom Russentum weder geschaffen noch verstanden, sondern eingeführt und ertragen wurde – mit seiner doktrinären Umkehrung, der kommunistischen Wirtschaftslehre, die davon untrennbar ist, dem marxistischen Kapitalismus der Unterklasse, der in den petrinischen Städten als unklares Evangelium von Studenten und Agitatoren der dumpfen Masse gepredigt wurde.

Aber nicht diese doktrinäre, literarische Strömung im Untergrund der großen Städte war das für die Zukunft Entscheidende, das eigentlich Aufpeitschende, sondern die tiefe, instinktiv religiöse Abneigung gegen westliche Wirtschaftsformen überhaupt. Man empfand das »Geld« und alle von ihm beherrschten Wirtschaftsformen, kapitalistische und sozialistische, als sündhaft und satanisch, ein echtes Gefühl, das im Abendland in den gotischen Jahrhunderten sich gegen die wirtschaftliche Praxis der arabisch-jüdischen Welt auflehnte[119] und zum Verbot des Zinsnehmens für den Christen führte. Seit Jahrhunderten ist das im Westen eine leere Phrase der Kanzeln und Betsäle geworden, während es in Rußland gerade jetzt ein seelisches Problem wurde. Das hat zahlreiche Russen aus »Angst vor dem Mehrwert« zum Selbstmord getrieben, weil sie aus ihrem primitiven Fühlen und Denken heraus sich keine Art von Erwerb vorstellen konnten, durch die nicht andere »Mitmenschen« »ausgebeutet« wurden. Dieses russische Denken erblickte in der Welt des Kapitalismus einen Feind, ein Gift, die große Sünde, die es dem petrinischen Staate zuschrieb, ungeachtet der tiefen Verehrung für das Väterchen Zar.

So tief und vielfältig sind die Wurzeln, aus denen die russische Weltanschauung des intellektuellen Nihilismus etwa seit dem Krimkrieg und als dessen letzte Frucht der Bolschewismus entstand, der 1917 das petrinische System zerstörte, und an dessen Stelle er etwas setzte, das im Westen völlig unmöglich wäre. Es steckt darin der Haß der strenggläubigen Slawophilen gegen Petersburg und seinen Geist,9 der Haß der Bauern gegen den Mir, den Dorfkommunismus, der dem allgemein bäuerlichen, aus der Tatsache der in Generationen dauernden Familie folgenden Eigentumsinstinkt widersprach, der Haß aller gegen den Kapitalismus, gegen die gesamte Industriewirtschaft, die Maschinen, die Bahnen, gegen den Staat und das Heer, die diese zynische Welt gegen den Ausbruch russischer Instinkte schützten, ein ganz urzeitlicher, religiöser Haß gegen unverstandene, als gottlos empfundene Mächte, die man nicht umformen sondern vernichten will, damit das eigene Leben seinen alten Gang wieder annehme.

Die Bauern verachteten die »Intelligenz« und ihre Agitation ebenso wie das, wogegen sie agitierten, aber einstweilen hat diese Agitation einen kleinen Schwarm schlauer und großenteils minderwertiger Menschen zur Herrschaft geführt. Auch die Schöpfung Lenins ist westlich, ist Petersburg, ist der großen[120] Mehrzahl der Russen fremd, feindlich und verhaßt, und sie wird in irgendeiner Weise eines Tages vergehen. Sie ist eine Auflehnung gegen den Westen aus westlichem Denken heraus. Sie versucht deshalb die Wirtschaftsformen der industriellen Arbeit und der kapitalistischen Spekulation ebenso zu erhalten wie den autoritären Staat, nur daß sie an Stelle der zaristischen Regierung und der privatkapitalistischen Wirtschaftsformen die Regierung einer Gruppe und den Staatskapitalismus setzt, der sich der Doktrin wegen Kommunismus nennt.

Es ist ein neuer Sieg von Petersburg über Moskau und ohne Zweifel der letzte, die endgültige Selbstzerstörung des Petrinismus von unten her. Das eigentliche Opfer ist gerade das Element, das sich durch den Umsturz zu befreien hoffte: der echte Russe, der Bauer und Handwerker, der Gläubige. Westliche Revolutionen, die englische und französische, wollen etwas Gewachsenes durch Theorien verbessern und es gelingt ihnen deshalb nie. Hier aber wurde eine ganze Welt ohne Widerstand in nichts aufgelöst. Nur das Künstliche der Schöpfung Peters des Großen gibt die Erklärung dafür, daß eine kleine Gruppe von Revolutionären, fast ohne Ausnahme Dummköpfe und Feiglinge, eine solche Wirkung hatte: es war ein schöner Schein, der plötzlich zerstob.

Der Bolschewismus der ersten Jahre hat also einen doppelten Sinn. Er vernichtet ein künstliches, volksfremdes Gebilde, von dem er selbst als ein zugehöriger Rest einstweilen zurückbleibt. Darüber hinaus aber macht er die Bahn für eine neue Kultur frei, die irgendwann einmal zwischen »Europa« und Ostasien erwachen wird. Er ist mehr ein Anfang als ein Ende. Vorübergehend, oberflächlich, fremd ist er nur, soweit er die Selbstvernichtung der petrinischen Schöpfung, der groteske Versuch ist, diesen gesellschaftlichen Oberbau nach den Theorien von Karl Marx planmäßig in seinen Gegensinn zu verkehren. In der Tiefe liegt das russische Bauerntum, das am Erfolg der Revolution von 1917 ohne Zweifel einen stärkeren Anteil hatte, als von dem intellektuellen Gesindel zugegeben wird, das gläubige Bauerntum, das, ohne es heute schon deutlich zu wissen, der Todfeind des Bolschewismus und von ihm unterdrückt[121] wird schlimmer als von den Mongolen und den alten Zaren, und trotzdem, gerade dadurch zum Bewußtsein seines ganz anders gerichteten Willens gelangen wird. Es ist das Volkstum der Zukunft, das sich nicht ersticken und verfälschen läßt, das ohne Zweifel und wenn auch noch so langsam, den Bolschewismus in seiner heutigen Form ablösen, verwandeln, beherrschen oder vernichten wird. Wie das geschieht, kann heute niemand wissen. Es hängt unter anderm vom Auftreten oder Ausbleiben entscheidender Männer ab, die wie Dschingiskhan, Iwan IV., Peter der Große und Lenin das Schicksal in ihre eiserne Hand nehmen. Auch hier steht Dostojewski gegen Tolstoi: Er ist die Zukunft gegen das Heute. Dostojewski wurde als Reaktionär verschrieen, weil er in seinen »Dämonen« die nihilistischen Probleme schon gar nicht mehr sah. Dergleichen war für ihn nur ein Teil des petrinischen Systems. Aber Tolstoi, der Mann der guten Gesellschaft, lebte in diesem Element; er repräsentierte es auch noch durch seine Auflehnung, einen Protest in westlicher Form gegen den Westen. Tolstoi, nicht Marx, ist der eigentliche Führer zum Bolschewismus. Dostojewski ist sein künftiger Überwinder.

Ohne Zweifel: hier ist ein neues Volkstum im Werden, das durch ein furchtbares Schicksal in seiner seelischen Existenz erschüttert und bedroht, zu seelischem Widerstand gezwungen sich festigen und aufblühen wird, leidenschaftlich religiös, wie wir Westeuropäer es seit Jahrhunderten nicht mehr sind und sein können, mit einer gewaltigen Ausdehnungskraft, sobald dieser religiöse Drang sich auf ein Ziel richtet. Ein solches Volkstum zählt die Opfer nicht, die für eine Idee sterben, wie wir es tun, da es jung, stark und fruchtbar ist. Die tiefe Verehrung, die in den letzten Jahrhunderten die »heiligen Bauern« genossen, welche die Regierung meist nach Sibirien verbannte oder sonst verschwinden ließ, Gestalten wie der Priester Johann von Kronstadt, selbst Rasputin, aber auch Iwan und Peter der Große, wird sich einen Typus neuer Führer wecken, Führer zu Kreuzzügen und märchenhaften Eroberungen. Die Welt rings umher ist müde genug, zerrissen, religiös sehnsüchtig ohne religiös fruchtbar zu sein, um unter Umständen[122] plötzlich ein anderes Gesicht zu erhalten. Vielleicht wird der Bolschewismus selbst sich unter neuen Führern in diesem Sinne wandeln, wahrscheinlich ist es nicht. Denn diese herrschende Horde – eine Gemeinschaft wie einst die Mongolen der Goldenen Horde – blickt stets nach Westen, mit dem Blick Peters des Großen, der ebenfalls die Heimat seiner Gedanken zum Ziel seiner Politik nahm. Aber das schweigende Russentum der Tiefe hat bereits den Westen vergessen und blickt längst nach Vorder- und Ostasien hin, ein Volk der großen binnenländischen Ebenen, nicht der Meere.

Das Interesse an westlichen Fragen wird nur durch die herrschende Schicht aufrechterhalten, welche die kommunistischen Parteien in den einzelnen Ländern organisiert und unterstützt, wie ich glaube ohne jede Aussicht auf Erfolg. Es ist die bloße Folge der marxistischen Lehre, kein Unternehmen praktischer Staatskunst. Nur durch schwere politische Fehler in der Außenpolitik, zum Beispiel derjenigen Deutschlands, könnte der Blick Rußlands wieder – verhängnisvoll für beide Teile – auf den Westen gelenkt werden, etwa durch einen »Kreuzzug« der Westmächte gegen den Bolschewismus, selbstverständlich im Dienste des französisch-englischen Finanzkapitals. Der stille Zug Rußlands geht nach Jerusalem und nach Innerasien, und »der« Feind wird immer derjenige sein, der diese Wege versperrt. Daß England die baltischen Staaten gegründet und unter seinen Einfluß gestellt hat, daß Rußland die Ostsee verlor, wirkt nicht tief. Petersburg ist preisgegeben, eine Stadtruine aus der Zeit des Petrinismus. Das alte Moskau ist wieder der Mittelpunkt des Landes. Aber die Zerstörung der Türkei und ihre Aufteilung in Einflußgebiete Frankreichs und Englands, die Begründung der Kleinen Entente durch Frankreich, welche von Rumänien her den Süden abschließt und bedroht, die französischen Versuche, durch Wiederaufbau des habsburgischen Staates in irgendeiner Form unter französischer Führung die Donaulinie und das Schwarze Meer zu beherrschen, macht England und vor allem Frankreich zu Erben des russischen Hasses. Es ist die Wiederbelebung napoleonischer Tendenzen, und die Beresina[123] ist vielleicht nicht das letzte Ereignis von großer Symbolik nach dieser Richtung hin gewesen. Byzanz ist und bleibt das heilige Tor künftiger russischer Politik, wie auf der anderen Seite Innerasien nicht mehr erobertes Land ist, sondern ein Teil der heiligen Erde russischen Volkstums.

Die deutsche Politik diesem sich rasch wandelnden, werdenden, wachsenden Rußland gegenüber beansprucht die ganze taktische Geschicklichkeit eines großen Staatsmannes und Kenners gerade dieser Seite, den ich heute nicht sehe. Daß wir die Feinde Rußlands nicht sind, ist selbstverständlich, aber wessen Freund sollen wir sein – der des Rußland von heute oder morgen? Ist beides möglich, oder schließt eins das andre aus? Wird aus unvorsichtigen Verbindungen nicht eine neue Feindschaft wachsen?

Und ebenso dunkel und schwierig sind unsere wirtschaftlichen Beziehungen, die tatsächlichen und die in Zukunft möglichen. Politik und Wirtschaft sind zwei sehr verschiedene Gebiete des Lebens, nach Denken, Methode, Ziel und seelischer Bedeutung völlig anders gestaltet, was im Zeitalter des praktischen Materialismus nicht anerkannt und trotzdem in verhängnisvollem Grade richtig ist. Die Wirtschaft ist Objekt der Politik, unbedingt das zweite, nicht das erste Element der Geschichte. Die Tendenzen des augenblicklichen und des künftigen russischen Wirtschaftslebens, das nur auf der Oberfläche vom Staatskapitalismus und in der Tiefe von beinahe religiösen Auffassungen beherrscht wird und von der großen Politik streng zu unterscheiden ist, sind schwer zu durchschauen und noch viel schwerer vom Ausland her richtig zu behandeln. Das Rußland der letzten Zaren war äußerlich und scheinbar ein Wirtschaftsgebilde von durchaus westeuropäischer Art, und das bolschewistische möchte es sein, möchte in seinem kommunistischen Stil sogar ein Vorbild des Westens sein. Tatsächlich ist es vom Standpunkt der westlichen Wirtschaft aus betrachtet ein ungeheures Kolonialgebiet, in welchem der Russe des Landes und der kleinen Städte im wesentlichen bäuerlich und handwerklich arbeitet. Die Industrie und der von ihr aus gestaltete Warenverkehr durch das Eisenbahnnetz[124] und der Warenabsatz durch den Großhandel ist und bleibt ihm innerlich fremd. Der wirtschaftliche Organisator, der Fabrikleiter, der Ingenieur und Erfinder sind keine »russischen« Typen. Der echte Russe wird dem Fremden erlauben, was er sich selbst verbietet, wozu er innerlich gar nicht fähig ist – als Volk nämlich, so gut der einzelne sich den Formen der modernen Weltwirtschaft anzupassen versucht. Ein in die Tiefe gehender Vergleich mit der Zeit der Kreuzzüge wird deutlich machen, was ich meine.10 Auch damals waren die jungen Völker des Nordens wirtschaftlich stadtfremd, nur landwirtschaftlich lebend – auch in den kleinen Städten; Burgflecken und Residenzen, die wirtschaftlich nur Märkte waren. Die Juden und Araber waren um ein Jahrtausend »älter« und saßen deshalb in ihren Ghettos als Kenner einer großstädtischen Geldwirtschaft. Ganz dieselbe Stellung hat der Westeuropäer im heutigen Rußland.

Die Maschinenindustrie ist ihrem Geiste nach unrussisch und wird vom Russen in alle Zukunft hin als fremd, als sündhaft, als teuflisch empfunden werden. Er erträgt sie, er kann sie als Mittel zu größeren Zwecken sogar schätzen, wie der Japaner, denn man treibt den Teufel aus durch Beelzebub, aber er geht seelisch nicht in ihr auf, wie die germanischen Nationen, die sie aus ihrem dynamischen Weltgefühl heraus als Zeichen und Mittel ihres kämpfenden Daseins geschaffen haben. Diese Industrie wird im wesentlichen stets in der Hand oder unter der Leitung von Fremden sein – aber der Russe wird sehr empfindlich zu unterscheiden wissen, ob zu seinem oder zu fremdem Nutzen.

Was das »Geld« betrifft, so sind die Städte für die Russen Märkte für den ländlichen Güterverkehr, für uns seit dem 18. Jahrhundert Mittelpunkte für die Dynamik des Geldes. Das wirtschaftliche »Denken in Geld« wird dem Russen noch auf lange Zeit hinaus unmöglich sein, und insofern ist, wie ich gesagt habe, Rußland vom Standpunkt der ausländischen Wirtschaft eine Kolonie. Deutschland wird aus seiner Nachbarschaft Vorteile ziehen können, vor allem unter dem Eindruck,[125] daß beide Mächte den gleichen Gegner haben, die Hochfinanz der Ententestaaten.

Die deutsche Wirtschaft wird alle diese Möglichkeiten aber nicht erschließen können ohne Deckung durch eine überlegene Politik. Ohne diese Deckung wird sich nur ein Raubbau an Möglichkeiten entwickeln, welcher der Zukunft ein schlimmes Erbe hinterläßt. Frankreichs Politik ist ohne Zweifel, schon seit Jahrhunderten und durch den sadistischen Volkscharakter bestimmt, kurzsichtig und rein zerstörend. Eine deutsche Politik aber, die ernsthaft in Betracht käme, ist überhaupt nicht vorhanden.

Es ist deshalb die erste Aufgabe der deutschen Wirtschaftsführung, die deutsche Innenpolitik in Ordnung bringen zu helfen, um damit die Voraussetzung für eine ihre Aufgaben erkennende und ihnen genügende Außenpolitik zu schaffen. Diese Aufgabe ist in ihrer ungeheuren Bedeutung gerade für die Wirtschaft bis jetzt nicht erkannt worden. Es handelt sich nicht nach dem landläufigen Vorurteil um Einordnung der Politik in die augenblicklichen Interessen einzelner Gruppen, wie es mit Hilfe der minderwertigsten Politik, die es gibt, der Parteipolitik, bisher geschehen ist. Es handelt sich nicht um Vorteile für ein paar Jahre. Die Großlandwirtschaft vor dem Kriege, die Großindustrie nach dem Kriege haben mit vollständigem Mißerfolg versucht, die Staatspolitik zur Erzielung kleiner augenbliklicher Vorteile sich unterzuordnen. Aber die Zeit der kleinen Taktik ist vor über. Es handelt sich in den nächsten Jahrzehnten um Probleme von welthistorischen Dimensionen. Und hier ist stets die Wirtschaft vom Niveau der großen Politik abhängig, nicht umgekehrt. Die Wirtschaftsführer müssen rein politisch denken lernen, nicht »wirtschaftspolitisch«. Voraussetzung für eine große wirtschaftliche Arbeit im Osten ist also Ordnung in der eignen Politik.

1

Unt. d. Abdl. II, S. 230 ff.

2

Vgl. viele Erzählungen von Ljeßkow und vor allem von Gorki.

3

Außer vielleicht in den früheren Arteis, Arbeitergruppen unter selbstgewählten Führern, die sich zu bestimmten Arbeiten in Fabriken und auf Gütern verdingten. Gute Schilderung eines Artel in Ljeßkows »Versiegeltem Engel«.

4

Grosny heißt der Furchtbare, Gerechte, Ehrfurchteinflößende, in einem anerkennenden Sinne, nicht der »Schreckliche« mit westeuropäischem Unterton. Iwan IV. war eine Schöpfernatur wie Peter der Große, einer der bedeutendsten Herrscher aller Zeiten.

5

»Jehova, Jupiter, Brahma, Gott Abrahams, Gott des Moses, Gott des Konfuzius, Gott des Zoroaster, Gott des Sokrates, Gott des Mark Aurel, Gott der Christen, du bist überall der Gleiche, Ewige!« (Radistschew).

6

Unt. d. Abdl. II, S. 599, 617.

7

Über »Landwirtschaft« und »Stadtwirtschaft« vgl. Unt. d. Abdl. II, S. 597 ff.

8

Über »Landwirtschaft« und »Stadtwirtschaft« vgl. Unt. d. Abdl. II, S. 597 ff.

9

»Die erste Bedingung der Befreiung des russischen Volksgefühls ist, von ganzem Herzen und aus voller Seele Petersburg zu hassen« (Aksakow an Dostojewski). Vgl. Unt. d. Abdl. II, S. 231 ff.

10

Unt. d. Abdl. II, Kap. V: Die Formenwelt des Wirtschaftslebens.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 105-126.
Lizenz:
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