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[128] Deutschland befindet sich augenblicklich in einem Zustand trügerischer Ruhe. Es ist dem kaufmännischen Geschick eines Einzelnen gelungen, den entsetzlichen Verfall unserer Wirtschaft, insoweit er mit dem Verfall unserer Währung zusammenhängt, wider alles Erwarten zu bannen – äußerlich –, aber das allein hat genügt, um in weitesten Kreisen die Meinung zu erwecken, daß die Lage unseres Volkes sich wirklich gebessert habe. Wir sind so verelendet, so arm geworden, und wir sind durch den Zusammenbruch unserer Macht und Hoffnungen und durch das, was seit fünf Jahren an ihre Stelle getreten ist, so um jeden Maßstab für Größe und Würde gekommen, daß schon die Tatsache, daß das alltägliche kleine Wirtschaftsleben des Einzelnen anfängt sich in ruhigeren Formen abzuspielen, vollkommen ausreicht, um in Millionen das Gefühl zu wecken, es sei nun wieder alles in Ordnung.
Auf der andern Seite erleben wir ein Schauspiel, das noch niederdrückender ist. Wir haben verlernt und vergessen, was wir gestern noch als Volk inmitten der Weltvölker gewesen sind. Wir sind nicht nur elend, wir sind auch ehrlos geworden. Das Mannesrecht, das jedem Zwergvolk zugestanden wird, sich mit der Waffe in der Hand zu schützen, ist uns genommen worden. Wir gehören nicht mehr in die Reihe der selbständigen Nationen. Wir sind das bloße Objekt des Willens, des Hasses und der Beutelust anderer geworden. Während rings in der Welt die Heere und Flotten für neue Entscheidungen gerüstet werden, bezahlen wir mit deutschem Geld auf deutschem Boden ein französisches Heer – das ist unser Antimilitarismus. Und wie viele unter uns gibt es, die das mit brennender Scham empfinden? Für Unzählige ist es ein Zustand, mit dem man sich abfinden muß und kann, um in seinem Schatten ein kleines Winkelglück aufzubauen, und das gelingt auch. Wir besitzen seit fünf Jahren ein System des Regierens, mit dem sich trotz des Elends und der Schande vortrefflich leben läßt – wenn man dazu gehört. Es gibt[129] Tausende, die sich in Partei- und Staatsstellen, durch Diäten und gute Beziehungen davon nähren, und Tausende, welche die Lage für ihre Privatgeschäfte durchaus nicht so finden, daß sie eine Änderung wünschen sollten.
Die deutsche Jugend teilt diese Ansichten nicht. Es ist unter den tröstlichen Zügen der Gegenwart vielleicht der trostreichste, daß dieses Sichabfinden mit einem schmachvollen Schicksal in keiner Schicht des Volkes so wenig Zustimmung findet wie unter der Jugend unserer gebildeten Stände, trotz des namenlosen Elends, in dem sie großenteils lebt, und darin liegt für mich die Hoffnung begründet, daß die Deutschen, das jüngste und unverbrauchteste unter den Völkern Europas, durch die heranwachsende Generation einst wieder in die Lage versetzt werden wird, eine geschichtliche Rolle zu spielen, die seiner inneren Kraft, seiner trotz allem ungebrochenen Gesundheit und seinen schöpferischen Eigenschaften angemessen ist.
Wenn sich aber diese Sendung, die ihr nach meiner innersten Überzeugung vorbehalten ist, eines Tages erfüllen soll, dann muß die Jugend sich darüber klar sein, wie unendlich hart, lang und entsagungsvoll der Weg ist, wie wenig leicht man sich diese Aufgabe machen darf, und was alles man wissen und können muß, um für ein armes und waffenlos gewordenes Land den Aufstieg zu einer größeren Zukunft zu finden. Es ist Ihre heilige Pflicht, meine Herren, sich dafür nicht nur zu begeistern, sondern zu erziehen. Das bloße Wollen führt zu nichts. Politik ist eine schwere und schwer zu erlernende Kunst.
Wer die für unser Vaterland notwendigen Ziele und Mittel erkennen will, bedarf zuerst eines sicheren Blickes auf die in ungeheuren Spannungen liegende Welt. Der Krieg hat eine Erleichterung der Weltlage nicht herbeigeführt. Er hat die großen Fragen verschoben, umgestaltet, aber nicht gelöst. Und das Schicksal Deutschlands ist bei seiner geographischen Ungunst, seiner militärischen Ohnmacht und völligen Vereinsamung in dem Grade von der äußeren Entwicklung abhängig, daß jede Beschränkung des Blicks auf[130] innere Zustände und Ideale mit einem Mißerfolg gleichbedeutend ist.
Der Weltkrieg bildet im großen geschichtlichen Werden und Vergehen einen ebenso tiefen Einschnitt wie zuletzt die Zeit Napoleons. Diese hat die politisch-militärischen Formen des 19. Jahrhunderts ebenso bestimmt, wie der spanische Erbfolgekrieg die des 18. und der Weltkrieg die des 20. Man muß das wissen, um sich darüber klar zu sein, wie unendlich viel von dem, was vor 1914 selbstverständlich war, heute unmöglich geworden ist. Versuchen Sie sich vorzustellen, wie die Welt damals aussah, als der Sturm auf die Bastille erfolgte, und dann, als nach der Schlacht von Waterloo der Wiener Kongreß die Neuordnung Europas für ein Jahrhundert unternahm. Das Staatensystem des 18. Jahrhunderts kämpfte mit sehr kleinen besoldeten Berufsheeren. 10–20000 Mann bedeuteten bereits eine Macht. Die Kabinette entschlossen sich infolgedessen leicht, diese Truppenmengen einzusetzen. Die Kämpfe waren nach Raum und Aufwand der Mittel so geringfügig, daß mit Ausnahme der unmittelbar verwüsteten Landstriche in den größeren Ländern sich eigentlich niemand um einen Krieg kümmerte, der an irgendeiner Grenze geführt wurde. Die Verluste politischer und wirtschaftlicher Art waren selbst nach Jahren und im Fall einer Niederlage wenig bedeutend – der 7jährige Krieg war für Preußen eine große Ausnahme – und die Friedensschlüsse durch die Konvenienz der Zeit auch im härtesten Fall so milde, daß jede Regierung es auch bei weniger wichtigen Streitfragen bald vorzog, die Entscheidung der Waffen anzurufen. Die Söldnerheere hatten mit der übrigen Bevölkerung einen geringen persönlichen und seelischen Zusammenhang, so daß auch die Menschenverluste auf die Stimmung dieser Völker wenig wirkten. Die »Völker« haben die Kriege dieser Zeit überhaupt nicht geführt. Selbst die Schlacht bei Roßbach weckte zwar weithin die deutsche Nationalgesinnung, aber sie wurde nicht durch ein Volk gewonnen.
Dann kommt die Zeit der Revolution und Napoleons: Aus den Berufsheeren werden Volksheere, welche die gesamte[131] Jugend einer Nation umfassen; aus den Tausenden werden Hunderttausende, und gegen Ende der napoleonischen Zeit stehen Massenheere auf dem Boden Europas, deren Ziffern zwanzig Jahre vorher als Wahnsinn erschienen wären. Und nun vollzieht sich seit Waterloo etwas sehr Merkwürdiges. Als die Diplomatie alten Stils die Landkarte Europas neu gezeichnet hatte, wurden diese Heere nicht nach Hause geschickt; sie blieben als Formationen stehen und der Begriff des stehenden Heeres ist es, der für ein volles Jahrhundert die politische Lage und ihre Formen in der gesamten Welt beherrscht hat.
Heere, in die in sehr rascher Reihenfolge jeder waffenfähige Jüngling eintreten mußte, Heere, die also durch tausendfache Verwandtschaft mit der Bevölkerung verknüpft blieben, ihr Teuerstes, ihr Stolz und ihre Sorge waren, standen von Spanien bis Rußland in der Gesamtstärke von Hunderttausenden, zuletzt von Millionen marschbereit, ohne eigne Meinung, ein furchtbares, blindes, sich stets verschärfendes Werkzeug in der Hand der Regierungen, so daß die verantwortliche Diplomatie sich immer seltener und immer schwerer entschloß, aus dem Stadium der Verhandlungen in das der Ungewissen blutigen Entscheidung überzugehen. Wenn man vor 1848 in einem gewissen Falle noch zu einer Kriegserklärung schritt, so überwog seitdem die Neigung, durch einen Kongreß oder Monarchenbesuch die Entscheidung eher zu umgehen als zu suchen. Und da es wirkliche Lösungen auf diesem Wege selten und in schweren Fällen gar nicht gab, so erlebten wir seit dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges (1865) und der Schlacht von Sedan das Schauspiel, daß alle großen Konflikte, welche der unerbittliche Gang der Geschichte heraufbeschwor, vertagt und beiseitegeschoben wurden. Denn inzwischen hatten sich die Heere durch technische Erfindungen, die Verwendung der Eisenbahn, der Telegraphie, durch Ausrüstung und Beweglichkeit in weiten Räumen so verändert, daß niemand mehr den Gang des »Krieges der Zukunft« sicher übersah, jede Berechnung fragwürdig, die Verantwortung damit aber so ungeheuer wurde, daß ein diplomatischer Stil[132] entstand, den man wohl als Stil der Angst vor letzten Entscheidungen bezeichnen kann.1
Aber damit, daß diese Massenheere nun wirklich im Weltkrieg bis an die äußerste Grenze ihrer Leistungsfähigkeit erprobt und teilweise verbraucht worden sind, hat sich in den Formen des politischen Geschehens eine tiefe Wandlung vollzogen, und wir stehen heute vor der Tatsache, daß die Lage des vorigen Jahrhunderts mit der Zukunft in keiner Weise vergleichbar erscheint. Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß die Erscheinung der stehenden Heere uns widerruflich der Vergangenheit angehört. Es ist ganz gleichgültig, ob auf dem Papier der eine oder andre oder auch alle Staaten Europas stehende Heere besitzen, ob die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft ist oder nicht. Tatsache ist, daß heute schon überall hinter der äußeren Form stehender Heere alter Art, in- oder außerhalb der Formationen, sich etwas Neues herausbildet. Es sind das Verbände von Männern, die aus Begeisterung für eine Sache bereit sind, ihr Leben einzusetzen, Gemeinschaften aus Überzeugung, zusammengeschmiedet nicht durch die Dienstpflicht, sondern durch eine Idee. Das war auch im 19. Jahrhundert möglich und wir haben es 1870 und vor allem 1914 erlebt, aber es gehört nicht zum Begriff des damaligen Heeres. Jetzt nähern wir uns der Zeit, wo überall in Europa nicht mehr mit einer allgemeinen Mobilmachung der wehrfähigen Bevölkerung gerechnet werden darf, auch in Frankreich nicht, sondern mit einem Appell an diejenigen, die freiwillig für eine Sache einzutreten bereit sind. Überall bilden sich in und hinter den stehenden Truppen Ausschüsse, Kreise, Bünde wie die Action française und die Fascisten, welche dies als ihre eigentliche Aufgabe betrachten, und damit werden auf dem Boden Europas wieder kleine Heere erscheinen, Heere, bei denen nun aber die eigene Überzeugung oder die Verehrung für einen Führer ausschlaggebend ist. Zum Wesen der stehenden Heere gehörte, daß politische Meinungen innerhalb des Dienstes keine[133] Rolle spielten; zum Wesen dieser künftigen Kampfeinheiten gehört, daß diese Meinung über den Verband selbst hinausgreift und auf die Politik des ganzen Landes Einfluß gewinnt. Ein Blick auf Italien, Frankreich, Rußland und andre Länder beweist, wie weit diese Entwicklung schon vorgeschritten ist. Aber deshalb werden wir künftig mit einer ganz andern Form der Beziehungen zwischen Staaten zu rechnen haben, mit einer ganz andern und viel leichteren, unter Umständen die Diplomatie ausschaltenden Art, sich zu einem Waffengang zu entschließen. Das muß man wissen, wenn man über die Zukunft Deutschlands nachdenkt.
Aber die Änderungen gehen weiter. Als der Umfang der stehenden Heere eine Entscheidung auf europäischem Boden selbst immer gefährlicher und undurchsichtiger machte, entwickelte sich ein Ausweg, der unter dem Namen Kolonialpolitik bis heute so gut wie verborgen geblieben ist. Die immer hastigere Besitzergreifung weiter Strecken in fremden Erdteilen erfolgte scheinbar aus wirtschaftlichen Gründen und zunächst hatten diese sicherlich das Übergewicht. Seit der Mitte des Jahrhunderts aber war der Hunger nach Kolonialbesitz nicht mehr allein durch das Bedürfnis an Rohstoffen und Absatzmöglichkeiten bedingt, sondern auch durch die Tatsache, daß neben den stehenden Heeren stehende Flotten in Erscheinung traten. Die Kriegsflotten wurden noch zur Zeit Napoleons aus Holzschiffen mit Segeln gebildet. Sie waren wesentlich an die Küste gebunden und von Wind und Wetter abhängig. Aber seit dem amerikanischen Bürgerkriege (1861–65) wurden sie mit Dampfmaschinen ausgerüstet, gepanzert und mit den schwersten Kalibern versehen: eine ganz neue furchtbare Waffe, die in großen Verhältnissen gar nicht erprobt war und die in der Diplomatie eine weiterhin wachsende Angst erzeugte, das Schicksal eines Landes von ihr abhängig zu machen. Und damit wurde nun die Kolonialpolitik ein vielleicht ganz unbewußtes Mittel, die Entscheidung zur See zu umgehen oder vorwegzunehmen. Ebenso wie ganze Jahrzehnte hindurch der Landkrieg durch das Tempo der Heeresvermehrung und der Erfindung von[134] Kampfmitteln gewissermaßen ersetzt wurde, so daß eine Überflügelung in den Rüstungen einem Siege gleichkam und unter Umständen diplomatische Erfolge erzwang, so wurde der tausendfach im voraus beschriebene »Seekrieg der Zukunft« immer wieder durch das Wettrennen um den Besitz von Kriegsschauplätzen und Stützpunkten für nie gewagte Schlachten ersetzt. England hat das zuerst begriffen. In Wirklichkeit war in Afrika und Asien die expansive Kolonialpolitik zuletzt auf Küsten gerichtet, welche strategische Bedeutung besaßen. Bei der Aufteilung Chinas in Interessensphären (seit 1894) handelte es sich im Grunde nur um Häfen und Flußmündungen, die als Stützpunkte moderner Flotten dienen konnten. Darin lag die ungeheure Bedeutung von Malta, Aden und Singapore. Und es ergab sich zuletzt, daß eine Hochseeflotte einen Krieg im voraus gewonnen hatte, wenn sie alle in Betracht kommenden Küstenplätze sicher in der Hand hielt, die gegnerische Flotte also überhaupt nicht erscheinen konnte. Erinnern Sie sich des Problems, aufweiche Weise die russische Flotte 1905 überhaupt nach Japan gelangen sollte, da ihr die englischen Häfen für die Kohlenübernahme verschlossen blieben. Ein englischer Premierminister hat einmal erklärt, die Grenzen Englands seien überall dort zu Ende, wo die Küsten der andern Länder anfingen. Das war fünfzig Jahre hindurch unbedingt richtig. Aber damit hatte die englische Flotte alle künftigen Seekriege bereits gewonnen, auch den Weltkrieg. Sie konnte später ruhig in den Häfen bleiben. Das System der Stützpunkte siegte für sie. Darin lag nun ein Ausweichen vor der Entscheidung zwischen Massenheeren auf dem Festlande. Und auch darin hat sich heute ein durchgreifender Wandel vollzogen. Das ist in seiner ungeheuren Tragweite noch kaum bemerkt worden, aber es wird die Weltpolitik der nächsten Jahrzehnte vielleicht beherrschen. Die frühere Lage beruhte auf der Tatsache, daß das Festland Afrikas und Asiens und eigentlich auch Südamerika und Australien politisch ganz passiv waren: die Küste wurde von der See, nicht vom Hinterlande aus strategisch in Rechnung gestellt.[135]
Augenblicklich aber vollzieht sich in Afrika eine Wandlung, die man vor kurzem noch für unmöglich gehalten hätte. Als Napoleon die Expedition nach Ägypten unternahm, war er auf den Zufall angewiesen, daß die Flotte ungehindert dorthin gelangte, und nach ihrer Vernichtung war er auf Ägypten beschränkt. Heute geht Frankreich planmäßig daran, den Erdteil Afrika zu militarisieren. Hunderttausende von Negern werden durch Einführung der Dienstpflicht vom Senegal bis Tunis militärisch ausgebildet; ein Netz strategischer Bahnen ist zwischen Algier, dem Sudan und dem Tschadsee im Bau begriffen, so daß heute schon eine Landbrücke besteht, welche die Verschiebung von Heeren von Marokko zur Guineaküste und eines Tages nach Ägypten oder dem Kongo möglich macht. Seit ihrer Verwendung im Weltkrieg sind die Neger sich ihrer Macht und Zusammengehörigkeit bewußt geworden. Ein wachsendes Selbstgefühl erfüllt sie alle von den Senegalesen bis zu den Kaffern, und es wird durch eine von den Negern Amerikas ausgehende Propaganda beständig geschürt. Damit tritt ein ganzer Erdteil in die aktive Politik ein, um so mehr, als der Islam mit ungeheurem Erfolge die Negerbevölkerung nördlich des Äquators bekehrt und nicht nur in ihrer Weltsanschauung, sondern auch politisch aufgeweckt und einem gewaltigen unsichtbaren System angegliedert hat, das von Bagdad nach China und von Mekka bis zum Atlantischen Ozean reicht. Ob diese neuen Mächte in einem kritischen Augenblick auf englischer, französischer oder andrer Seite stehen werden, ist eine dunkle Frage, von der unendlich vieles abhängt. Tatsache ist jedenfalls, daß südlich von Europa ein weites Gebiet aus seinem Schlaf geweckt und in die Weltpolitik einbezogen worden ist, so daß europäische Kämpfe unter Umständen dahinter zurücktreten können.
Ganz dasselbe gilt von Asien.2 Im Osten war das 19. Jahrhundert beherrscht durch die Tatsache, daß Rußland von Polen bis zum Amur nach seiner und unserer Meinung ein europäischer Staat war. Heute haben wir das Gefühl, daß[136] jenseits der Weichsel eine ungeheure Menschenmasse sich in einer seelischen Erregung befindet, von welcher niemand weiß, welche Wirkungen sie plötzlich auslösen kann. Ich will ein einziges Beispiel anführen. Um 1920 tauchte in Mittelasien ein Baron von Unger-Sternberg als Freischarenführer auf, dem es in kurzer Zeit gelang, eine Truppe von angeblich 150000 Mann zusammenzubringen, die ihm persönlich unbedingt ergeben, die ausgezeichnet geschult und bewaffnet war und von ihm jedem beliebigen Ziel hätte entgegengeführt werden können. Dieser Mann ist nach kurzer Zeit von den Bolschewisten ermordet worden. Wäre das nicht gelungen, so läßt sich nicht absehen, welche Ereignisse sich heute in Asien abspielen würden und welche Gestalt die Landkarte der Welt heute schon angenommen haben könnte. Es besteht kein Zweifel, daß eine sozusagen nationalasiatische Armee von hunderttausend Mann, die in Turkestan steht, das Schicksal Asiens unbedingt in der Hand hat. Ob sie sich gegen Indien, China oder Persien wendet, sie wird bei jedem Schritt vorwärts Tausende von Anhängern finden, und es gibt in diesem ganzen Erdteil keine Macht, die einem begeisterten Ansturm solcher Art ernsthaften Widerstand leisten würde. Aber damit hat sich das Kampffeld, das noch während des Weltkrieges sich auf den Boden Europas bis zum Westrande Rußlands beschränkte, über den ganzen Landblock der alten Welt ausgedehnt. Diese Landmasse kann in überraschend kurzer Zeit in Ereignisse verwickelt werden, für welche das vorige Jahrhundert kein Beispiel bietet.
Und daraus ergibt sich vielleicht eine alles umwälzende Änderung für die Sicherheit der englischen Weltmacht. Wenn das 19. Jahrhundert trotz der stehenden Massenheere und gerade wegen ihrer die eigentliche Glanzzeit der seebeherrschenden Staaten war und die Flotte allein über den Besitz afrikanischer und asiatischer Länder entschied, so ist heute die Tatsache strategischer Überlandlinien in Entwicklung begriffen. Die englische Machtstellung beruhte darauf, daß der Weg von England nach seinen Besitzungen im indischen Ozean[137] und der Südsee ausschließlich ein Seeweg war. Im Augenblick, wo die große Landmasse aus ihrem politischen Schlummer erwacht, gibt es auch noch Landwege. Eine Flotte aber, die das Land besetzt findet, ist unwirksam geworden. Eine Seemacht, welche durch Küstenpunkte keine Wirkung mehr auf das Hinterland ausüben kann, hat aufgehört eine Macht zu sein. Es liegt im Bereich der nächsten Möglichkeiten, daß das ganze Problem der Seebeherrschung dadurch grundlegend verändert wird, daß neue Machtlinien, die über riesenhafte Landflächen hinweglaufen, eine ganz neue Art von Kontinentalsperre3 ermöglichen. Es ist also auch möglich, daß die geographische Lage Deutschlands, bisher ein Verhängnis für unser Volk, eine völlig veränderte politische Bedeutung erhält, und daß die außenpolitischen Kombinationen der Zeit nach Bismarck durch überraschend neue Gesichtspunkte abgelöst werden.
Dieser politischen Wendung entspricht nun eine wirtschaftliche von gleicher Tragweite, welche auch den wirtschaftlichen Stil des 19. Jahrhunderts ebenso verwandelt hat, wie die napoleonische Zeit den des 18. Wir sind heute noch vorwiegend der Meinung, daß »der Marxismus« der eigentliche Gegner der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung sei. Das ist seit wenigen Jahren ein veraltetes Bild. Der Gang der wirtschaftlichen Entwicklung zeigt einen überraschenden Zug, sobald man sich von den Vorstellungen der durch und durch materialistischen Nationalökonomie des vorigen Jahrhunderts frei macht und die Tatsachen der letzten zweihundert Jahre auf ihre tiefere Bedeutung hin unbefangen prüft.4 Es ist falsch, nach der Behauptung von Marx und andern die wichtigste Epoche der modernen Wirtschaft in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu suchen. Der wirkliche Einschnitt liegt vielmehr genau wie auf militärisch-politischem Gebiet inmitten der Epoche Napoleons. Setzen Sie den Fall, daß jemand zur Zeit Friedrichs des Großen in einem Flugzeug irgendein Land Europas überquert hätte: er[138] würde unter sich ein Gewimmel von Menschen und eine Menge wirtschaftlich arbeitender Dinge erblickt haben, Landgüter, Fabriken und gewerbliche Betriebe. Es wäre sehr einfach festzustellen gewesen, welche Menschen als Besitzer zu den einzelnen Dingen gehörten. Wer heute dieselbe Gegend überflöge, würde mit seinem Auge kaum eine wesentliche Veränderung finden: ebenfalls Menschen und ebenfalls arbeitende Dinge. Und trotzdem hat sich eine umstürzende Wandlung vollzogen. Man kann heute von einem ganzen Nationalvermögen vielleicht noch sagen, daß es ein Besitz der Nation ist; aber welches Besitzverhältnis zwischen einzelnen Menschen und einzelnen Dingen besteht, sieht niemand mehr. Das völlig neue, das viel tiefer geht als alles, was Marx jemals beobachtet hat, ist die geistige Ablösung des Besitzes vom Gegenstand. Seit der französischen Revolution beginnt zwischen Menschen und Dinge das Wertpapier in der Gestalt von Aktien, Anteilen, Pfandbriefen und Banknoten einzudringen. Die Eigentumsbeziehung wird unsichtbar, und im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich etwas herausgebildet, das früher überhaupt nicht bekannt war, die Erscheinung der beweglichen, vom Ort und den Dingen unabhängigen, in Gegenständen nur »angelegten«, und zwar mit der Möglichkeit jederzeitigen Wechsels angelegten, nur durch die Höhe, nicht die Art bestimmten Vermögen. Heute wie ehemals kann eine Fabrik im Lande liegen und arbeiten, und trotzdem weiß niemand, wem sie gehört, denn die Eigenschaft des Besitzes ist in der Gestalt von einigen Tausenden Papierstücken abgelöst und haftet an diesen, die im Laufe weniger Stunden aus einer Hand in die andre, aus einem Lande in das andre wandern können, und die seit Einführung des elektrischen Nachrichtendienstes auch noch unter mündlicher Ablösung der Besitzeigenschaft von der sichtbaren Werturkunde die erstere in einigen Minuten in fremde Erdteile zu verlegen gestatten, so daß sie nun unsichtbar und ungreifbar über die ganze Erde hin wechseln kann, während die Fabrik unabhängig davon und ahnungslos fortarbeitet. Daraus hat sich eine Tatsache entwickelt, welche heute auf der[139] Höhe steht und nicht nur die wirtschaftliche, sondern längst auch die politische Lage völlig beherrscht. Wir haben in Deutschland wie in allen wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern heute schon mehr bewegliches als unbewegliches Vermögen. Von dem Nationalbesitz, soweit er uns geblieben ist, befindet sich zweifellos weit mehr als die Hälfte in der Hand von Menschen, welche die Gegenstände, zu denen sie augenblicklich im Besitzverhältnis stehen, weder bearbeiten noch überhaupt kennen, sondern die sie in Gestalt von Papieren oder gar Verabredungen nur »haben«, um durch geschäftliche Veränderung dieses Habens ganz unabhängig von der an den Gegenstand gebundenen produktiven Arbeit Vorteile zu erzielen. Nationalgut, soweit es in Dingen innerhalb der Grenzen liegt, und Nationalgut, soweit es die Summe der Volksangehörigen besitzt, »hat«, sind also zwei ganz verschiedene Größen geworden. Die erste ist in England kleiner, in Deutschland größer als die zweite. Wieviel von der deutschen Industrie Deutschland gehört, weiß niemand. Das ändert sich von einem Börsentage zum andern. Es ist demnach nicht mehr so, wie Marx es darstellt, und zwar aus dem Bedürfnis heraus, eine theoretische Unterlage für den Klassenkampf zu erhalten, daß zwischen Arbeitgebern und Arbeitern ein natürlicher Gegensatz bestehe; er besteht heute viel mehr zwischen den Menschen, die sichtbar produktive Arbeit leisten, ob als Führer oder Geführte, als Unternehmer, Techniker oder Werkleute, und der viel kleineren wechselnden Zahl von Unbekannten, die weder dies noch jenes sind, die aber das Werk haben, für die also gearbeitet wird, obwohl sie von der Art dieser Arbeit gar nichts wissen. Diese Ablösung des Besitzes vom Werk untergräbt und vergiftet die eigentlich produktive, am Heimatboden, an Äckern, Bergwerken, Betriebsstätten haftende Arbeit der heutigen Nationen. Solange zu jedem Werk jemand gehört, der als Eigentümer dafür sorgt, läßt sich von nationaler Arbeit sprechen. Aber ein bewegliches Vermögen, das durch ein Telegramm in einem Augenblick von Berlin nach New York verlegt werden kann, ist nicht mehr national. Es hat sich vom Boden gelöst, es[140] schwebt in der Luft, es ist eine unfaßbare Größe. Und wenn die Entwicklung in dieser Richtung bis ans Ende schreitet, so daß in den großen Wirtschaftsgebieten auch die letzten Teile der Nationalvermögen von den Dingen gelöst werden, dann ist eine Form der Wirtschaft erreicht, welche das Mark auch des stärksten Volkes rasch aufzehrt. Heute schon arbeitet der überwiegende Teil der Deutschen, Engländer und Amerikaner, vom Unternehmer bis zum Gelegenheitsarbeiter, für Menschen, die er nicht kennt und die einander unbemerkt ablösen. Auch der Erfinder und Unternehmer setzt seine Lebensarbeit für Unbekannte ein, und so vermag eine kleine Zahl von Menschen über die Erde hin mit den einzelnen Nationalvermögen und damit dem Schicksal der Nationen selbst zu spielen.
Die beweglichen Vermögen, welche hinter den Banken, Konzernen und Einzelwerken stehen, haben in einem Umfange, von welchem die Öffentlichkeit nichts ahnt, die politischen Einrichtungen, Parteien, Regierungen, die Presse, die öffentliche Meinung unter ihren Einfluß gebracht. In allen Ländern mit entwickelter Industrie, Plantagenwirtschaft oder ausgedehntem Handel diktieren sie beinahe die Gesetze, die sich irgendwie auf Gewinne und Abgaben beziehen. Sie haben unter dem Schlagwort: »Belastung der starken Schultern« eine Steuerpolitik volkstümlich gemacht, die infolge ihrer Methoden die unbeweglichen, also sichtbaren und greifbaren Vermögen zugunsten der beweglichen, nicht erfaßbaren belastet; sie drängen die Wirtschaftsgesetzgebung unvermerkt in eine Richtung, die immer größere Teile des festen Nationalgutes von den sichtbaren Dingen löst und als internationales Vermögen in Fluß bringt, sei es auch nur in der Form von Krediten, um sich dann auf Kosten der am Orte haftenden Arbeit den Lasten und Pflichten zu entziehen. Es könnte eines Tages so weit kommen, daß das ganze Volk arbeitet, ohne zu wissen, für wen und wofür.
Dieser Gegensatz von Haben im bürgerlichen und im Börsensinne greift viel tiefer als der volkstümliche von Kapitalist und Proletarier, um die Schlagworte der vorigen Generation[141] zu gebrauchen. Deutschland besitzt wie andere Länder eine hochgezüchtete Schicht, die seit Generationen durch Erziehung, Stellung, geistige und Lebenskultur sich etwas angeeignet hat, das sich materiell auf keine Weise umschreiben läßt, einen inneren Rang, eine Höhe und Feinheit geistiger und praktischer Tätigkeit, eine Tradition des Leistens, Begreifens und Wollens, auf welcher der ganze geistige, sittliche, soziale, politische und zuletzt auch wirtschaftliche Halt der Nation beruht. Diese Schicht existiert nur unter der Voraussetzung, daß von dem nationalen Gut und seinem erarbeiteten Ertrage genug in ihren Händen ist, um diese Erziehung und Tradition fortführen und für die Zukunft sicherstellen zu können. Wird diese Schicht von alten Familien in ihrem festen Besitz unterwühlt und zum Zusammenbruch gebracht, dann hat ein modernes Volk das Beste verloren, etwas, das sich überhaupt nicht ersetzen läßt, den natürlichen Schwerpunkt seiner geschichtlichen Bahn, die geborenen Führer des Gesamtdaseins und Bewahrer gewachsener, unerlernbarer, langsam entwickelter Triebe und Eigenschaften. Diese Gefahr ist in England ebenso groß wie in Deutschland. Durch die 1908 von dem damals linksradikalen Lloyd George eingeleitete Steuerpolitik, vor allem die erdrückenden, gegen die unbeweglichen Vermögen gerichteten Tax- und Erbschaftssteuern ist in England heute schon erreicht, daß ein großer Teil der alten Familien, für welche die Beschäftigung mit Politik einer vornehmen Tradition entsprach, durch den Zusammenbruch ihres Besitzes gezwungen wurde, diese Tradition aufzugeben. Aber damit wird dieses Kernland eines stets gefährdeten Weltreiches nicht, wie ein Sozialist sich ausdrücken würde, von seinen Ausbeutern und Junkern befreit, sondern um die Schicht ärmer, deren ererbte Fähigkeiten Jahrhunderte hindurch den Erfolg in der großen Politik verbürgten. Verschwindet sie ganz, so bricht die goldene Zeit der Dilettanten und Stellenjäger an, mit denen sich zwar die Finanzvermögen ausgezeichnet verständigen können, mit denen sich aber kein moderner Großstaat regieren, geschweige denn größeren Zielen entgegenführen läßt. Nicht die bloße[142] Verarmung, die Ausschaltung der geschichtlich führenden Kulturschicht ist die ungeheure Gefahr aller alten Kulturvölker, die brennende Gefahr auch für das Deutschland von heute.
Wer das Schicksal Deutschlands wenden will, hat hier, ohne Utopien und Hirngespinste, mit der genauesten, nüchternen Kenntnis der Wirtschaftszusammenhänge und einer großen Erfahrung in ihnen anzusetzen, um das zu retten, was unser Wohlstand seit 1870, seit wir ein Weltvolk geworden waren, uns aufzubauen gestattete, den eigentlich tragenden Teil des Volkes, der es gewohnt war, fleißig, bescheiden, ehrlich zu arbeiten, der durch sein Organisationstalent, seinen Erfindergeist, sein diszipliniertes Denken und Tun die Voraussetzung für eine Regierung mit großen Forderungen und Zielen gebildet hat.
Als Drittes und Wichtigstes bitte ich Sie, endlich einmal ernsthaft und kühl das ins Auge zu fassen, was man die Kunst des Regierens nennen sollte.5 Der Begriff ist uns und nicht nur uns abhanden gekommen. Wir reden von Volksrecht, Volksvertretung, Volkswillen und haben im Lärm des modernen Parteigeschwätzes völlig vergessen, daß es sich hier nicht um einen Anspruch auf Vorteile, sondern auf Ausübung sehr schwerer und seltener Fähigkeiten handeln darf. Diese Fähigkeiten müssen da sein, angeboren oder in langer Selbstzucht erworben, sonst werden Rechte zu Verbrechen. Daß ein Staat sich in dem beständigen immer härter werdenden Ringen um seine Weltgeltung, um sein Dasein in guter Verfassung befindet, nicht ob er eine Verfassung hat, entscheidet über seine Zukunft. Der Staat des 18. Jahrhunderts wurde wirklich oder scheinbar absolut von Fürsten und ihrer Umgebung regiert, und zwar nach ungeschriebenen Methoden, die sich im Laufe vieler Jahrzehnte zu einer hohen, durchgeistigten Kunst ausgebildet hatten, von der heute noch alles zehrt, was sich Diplomatie nennt. Dem Grundsatz: »Alles für, nichts durch das Volk« stellt dann die Wende von 1789 das Wort von der Souveränität des Volkes entgegen, das sofort und[143] zwar in bezeichnend tragischem Mißverständnis für die ganze Folgezeit durch die Girondisten dahin verdreht wurde, daß die leitenden Stellen den wirklichen oder angeblichen Willen des Volkes nicht etwa auszuführen hätten, sondern daß sie mit dessen Wortführern besetzt würden, gleichviel, ob diese von der politischen Geschäftsführung etwas verstanden oder nicht. An Stelle des von Fürsten berufenen Staatsrates, der auch in den schlechtesten Fällen ein hohes Niveau besaß, traten gewählte Körperschaften; die Freiheit der Fürsten wich der Freiheit der Völker – ein großer Gedanke, der seinen begeisternden Schatten über das ganze folgende Jahrhundert warf. Dieses Jahrhundert war bestimmt, das Ideal zu verwirklichen, und der heutige Parlamentarismus offenbart, wie die Idee vor der Wirklichkeit bestand. Aus Gruppen ehrlicher Schwärmer in amerikanischen Blockhütten, in französischen Salons, an deutschen Biertischen, die für ein Ideal lebten und unter Umständen starben, entwickelten sich Gruppen von Berufspolitikern und Stellenjägern, selbsternannte Volksführer, die nicht dafür, sondern davon leben wollten. Parteien waren zuerst begeisterte Einheiten des Denkens und Wollens. Heute sind sie rings auf der Erde Gewerkschaften von einigen tausend Menschen mit einem Schwarm bezahlter Parteibeamten, welche die Meinung der Völker nicht vertreten, sondern in der Richtung ihrer persönlichen Interessen hervorrufen, lenken und ausnützen. Die Freiheit der Völker, für welche die Väter ihr Blut vergossen, hat sich in eine drückende Abhängigkeit von dem Klüngel, amerikanisch gesprochen dem Kaukus,6 verwandelt. Die fürstliche Willkür, Genußsucht und Torheit, mochte sie gelegentlich noch so schlimm sein, ist durch Schlimmeres ersetzt worden, und ein neuer Bastillesturm wäre längst gegen diese Gemeinschaften losgebrochen, hätten sie nicht alle Voraussetzungen, welche den ersten hervorriefen, die Bearbeitung der öffentlichen Meinung, die volkstümlichen Schlagworte, die Wahlmache rechtzeitig in ihren Besitz gebracht, um die große Masse in einer Stimmung zu erhalten, die ihnen die Fortdauer[144] ihrer Lebensführung und Gewinne sicherte, von den Schlössern und Bestechungsgeldern französischer Abgeordneten bis zu den Autos und Aktienpaketen deutscher Proletarier und den Aufsichtsratsstellen deutscher Spießer in den bürgerlichen Parteien, die immer alles zuerst erfuhren.
Eine wachsende Ernüchterung und tiefe Sehnsucht geht heute durch die Völker der Welt, von diesem Druck selbstsüchtiger und schmutziger Interessen befreit zu sein, von diesen geschlossenen Organisationen, welche die erdrückende Mehrheit trotz des Gaukelspiels allgemeiner Wahlen und einer freien Presse7 – die davon schweigt, wem sie wirklich dient – rücksichtsloser entmündigt haben, als es je ein Fürst im Zeitalter des aufgeklärten Despotismus gewagt hätte, eine Sehnsucht danach, an Stelle dieser Gewerkschaften eine Persönlichkeit zu sehen, die nicht reich werden, sondern regieren will, aus dem Gefühl überlegener Fähigkeiten heraus, die nach dem Worte Friedrichs des Großen endlich wieder begehrt, ein Diener des Staates zu sein, nicht dessen Nutznießer, und nicht der Geschäftsführer einer Partei.
Das ist das Ende der Demokratie, nicht ihr Sturz, sondern ihr unwiderruflicher innerer Zerfall, der es künftig gestattet, ihre Formen um so sorgloser bestehen zu lassen, je weniger sie bedeuten. Vor dem Kriege wäre das nicht verstanden worden; heute dringt es in die Köpfe, wohin man blickt, in Europa wie in Amerika, wo die Farmerbewegung im Grunde dasselbe will wie der italienische Fascismus. Die besten Deutschen und nicht die Deutschen allein, warten darauf, einen Mann erscheinen zu sehen, dem man das Schicksal des Landes in die Hände legen darf, mit der Vollmacht, jeden abzuweisen, der im Interesse einzelner Gruppen diese Macht zu beschneiden sucht. Das 18. Jahrhundert war das der Fürstenfreiheit; das 19. Jahrhundert brachte die Freiheit der Völker – am Anfang als Morgenröte eines Ideals, am Ende, was unerbittlich gesagt werden muß, als Hohn auf dieses Ideal. Das 20. wird an die Stelle dessen, was aus dieser Freiheit geworden ist, die Freiheit der großen Persönlichkeit setzen, die Freiheit, welche[145] Bismarck dem Parlament vergeblich abzuringen suchte, die Rhodes nur in Südafrika fand; an Stelle der Parteien die Gefolgschaft von Einzelnen, an Stelle des Regierens als Recht, das in Schmutz und Torheit versunken ist, das Regieren als Kunst, als Aufgabe, als Sendung.8
Das sind die Bilder, welche die Welt nach dem Kriege denjenigen zeigt, die Tatsachen sehen gelernt haben. Sie liegen heute noch im Nebel veralteter Ordnungen. Morgen werden sie durch die berufenen Träger einer neuartigen Weltpolitik bestätigt sein, Träger, von deren Sein oder Nichtsein unter Umständen das Schicksal ganzer Erdteile abhängt.
Hier stehen wir an der Wende zweier Zeitalter, entwaffnet, entehrt, am Abgrunde, mit einer zerbrochenen Tradition, durch eine schurkische Revolution um alles betrogen, was das Geschick und die Lebensarbeit großer Staatsmänner uns gegeben hatte, unter dem Gelächter derer, die im In- und Auslande von den Früchten dieser Revolution zehren. Was 30 Jahre Bismarckscher Weltpolitik aufgebaut hatten, ist zerstört. Die seit Friedrich Wilhelm I. entwickelte hohe Form unseres Staatslebens ist zerstört. Die Früchte eines hundertjährigen Fleißes der Nation sind zerstört. Wir müssen mehr als je ein anderes Volk wieder von vorn anfangen, und nur die in uns ruhende Kraft und der ungebeugte Wille geben uns die Bürgschaft, daß dies auch geschehen wird. Hier ist die Aufgabe der heranwachsenden Generation: Einen neuen Stil des politischen Wollens und Handelns aus den neu gestellten Bedingungen des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten, neue Formen, Methoden und Ideen ans Licht zu schaffen, die wie die Ideen der französischen Revolution und die Sitten des englischen Unterhauses sich als Vorbilder von einem Lande zum andern fortpflanzen, bis die Geschichte der nächsten Zeit in Formen fortschreitet, deren Ausgangspunkt dereinst in Deutschland gefunden werden wird. Hier tun sich ungeheure Fernblicke auf, und dieser Sendung gewachsen zu sein ist die Forderung, welche an die Jugend, an Sie gestellt wird, die[146] unter den Eindrücken des Weltkrieges und der Revolution zurechtgehämmert worden sind, die danach hungern, in die Zukunft schöpferisch einzugreifen, die Zukunft als Aufgabe, als Ihr Feld zu betrachten. Werden Sie dieser Lage gewachsen sein? Haben Sie begriffen, was alles dazu gehört? Ich verstehe Ihre Sehnsucht, aber kennen Sie die historischen Pflichten, die Ihnen auferlegt sind dadurch, daß Sie heute jung sind, daß Sie Männer werden, gerade wenn die Entscheidung über den Wiederaufstieg Deutschlands fällt?
Gewiß, wir haben manches gelernt, was uns während des ganzen 19. Jahrhunderts unbekannt war. Wir haben eine Art selbständigen, fast amerikanischen Handelns und Entschließens gelernt, die uns vor dem Kriege fremd war, wo jeder auf das wartete, was irgendwo und von irgend jemand gewollt wurde. Wir haben ein gutes Stück Sentimentalität verlernt, den Altweiberidealismus des deutschen Michel, der unter der Knute seiner Feinde ihre guten Eigenschaften herausfand und ihre Gründe vorurteilslos zu verstehen suchte. Jede Stunde unseres deutschen Unterrichts erinnert peinlich daran, wie es mit diesen weltfremden Träumereien zur Zeit der Schlacht von Jena stand. Wir haben spät, aber hoffentlich nicht zu spät ein Stück nationalen Stolzes in uns entdeckt. Die Bedientengesinnung, welche Bebel einst der Mehrzahl der Deutschen zuschrieb – vor Höherstehenden, vor dem Ausland, vor der Gasse, was er hinzuzufügen vergaß –, hat sich in den Parteiklüngel zurückgezogen, dessen seit fünf Jahren betriebener Außenpolitik sich ein geprügelter Hund schämen würde. Und wir haben endlich etwas gelernt, das ich Ihnen offen nennen will: die Fähigkeit zu hassen. Wer nicht zu hassen vermag, ist kein Mann, und die Geschichte wird von Männern gemacht. Ihre Entscheidungen sind hart und grausam, und wer da glaubt, ihnen mit Verstehen und Versöhnen ausweichen zu können, der ist für Politik nicht geschaffen. Er wird, und wenn er die edelsten Gefühle und Ziele hat, sich und sein Vaterland nur ins Verderben stürzen. Daß wir als Deutsche endlich hassen können, ist eins der wenigen Ergebnisse dieser Zeit, die für unsere Zukunft bürgen könnten.[147]
Aber auf der anderen Seite ist kein Land jemals durch ein noch so heißes Fühlen und Wollen gerettet worden, und wenn ich mich frage, ob die deutsche Jugend an politischem Können, an Verständnis für die erreichbaren Ziele und die zu ihrer Erreichung notwendigen Mittel, an praktischem Wissen und praktischem Instinkt ihrer Leidenschaft etwas Ebenbürtiges zur Seite zu stellen hat, so habe ich als Antwort, das scheue ich mich nicht hier auszusprechen, nur ein rückhaltloses Nein.
Nationale Politik ist in Deutschland seit dem Kriege als eine Art Rausch verstanden worden. Die Jugend begeisterte sich in Masse an Farben und Abzeichen, an Musik und Umzügen, an theatralischen Gelübden und dilettantischen Aufrufen und Theorien. Ohne Zweifel werden die Gefühle dabei befriedigt, aber Politik ist etwas anderes. Mit dem Herzen allein ist noch niemals erfolgreiche Politik gemacht worden. Und auf den Erfolg kommt es an – sonst hat diese Tätigkeit überhaupt keinen Sinn. Alle großen Erfolge staatsmännischer Kunst und kluger Volksinstinkte waren das Ergebnis kühlen Erwägens, langen Schweigens und Wartens, harter Selbstbeherrschung und vor allem eines grundsätzlichen Verzichtes auf Rausch und Szenen. Bedenken Sie, wie unsäglich einsam Bismarck Zeit seines Lebens gewesen ist, nur deshalb, weil er allein mitten in dem Deutschland des 19. Jahrhunderts eine weitreichende, schweigsame und kühle Tatsachenpolitik trieb. »Ich erkannte in ihm einen politischen Geschäftsmann, allem weit überlegen, was man sich in dieser Hinsicht denken kann. Er scheint nur mit dem zu rechnen was ist, sein Augenmerk nur auf praktische Lösungen zu richten, gleichgültig gegen alles, was nicht zu einem nützlichen Zweck führt«, sagte Jules Favre von ihm im September 1870. »Es gibt Zeiten, wo man liberal regieren muß, und Zeiten, wo man diktatorisch regieren muß, es wechselt alles, hier gibt es keine Ewigkeit«, sagte er selbst 1881 im Reichstag. Als in seinem Greisenalter jedes Kind die Früchte seiner Arbeit sah, wurde er in tausend Bismarckkommersen umjubelt, aber wo war die Jugend unserer Hochschulen in all den Jahren, wo er ganz allein damit[148] rang, das Deutschland aufzubauen, welches 1914 die Hoffnung haben durfte, den schwersten Krieg zu bestehen, dem je ein Land in der neueren Geschichte ausgesetzt war? Hätte ihn sein König und Kaiser nicht gehalten, der ihm seinen ganzen Einfluß auf die Staatsgeschäfte gegen eine Übermacht von Feinden zur Verfügung stellte, so wäre er gleich am Anfang gescheitert, und er würde heute noch Narr und Verbrecher genannt werden, wie er jahrelang von allen Parteien und allen Ständen genannt wurde. Die studentische Jugend hat ihn damals mitten in ihrem patriotischen Treiben nicht besser verstanden als jeder andere. Und man muß doch auch einmal, gerade heute, die Art der Begeisterung von 1813 kritisch ins Auge fassen. Wir sind gewohnt, auf diese Zeit der großen Leidenschaft wie auf den Grundstein von Deutschlands späterer Größe zu blicken. Aber so hart es ist, es muß doch gesagt werden: Was hat der politische Rausch dieser Jahre uns eingetragen? Die Niederlage der Franzosen, gewiß, aber sie war durch die Vernichtung der großen Armee und den spanischen Aufstand ohnehin gesichert. Blinde Begeisterung ist es nicht, womit Völker und Staaten geschaffen oder gerettet werden, weder heute noch in germanischen Urwäldern. Wofür haben sich die Schillschen Offiziere geopfert? Für England! Wofür hat unsere Jugend in den Befreiungskriegen gelitten? Für England! Und wofür arbeitet die völkische Bewegung von heute, blind wie sie ist und handelt und denkt? Für Frankreich. Nur das unbestechliche Auge Goethes sah damals das Ziellose der Freiheitsschwärmerei und ich rate Ihnen, immer und immer wieder sein erschütterndes Gespräch mit Luden vom November 1813 zu lesen. Die prachtvolle und ebenso törichte Jugend, die sich hernach an altteutschen Kostümen, altteutschen Redensarten und Tabakspfeifen, romantischen Festen auf der Wartburg und in Hambach (mit polnischen Fahnen an der Spitze, weil die freiheitliebenden Polen damals Deutsche totschlugen!) berauschte – während England durch die Vernichtung des Mahrattenreiches Indien endgültig unterwarf und seinen Blick auf das von Spanien abgefallene Südamerika richtete, und die englische[149] Hochschuljugend über taktische Fragen der Weltpolitik und Weltwirtschaft zu debattieren begann – diese Jugend war nichts als ein Stein im Spiel der großen, vor allem der englischen Diplomatie. Sie wurde losgelassen, als man sie brauchte, und preisgegeben, als sie ihren Zweck für fremde Mächte erfüllt hatte. Davor schützt kein Wille, keine Zahl, sondern nur die geistige und taktische Überlegenheit. Wir hatten keinen wirklich nationalen Diplomaten, und hätten wir ihn gehabt, so würde er von der nationalen Bewegung nicht verstanden und daran gescheitert sein.
Wenn Sie nicht wollen, daß auch die nationale Begeisterung dieser Jahre nur ein Werkzeug ist in den Händen der ausländischen Diplomatie und ihrer innerdeutschen Gefolgschaft, dann müssen Sie sich zu etwas anderem erziehen als zu einer Politik hemmungsloser, romantischer, weltblinder Leidenschaften. Nicht daß man gegen diese oder jene Macht Lärm schlägt, sondern daß man sie an politischem Geschick überragt, hat Bedeutung. Wenn ich heute durch die Straßen deutscher Städte gehe und sehe, was für Versammlungen und Umzüge stattfinden, was für Zettel an den Häusern kleben, was für Abzeichen getragen werden, was gesungen oder geschrien wird, was für kindliche Theorien an die Stelle wirtschaftlicher Tatsachen gesetzt werden sollen, was alles man vor der breitesten Öffentlichkeit treibt und sagt, was in jedem andern Lande mit größter Zurückhaltung erst weltpolitisch durchdacht und dann verschwiegen werden würde, so möchte ich verzweifeln. Ich frage mich immer wieder, welche feindliche Macht diese blinde, planlose, alle Tatsachen der Weltlage verachtende Schwärmerei eines Tages ausnützen und dann preisgeben wird. Gegenüber all dem, was die heranwachsende Generation seit fünf Jahren will, redet, denkt und tut, drängt sich mir immer wieder der alte Spruch aus dunklen Jahren der deutschen Vergangenheit auf die Lippen: »Wehe dem Lande, dessen König ein Kind ist!«
Wir müssen uns, so hart es uns ankommen mag, dazu entschließen, Politik als Politik zu treiben, so wie man sie von jeher verstanden hat, als eine lange, schwere, einsame und[150] wenig volkstümliche Kunst, und nicht als Rausch oder militärisches Schauspiel. Die meisten von Ihnen haben Waffen getragen. Ich erinnere Sie daran, daß Politik nichts ist als eine Kunst des Fechtens mit geistigen Waffen. Sie wissen, was Übung, Geschick und Kaltblütigkeit hierin bedeuten. Sie wissen, daß das Geheimnis des Sieges in der Überraschung des Gegners liegt. Wenn Sie im Zweikampf oder auf dem Schlachtfelde die Methoden Ihrer politischen Tätigkeit anwenden wollten, vor dem Auge des Gegners die Waffe mit Geschrei in der Luft schwingen, den Angriff in aller Öffentlichkeit verkünden und vorbereiten, so wäre der erste Schlag auch schon der letzte. Über den Erfolg entscheidet die Leidenschaft jedenfalls nicht. Leidenschaften machen abhängig. Und allzu oft bietet unsere nationale Bewegung, so wie sie heute innerhalb des deutschen Parteikampfes verläuft, das Bild eines Stiers in der Arena, blind, wütend, jedem Verständnis der Situation unzugänglich. Wir müssen endlich lernen, daß große Politik sich ebensowenig im Organisieren und Agitieren, in Programmen und Gefühlsausbrüchen erschöpft wie andrerseits in der bloßen Lösung von Wirtschaftsproblemen. Ein kluger Geschäftsmann ist noch kein Politiker – obwohl Politik die Geschäftsführung eines Staates ist –, aber Trommler und Pfeifer sind erst recht keine Feldherren.
Die moderne Politik setzt ein außerordentlich hohes Maß von Übung und Wissen voraus und ich vermisse in der Jugend, die heute Politik als ihre Aufgabe und Sendung betrachtet, nicht nur den ernstlichen Willen, sich für größere Aufgaben zu erziehen, sondern auch den, sich die Kenntnis der Tatsachen, Kräfte und Richtungen der heutigen Weltpolitik im notwendigen Umfange anzueignen. Noch einmal: Es kommt nicht auf das Wollen, sondern auf das Können an, und Können setzt die Beherrschung des Gebietes voraus, auf dem es sich betätigen soll. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, der durch tägliches Lesen von Zeitungen und noch viel mehr durch die Masse ausnahmslos flacher und alberner Parteischriften erzeugt wird, zu glauben, daß ein jeder Politik verstehe und machen könne, wenn er nur die[151] richtige »Gesinnung« habe. Der Wahlspruch des 19. Jahrhunderts: »Die Politik dem Volke« hat Schwärmer und Schwätzer erzogen, aber die Staatsmänner um ihr Gefolge gebracht. Die meisten von ihnen haben den größeren Teil ihrer Nervenkraft nicht auf ihr Werk verwendet, sondern darauf, sich ein Mindestmaß von Bewegungsfreiheit zu erhalten.
Dazu kommt eine ungeheure, rein deutsche Gefahr. Wir haben seit 1918 jeden Einfluß außerhalb unserer Grenzen verloren. Ich schweige davon, daß wir nicht einmal innerhalb dieser Grenzen Herren geblieben sind. Wir Deutsche sind, seit kaum fünfzig Jahren in die Reihe der Weltvölker eingetreten und bei weitem noch nicht gewöhnt, das dieser Stellung entsprechende politische Sehen und Denken als selbstverständlich zu beherrschen, mit einem Schlage wieder Provinzler geworden und das in einem Grade, wie es schon aus geographischen Gründen bei keinem der anderen großen Völker möglich ist. Das wirkt zunächst auf den Umfang unserer Außenpolitik, die bloße Grenzpolitik geworden ist und vielfach noch nicht einmal das. Aber darüber hinaus wacht unsere trostlose Vergangenheit mit ihrer stumpfsinnigen Kleinstaaterei, ihrem Philisterhorizont, ihrem erbärmlichen Gezänk von einem Ländchen zum andern wieder auf und droht den Gesichtskreis auch der nationalen Bewegung bis zur Hoffnungslosigkeit zu verengen. Nicht der Partikularismus allein ist ein Ausdruck ererbter Provinzgesinnung, sondern auch die heute wieder übliche Behandlung deutscher Fragen, als ob Deutschland allein in der Welt wäre. Wir erfahren nur noch wenig von dem, was in Ostasien, in Mittelamerika, in Südafrika vor sich geht, und viele glauben, sich um dieses wenige nicht kümmern zu müssen. Seit wir die Kolonien verloren haben – ein Verhängnis auch für den politischen Horizont unseres Volkes – hat sich der politische Blick auf Mitteleuropa beschränkt und oft genug auf einen kleinen Bezirk davon. Ein beschränkt nationaler Dünkel ist groß geworden, der es für unter seiner Würde hält, die Verhältnisse des Auslandes bei der Lösung innerdeutscher Fragen zu beachten und die geschichtliche und wirtschaftliche Entwicklung der Welt rings umher in bezug auf uns wirklich[152] ernst zu nehmen. Was nicht in der Richtung der eigenen Ideologie liegt oder zu liegen scheint wie etwa die Schriften von Ford, wird mit Spott oder Nichtachtung behandelt oder planmäßig mißverstanden. Man gibt sich nicht die Mühe, die inneren Verhältnisse Englands oder Amerikas oder etwa die Entwicklung der Lage am Stillen Ozean an der Hand von Tatsachen zu studieren. Man verschwendet keinen Augenblick an ein Studium weltwirtschaftlicher Probleme wie Rohstoffversorgung oder Überwindung von Absatzkrisen und begeistert sich lieber für irgendeine lächerliche, am Schreibtisch ausgesonnene Theorie einer geldlosen Wirtschaft. Und wenn man damit erreicht, daß das wohlwollende Ausland bedauernd oder verächtlich auf dieses Treiben herabsieht, daß die ausschlaggebenden Mächte und Persönlichkeiten der realen Politik und Wirtschaft gezwungen sind, jede Berührung mit solchen Bewegungen zu vermeiden, um sich nicht bloßzustellen, so erblickt man darin vielleicht sogar noch einen Vorzug.
Aber der Fascismus hat es jedenfalls verstanden, sich mit maßgebenden Mächten der Wirtschaft rechtzeitig zu verständigen, weil es ihm auf den Erfolg und nicht auf Programme und Paraden ankam. Andernfalls wäre er an den Tatsachen bald gescheitert. Deutschland liegt mit seinen sechzig Millionen Einwohnern mitten in einer Welt von 1500 Millionen. Es hat keine natürliche Grenze. Es kann weder auf Absatz noch Rohstoffe noch Lebensmittelimport verzichten. Sein Schicksal ist von dem Gesamtschicksal nicht zu lösen. Es kann aktiv oder passiv sein, aber es ist in keinem Fall eine Angelegenheit für sich. Mit dem Verzicht auf einen weltpolitischen Horizont, mit dem Verzicht auf Fühlungnahme mit weltpolitischen Faktoren, was eine gleiche Höhenlage der Erfahrung, Überlegung und Taktik voraussetzt, schwinden alle Aussichten der nationalen Bewegung, geben Sie sich darüber keinem Zweifel hin. Sie können dann auch weiter den Karren ziehen, in dem Glauben ihn zu lenken, aber Sie werden das Schicksal Deutschlands, eine Provinz, eine Kolonie der Westmächte zu werden, damit besiegeln. Ich höre täglich Gespräche, die mich erschrecken, naive Vorschläge zu grundlegenden Wirtschaftsreformen[153] von jungen Leuten, die nie ein Hüttenwerk gesehen und nie eine Abhandlung über modernes Kreditwesen gelesen haben; Ideen über Verfassungsreformen ohne die geringste Vorstellung davon, wie heute ein Ministerium aufgebaut sein muß, um arbeiten zu können, und was alles zu seiner geschäftlichen Leitung gehört. Niemand studiert die Praxis großer Staatsmänner wie Bismarck, Gladstone, Chamberlain und in Gottes Namen auch Poincaré, ihre Art, in der kleinen zähen Arbeit des Tages unscheinbare Erfolge zu erzielen, deren Gesamtergebnis dann doch im Schicksal ihres Landes Epoche macht. Wir haben Kampfziele, deren Anerkennung ein paar tausend Quadratkilometer nicht überschreitet, und in jedem Winkel Deutschlands ein paar nebeneinander.
Aber wir brauchen ein beständiges Nachdenken unserer Jugend und nicht nur ein Nachdenken, sondern ein ernstes und gründliches Durcharbeiten der großen Verhältnisse der gegenwärtigen Weltwirtschaft und Weltpolitik, und zwar an der Hand von Daten und Tatsachen. Wir können keine deutsche Frage lösen, es sei welche sie wolle, wenn wir nicht genau wissen, in welche Beziehung sie sofort zu den politischen Kombinationen in England, in Rußland, in Amerika tritt, und diese Fühlungnahme sollte über das Wissen zu praktischen Beziehungen weitergehen, was auf unserer Seite Persönlichkeiten von entsprechender Stellung und Erfahrung voraussetzt, die zu gewinnen die nationale Bewegung bis jetzt verschmäht hat. Unser Aufstieg hängt davon ab, daß wir dem Ausland an politischen Methoden gewachsen sind, wie es auf dem Gebiete der Technik und wirtschaftlichen Organisation der Fall ist, und nicht davon, daß wir es als nicht vorhanden betrachten. Und dasselbe gilt von den internationalen Mächten innerhalb Deutschlands, die mit den Schlagworten Marxismus und Börse gemeint sind. Man kann ihre Auffassungen widerlegen, aber man schafft sie damit nicht ab. Ob jemand recht hat oder unrecht, darauf kommt in der Geschichte nicht viel an. Ob er dem Gegner praktisch überlegen ist oder nicht, entscheidet über den Erfolg. Und zum letztenmal: die Jugendbewegung, wie sie heute ist, verzichtet auf Erfolg, um[154] sich zu berauschen. Ehrlich, aber sonst nichts – das ist zu wenig für unsere Zukunft.
Und damit komme ich zum Schluß: Wir Deutsche gewöhnen uns schwer daran, Politik nicht für den Ausdruck von Gefühlen und Meinungen, sondern für eine hohe Kunst zu halten, weil unsere Vergangenheit uns keinen Anlaß zu Erfahrungen gab. Lernen wir das aber nicht jetzt, so fürchte ich, daß auch die Zukunft uns keinen Anlaß mehr geben wird. Es ist die heilige Pflicht der jungen Generation, sich für Politik zu erziehen. Da wir nicht in der glücklichen Lage Englands sind, das seine jungen Leute früh und in praktischen Stellungen in alle Erdteile hinaussendet, so bleibt uns nur das Studium dieser Dinge an der Hand geschichtlichen Materials, aber das sollte mit doppeltem Ernst getrieben werden. Ich rate der Jugend, alle begeisterten Programme und Parteischriften aus der Hand zu legen und einzeln oder zusammen planmäßig die diplomatischen Akten der letzten Jahrzehnte zu studieren, wie sie etwa in den Veröffentlichungen aus deutschen Archiven oder in englischen Blaubüchern vorliegen, die Schriftstücke zu vergleichen, sich über Zwecke, Mittel und Erfolge ein Urteil zu bilden und so in die moderne staatsmännische Praxis einzudringen; die Reden und Briefe großer Politiker, die Denkschriften der besten Kenner der heutigen Weltwirtschaft wie Keynes oder Helfferich sorgfältig durchzugehen, um sich zunächst ein Urteil über die Lage, die Methoden, die Bedeutung der handelnden Persönlichkeiten zu bilden, woraus sich dann wohl für den einzelnen ergeben wird, wie es um seine eigene Begabung auf politischem Gebiete steht. Berufen ist man heute nicht dadurch, daß man sich und andere begeistern kann, sondern lediglich durch Eigenschaften, die denen des Gegners ebenbürtig sind. Auch für den Geringsten findet sich noch eine Aufgabe. Es gibt Tugenden für Führer und Tugenden für Geführte. Auch zu den letzten gehört, daß man Wesen und Ziele echter Politik begreift – sonst trabt man hinter Narren her und die geborenen Führer gehen einsam zugrunde. Sich als Material für große Führer erziehen, in stolzer Entsagung, zu unpersönlicher Aufopferung[155] bereit, das ist auch eine deutsche Tugend. Und gesetzt den Fall, daß in Deutschland in den schweren Zeiten, die uns bevorstehen, starke Männer zum Vorschein kommen, Führer, denen wir unser Schicksal anvertrauen dürfen, so müssen sie etwas haben, worauf sie sich stützen können. Sie brauchen eine Generation, wie sie Bismarck nicht vorfand, die Verständnis für ihre Art zu handeln hat und sie nicht aus romantischen Gefühlen ablehnt, eine ergebene Gefolgschaft, die auf Grund einer langen und ernsten politischen Selbsterziehung in die Lage gekommen ist, das Notwendige zu begreifen und nicht, wie es heute ohne Zweifel der Fall sein würde, es als undeutsch zu verwerfen. Das, diese Selbsterziehung für künftige Aufgaben ist es, worin ich die politische Pflicht der heranwachsenden Jugend sehe. Damit allein können Sie geistig über die Grenze hinauswachsen, die infolge des Versailler Vertrages Deutschland heute von der Welt abschneidet. Unsere Zukunft beruht nicht auf dem, was an neuen Formen innerhalb unserer Grenzen entsteht, sondern auf dem, was infolge dieser Formen außerhalb der Grenzen erzielt wird.
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