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[29] Ich möchte über den Begriff Preußentum nicht mißverstanden werden. Obwohl der Name auf die Landschaft hinweist, in der es eine mächtige Form gefunden und eine große Entwicklung begonnen hat, so gilt doch dies: Preußentum ist ein Lebensgefühl, ein Instinkt, ein Nichtanderskönnen; es ist ein Inbegriff von seelischen, geistigen und deshalb zuletzt doch auch leiblichen Eigenschaften, die längst[29] Merkmale einer Rasse geworden sind, und zwar der besten und bezeichnendsten Exemplare dieser Rasse. Es ist längst nicht jeder Engländer von Geburt ein »Engländer« im Sinne einer Rasse, nicht jeder Preuße ein »Preuße«. In diesem Worte liegt alles, was wir Deutsche nicht an vagen Ideen, Wünschen, Einfällen, sondern an schicksalhaftem Wollen, Müssen, Können besitzen. Es gibt echt preußische Naturen überall in Deutschland – ich denke da an Friedrich List, an Hegel, an manchen großen Ingenieur, Organisator, Erfinder, Gelehrten, vor allem auch an einen Typus des deutschen Arbeiters – und es gibt seit Roßbach und Leuthen unzählige Deutsche, die tief in ihrer Seele ein Stückchen Preußentum besitzen, eine stets bereite Möglichkeit, die sich in großen Augenblicken der Geschichte plötzlich meldet. Aber echt preußische Wirklichkeiten sind bis jetzt nur die Schöpfungen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen: der preußische Staat und das preußische Volk. Indessen jede überlegene Wirklichkeit ist fruchtbar. Im heutigen Begriff des Deutschen, im heutigen Typus des Deutschen ist das preußische Element verjährten Ideologien gegenüber bereits stark investiert. Die wertvollsten Deutschen wissen es gar nicht. Es ist mit seiner Summe von Tatsachensinn, Disziplin, Korpsgeist, Energie ein Versprechen der Zukunft, noch immer aber nicht nur im Volke, sondern in jedem einzelnen von jenem Wirrwarr absterbender, der abendländischen Zivilisation gegenüber nichtssagender und gefährlicher, obwohl oft sympathischer Züge bedroht, für die das Wort »Deutscher Michel« längst bezeichnend geworden ist.

Denn der »Deutsche« in diesem idealischen Sinne von Professoren und Schwärmern ist eine Unform, durch die gemeinsame Sprache notdürftig als Einheit festgestellt. Er ist unpolitisch und unpraktisch, keine »Rasse« im Sinne einheitlich auf das Wirkliche gerichteter Instinkte. Ein Rest erstarrter innerer Gotik ist da noch übrig mit dem Rankenwerk und Wirrsal einer ewig-kindlichen Seele. Die deutsche Romantik und ihre verträumte Politik von 1848 haben sie wieder zum Vorschein gebracht. Ein gotischer Rest ist aber auch, mit englischen[30] Fetzen und Begriffen verbrämt, jenes triviale Kosmopolitentum und Schwärmen für Völkerfreundschaften und Menschheitsziele, das in ernsten Fällen bis zum Verrat aus Einfalt oder Ideologie sich steigernd das singt oder schreibt oder redet, was das spanische Schwert und das englische Geld taten. Das sind die ewigen Provinzler, die einfältigen Helden deutscher Ichromane mit innerer Entwicklung und erstaunlichem Mangel an Fähigkeiten der Welt gegenüber, die Biedermänner aller Vereine, Biertische und Parlamente, die diesen Mangel an eignen Fähigkeiten, für den Fehler der staatlichen Einrichtungen halten, mit denen sie nicht fertig werden können. Schläfriger Hang zu englischem Liberalismus mit seiner Feindseligkeit gegen den Staat, die man gern nachfühlt, während man über die straffe Initiative des englischen Privatmannes auch im Politischen hinwegsieht, spießbürgerlicher Hang zu italienisch-französischer Kleinstaaterei, der längst um französisch frisierte Höfe herum ein partikularistisches Bürgertum hat wachsen lassen, das nicht über den Grenznachbarn hinausdenkt und Ordnung als kulturfeindlich empfindet, ohne daß man den Geist dieser Kultur sich einzuimpfen vermöchte, Eifer für spanisch-kirchliche Autorität, die sich in Konfessionsgezänk verläuft – alles das unpraktisch, subaltern, dumm aber ehrlich, formlos ohne Hoffnung auf künftige Formen, verjährt, auch seelisch unfruchtbar, ertötend, verkleinernd, herabziehend, der innere Feind jedes Deutschen für sich und aller Deutschen als Nation – das ist das Micheltum, das neben den Typen der fünf schöpferischen Völker als der einzige Typus einer Verneinung steht, Zeugnis für eine Art gotischen Menschentums, aus der die reifende Kultur jenseits von Renaissance und Reformation keine Rasse im neuen Sinne entwickelt hat.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 29-31.
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