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[6] Denn das gibt es. Was hier zum tödlichen Streich ausholte, war nicht notwendig ein Verrat aus weltbürgerlichem Hange oder schlimmeren Gründen; es war ein beinahe metaphysisches[6] Wollen, zäh und selbstlos, oft einfältig genug, oft begeistert und ehrlich patriotisch, aber in seinem bloßen Dasein eine stets bereite Waffe für jeden äußeren Feind von der praktischen Tiefe des Engländers; ein verhängnisvoller Inbegriff von politischen Wünschen, Gedanken, Formen, die in Wirklichkeit nur ein Engländer ausfüllen, meistern, nutzen kann, für Deutsche trotz aller schweren Leidenschaft und ernsten Opferwilligkeit nur ein Anlaß dilettantischer Betätigung, in seiner staatsfeindlichen Wirkung vernichtend, vergiftend, selbstmörderisch. Es war die unsichtbare englische Armee, die Napoleon seit Jena auf deutschem Boden zurückgelassen hatte.

Das, der bis zur Wucht eines Schicksals herausgebildete Mangel an Tatsachensinn ist es, was von der Höhe der Stauferzeit an, wo diese prachtvollen Menschen sich über die Forderung des Tages erhaben fühlten, bis herab zur provinzialen Biedermännerei des 19. Jahrhunderts, die man auf den Namen des deutschen Michel getauft hat, jenem andern Instinkt entgegenarbeitete und ihm eine Entfaltung aufzwang, die seine äußere Geschichte zu einer dichten Folge verzweifelter Katastrophen gestaltet hat. Das Micheltum ist die Summe unserer Unfähigkeiten, das grundsätzliche Mißvergnügen an überlegnen Wirklichkeiten, die Dienst und Achtung fordern, Kritik zur unrechten Zeit, Ruhebedürfnis zur unrechten Zeit, Jagd nach Idealen statt rascher Taten, rasche Taten statt vorsichtigen Abwägens, das »Volk« als Haufe von Nörglern, die Volksvertretung als Biertisch höherer Ordnung. Alles das ist englisches Wesen, aber in deutscher Karikatur. Und vor allem das Stückchen privater Freiheit und verbriefter Unabhängigkeit, das man genau dann aus der Tasche zieht, wenn John Bull es mit sicherm Instinkt beiseitelegen würde.

Der 19. Juli 1917 ist der erste Akt der deutschen Revolution. Das war kein bloßer Wechsel der Führung, sondern, wie die brutale Form namentlich dem Gegner verriet, der Staatsstreich des englischen Elements, das seine Gelegenheit wahrnahm. Es war die Auflehnung nicht gegen die Macht eines[7] Unfähigen, sondern gegen die Macht überhaupt. Unfähigkeit der Staatsleitung? Hatten diese Gruppen, in denen nicht ein Staatsmann saß, nur den Splitter im Auge der Verantwortlichen gesehen? Hatten sie statt der Fähigkeiten, die sie nicht bieten konnten, in dieser Stunde etwas andres einzusetzen als ein Prinzip? Es war kein Aufstand des Volkes, das zusah, ängstlich, zweifelnd, obwohl nicht ohne jene michelhafte Sympathie mit allem, was gegen die da oben ging, es war eine Revolution in den Fraktionszimmern. Mehrheitspartei ist bei uns ein Name für einen Verein von zweihundert Mitgliedern, nicht für den größeren Teil des Volkes. Erzberger als der taktisch begabteste Demagog unter ihnen, groß in Hinterhalten, Überfällen, Skandalen, ein Virtuose im Kinderspiel des Ministerstürzens, ohne die geringste staatsmännische Begabung englischer Parlamentarier, deren Kniffe er nur beherrschte, zog den Schwarm der Namenlosen nach sich, die auf eine öffentliche Rolle, gleichviel welche, erpicht waren. Es waren die Epigonen der Biedermeierrevolution von 1848, die Opposition als Weltanschauung betrachteten, und die Epigonen der Sozialdemokratie, denen die eiserne Hand Bebels fehlte, der mit seinem starken Wirklichkeitssinn dies schamlose Schauspiel nicht geduldet, der eine Diktatur, von rechts oder links, gefordert und erreicht hätte. Er hätte dies Parlament zum Teufel gejagt und die Pazifisten und Völkerbundsschwärmer erschießen lassen.

Das also war der Bastillesturm der deutschen Revolution.

Souveränität der Parteiführer ist ein englischer Gedanke. Um ihn zu verwirklichen, müßte man Engländer von Instinkt sein und den gesamten Stil des englischen öffentlichen Lebens hinter sich und in sich haben. Mirabeau dachte daran. »Die Zeit, in der wir leben, ist sehr groß; die Menschen aber sind sehr klein und noch sehe ich niemand, mit dem ich mich einschiffen möchte« – ihm dies stolze und resignierte Wort nachzusprechen, hatte 1917 niemand das Recht. Die Härte der Staatsgewalt brechen, nichts Entscheidendes mehr über sich dulden, ohne selbst Entscheidungen gewachsen zu sein, das war der rein negative Sinn dieses Staatsstreiches: Absetzung[8] des Staates, Ersatz durch eine Oligarchie subalterner Parteihäupter, die nach wie vor Opposition als Beruf und Regieren als Anmaßung empfanden, vor dem lachenden Gegner, vor verzweifelnden Zuschauern im Innern Stück für Stück abtragen, anbohren, verrücken, die neue Allmacht an den wichtigsten Beamten erproben wie ein Negerkönig ein Gewehr an seinen Sklaven, das war der neue Geist, bis in der schwarzen Stunde des letzten Widerstandes dieser Staat verschwand.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 6-9.
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