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[26] Drei Völker des Abendlandes haben den Sozialismus in einem großen Sinne verkörpert: Spanier, Engländer, Preußen. Von Florenz und Paris aus formte sich der anarchische Gegensinn in zwei andern: Italienern und Franzosen. Der Kampf beider Weltgefühle ist das Grundgerüst dessen, was wir als neuere Weltgeschichte bezeichnen.

Gegen den gotischen Geist, der mit seinem ungeheuren Hang zum Grenzenlosen sich in den Gestalten der großen Kaiser und Päpste, den Kreuzzügen, den Dombauten, dem Rittertum und den Mönchsorden entlud, lehnte sich im 15. Jahrhundert die Seele von Florenz auf. Was wir Renaissance nennen,1 ist der antigotische Wille zur begrenzten Kunst und zierlichen Gedankenbildung, ist mit dem Haufen von Räuberstaaten all jener Republiken und Kondottieri, der Augenblickspolitik, wie sie in Macchiavellis klassischem Buche fortlebt, dem engen Horizont aller Machtpläne selbst des Vatikans zu dieser Zeit ein Protest gegen die Tiefe und Weite des faustischen Weltbewußtseins. In Florenz ist der Typus des italienischen Volkes entstanden.

Zum zweitenmal erhebt sich der Widerspruch im großen Jahrhundert Frankreichs. Racine stellt sich da neben Rafael, der esprit der Pariser Salons neben den des mediceischen Kreises. In den Raubkriegen Ludwigs XIV. wiederholt sich die Politik der Borgia und Sforza, in dem »l'état c'est moi« das Renaissanceideal des freien Herrenmenschen. Franzosen und Italiener sind Nächstverwandte.[26]

Zwischen der Geburt dieser Völker aber liegt das spanische Jahrhundert, vom Sturm auf Rom (1527), wo spanischer Geist den Renaissancegeist brach, bis zum Pyrenäenfrieden (1659), wo er dem französischen wich.2 Hier lebt die Gotik zum letztenmal in großartigen Formen auf. Im kastilianischen Granden geht das Rittertum zu Ende – Don Quijote, der spanische Faust! –, die Jesuiten sind die einzige und letzte große Gründung seit jenen Ritterorden, die im Kampf gegen die Ungläubigen entstanden waren. Das Reich der spanischen Habsburger verwirklichte die Hohenstaufenidee, das Konzil von Trient die Idee des Papsttums.

Mit dem spanisch-gotischen Geist des Barock breitet sich ein starker und strenger Lebensstil über die westeuropäische Welt. Der Spanier fühlt eine große Mission in sich, kein »Ich«, sondern ein »Es«. Er ist Soldat oder Priester. Er dient Gott oder dem König. Erst der preußische Stil hat ein Ideal von solcher Strenge und Entsagung wieder ins Dasein gerufen. Im Herzog Alba, dem Mann der großen Pflichterfüllung, hätten wir verwandte Züge finden sollen. Das spanische und preußische Volk allein sind gegen Napoleon aufgestanden. Und hier, im Escorial, ist der moderne Staat geschaffen worden. Die große Interessenpolitik der Dynastien und Nationen, die Kabinettsdiplomatie, der Krieg als planmäßig herbeigeführter und berechneter Schachzug inmitten weitreichender politischer Kombinationen – das alles stammt von Madrid. Bismarck war der letzte Staatsmann spanischen Stils.

Das politische Machtgefühl von Florenz und Paris wird im Grenzhader befriedigt. Leibniz hat Ludwig XIV. vergebens die Eroberung Ägyptens vorgeschlagen, Kolumbus an beiden Orten vergebens angeklopft. Pisa unterwerfen, die Rheingrenze gewinnen, den Nachbar verkleinern, den Feind demütigen – in dieser Bahn läuft seitdem das politische Denken. Der spanische Geist will sich den Planeten erobern, ein Reich, in dem die Sonne nicht untergeht. Kolumbus trat in seinen Dienst; man vergleiche die spanischen Konquistadoren mit[27] den italienischen Kondottieri. Die Spanier waren es, welche die ganze Erdoberfläche zum Objekt westeuropäischer Politik gemacht haben. Italien selbst wurde eine spanische Provinz. Und man verstehe den mächtigen Gegensatz wohl, der den Sturm auf Rom herbeiführte: der Renaissancekirche wurde da ein Ende gemacht. Ihr und den wesensverwandten Reformationskirchen trat der spanisch-gotische Stil entgegen, der bis heute den Vatikan beherrscht: die Idee der Weltherrschaft ist seitdem nicht wieder erloschen. Von diesem Augenblick an steht der italienische und französische Volksgeist der Kirche feindselig gegenüber, nicht insoweit sie die Religion, sondern soweit sie den spanischen Gedanken der Universalherrschaft darstellt. Die gallikanische Kirchenpolitik der französischen Könige, der Revolution, Napoleons, die antiklerikale Haltung des Königreichs Italien sind so zu erklären. Die Kirche aber stützte sich auf Madrid und Wien.

Denn auch Wien ist eine Schöpfung spanischen Geistes. Nicht die Sprache allein schafft ein Volk. Hier wurde ein Volk, das österreichische, durch den Geist eines Hofes, dann der Geistlichkeit, dann des Adels geschaffen. Es ist den übrigen Deutschen innerlich fremd geworden, unwiderruflich, denn ein Volk von alter Züchtung kann sich nicht ändern, auch wenn es sich vorübergehend einmal darüber täuschen sollte. Dies Volk ist habsburgisch und spanisch, auch wenn niemand vom Hause Habsburg mehr leben sollte; möge sein Verstand nein sagen, sein Instinkt bejaht es. Das spanische Deutschland, in Gestalt des Kaiserhauses, erlag 1648 dem französischen in Gestalt der Einzelfürsten, deren Höfe von nun an im Stil von Versailles, nämlich partikularistisch und territorial, auf Grenzerweiterungen versessen und Universalplänen abhold dachten, handelten, lebten. Wallensteins mächtige Entwürfe des Marsches auf Konstantinopel und der Verwandlung der Ostsee in eine spanische Flottenbasis bezeichnen den Gipfel, sein Abfall und Tod die große Wendung. Das spanisch-französische Deutschland wurde bei Königgrätz besiegt. Aber noch 1914 war die Kriegserklärung Österreichs an Serbien ein diplomatischer Akt im spanischen Kabinettstil des 16. Jahrhunderts,[28] während England mit den taktisch überlegenen diplomatischen Mitteln des 19. den Weltkrieg in dieser Form nicht erklärte, sondern erzwang.

Der englische Friede zu Fontainebleau, der preußische zu Hubertusburg, beide 1763, schließen das französische Jahrhundert ab. Mit dem Rücktritt der Romanen beginnt die Leitung der westeuropäischen Schicksale durch die germanischen Völker. Die Geburt des modernen englischen Volkes liegt im 17., die des preußischen im 18. Jahrhundert. Es ist das jüngste und letzte. Was hier an der Themse und Spree aus unverbrauchtem Menschentum gestaltet wurde, verkörpert die Züge faustischen Machtwillens und Hanges zur Unendlichkeit in der reinsten und energischsten Form. Italienisches und französisches Dasein wirken daneben klein, die Zeiten ihrer politischen Höhe sind Zwischenakte in einem großen Drama. Nur spanischer, englischer, preußischer Geist haben der europäischen Zivilisation Universalideen gegeben: Ultramontanismus, Kapitalismus, Sozialismus in einem bedeutsameren Sinne, als er heute mit diesen Worten verbunden ist.

Und doch – mit Frankreich ist im Abendlande auch die Kultur zu Ende. Paris hat alle Schöpfungen der gotischen Frühzeit, der italienischen Renaissance, des spanischen Barock in die letzte, reifste, süßeste Form gegossen: Rokoko. Es gibt nur französische Kultur. Mit England beginnt die Zivilisation. Frankreich beherrscht den Geist, die Geselligkeit, den Geschmack, England den Stil des praktischen Lebens, den Stil des Geldes.

1

Unt. d. Abdl. I, S. 300 ff., II, S. 464.

2

Unt. d. Abdl. II, S. 480 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 26-29.
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