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[36] Als Ergebnis dieser Ethik hat der Engländer, abgeschlossen auf seiner Insel, eine Einheit der äußern und innern Haltung erlangt wie kein andres modernes Volk Westeuropas: es entstand die vornehme Gesellschaft, ladies and gentlemen, verbunden durch ein starkes Gemeingefühl, ein durchaus gleichartiges[36] Denken, Fühlen, Sichverhalten. Seit 1750 ist diese prachtvolle gesellschaftliche Haltung für die moderne Zivilisation tonangebend geworden, zuerst in Frankreich. Man denke an den Empirestil, der in London als Hintergrund dieser Lebensart die gesamte Umgebung einem vornehm gepflegten, vom Rokoko her praktisch gezügelten und gemessenen Geschmack unterwarf, vor allem an die Meister des zivilisierten Porträts, Gainsborough und Reynolds. Es war ein Gemeingefühl des Erfolges, des Glücks, nicht der Aufgabe wie das preußische. Es waren Olympier des Geschäfts, heimgekehrte Wikinger beim Mahle, nicht Ritter im Felde: Reichtum war neben altem Adel die Bedingung der Zugehörigkeit und der Stellung innerhalb dieser Gesellschaft, Kennzeichen, Ziel, Ideal und Tugend. Nur England besitzt heute, was man gesellschaftliche Kultur nennen könnte – eine andre, philosophischere hat es allerdings nicht – eine tiefe Oberflächlichkeit; das Volk der Denker und Dichter hat so oft nur eine oberflächliche Tiefe.

Eine deutsche, eine preußische Gesellschaft dieser Art gibt es nicht und kann es nicht geben. Eine Gesellschaft von »Ichs« ohne das Pathos eines starken, Gleichförmigkeit schaffenden Lebensgefühls ist immer etwas lächerlich. Der deutsche Individualist und Liberale hat für den Klub den Verein und für die Abendgesellschaft das Festessen erfunden. Dort entwickelt er das Gemeingefühl der Gebildeten.

Statt dessen hat der preußische Stil das ebenso starke und tiefe Standesbewußtsein gezüchtet, ein Gemeingefühl nicht des Ruhens, sondern der Arbeit, die Klasse als Berufsgemeinschaft, und zwar des Berufs mit dem Bewußtsein, für alle, für das Ganze, für den Staat wirksam zu sein: den Offizier, den Beamten, nicht zuletzt die Schöpfung Bebels, den klassenbewußten Arbeiter. Wir haben eine Symbolik in Worten dafür: oben heißt es Kamerad, in der Mitte Kollege, unten in genau demselben Sinn Genosse. Es liegt eine hohe Ethik darin nicht des Erfolges, sondern der Aufgabe. Die Zugehörigkeit gibt nicht der Reichtum, sondern der Rang. Der Hauptmann steht über dem Leutnant, mag der auch Prinz[37] oder Millionär sein. Das französische bourgeois der Revolution sollte die Gleichheit unterstreichen, was weder dem englischen noch dem deutschen Sinn für Distanzen entspricht. Wir Germanen unterscheiden uns nur durch die Herkunft dieser Distanzen, das Distanzgefühl selbst ist uns gemeinsam. Das Schimpfwort bourgeois im Munde des deutschen Arbeiters bezeichnet den, der seiner Meinung nach keine echte Berufsarbeit, der einen sozialen Rang ohne Arbeit hat – es ist das englische Ideal aus der Perspektive des deutschen gesehen. – Dem englischen Snobismus entspricht die deutsche Titelsucht.

Dies Gemeingefühl von Jahrhunderten hat in beiden Fällen eine großartige Einheit der Haltung von Körper und Geist, eine Rasse hier von Erfolgreichen und dort von Arbeitenden herausgebildet. Als äußerer und doch nicht nebensächlicher Ausdruck ist die englische Herrentracht entstanden – Zivilkleidung im eigentlichsten Sinne, die Uniform des Privatmannes – die ohne Einwand den Bereich der westeuropäischen Zivilisation beherrscht, in der England der Welt seine Uniform, den Ausdruck der Freihandelslehre, der Ethik des Habens, des cant angelegt hat. Das Gegenstück ist die preußische Uniform, Ausdruck nicht des privaten Daseins, sondern des öffentlichen Dienstes, nicht des Erfolges der Lebenstätigkeit, sondern der Tätigkeit selbst. »Ich bin der erste Diener meines Staates« sagte der preußische König, dessen Vater das Tragen der Uniform unter Fürsten üblich gemacht hat. Hat man wohl verstanden, was alles in der Bezeichnung »des Königs Rock« liegt? Die englische Gesellschaftskleidung ist ein Zwang, strenger noch als der preußische Uniformzwang. Wer zur Gesellschaft gehört, wird dieser Tracht seines Standes gegenüber nie »in Zivil«, das heißt unter Verletzung von Sitte und Mode unvorschriftsmäßig gekleidet gehen. Aus der englischen Tracht des gentleman aber, in der sich nur ein Engländer vollkommen zu bewegen weiß, wird der »Bratenrock« des deutschen Provinzlers und Biedermannes, unter dem das Herz für Freiheit und Menschenwürde unentwegt schlägt; der Bratenrock als Symbol der Ideale von 1848,[38] den die liberal gewordenen Sozialisten heute mit Stolz einhertragen.1

Zur preußischen Art gehört es, daß der Einzelwille im Gesamtwillen aufgeht. Das Offizierkorps, das Beamtentum, die Arbeiterschaft Bebels, endlich »das« Volk von 1813, 1870, 1914 fühlen, wollen, handeln als überpersönliche Einheit. Das ist nicht Herdengefühl; es ist etwas unendlich Starkes und Freies darin, das kein nicht Zugehöriger versteht. Das Preußentum ist exklusiv. Es weist selbst in seiner proletarischen Fassung die Arbeiter andrer Länder samt ihrem egoistischen Scheinsozialismus ab. Bedientenseele, Untertanenverstand, Kastengeist – das sind Worte für etwas, das man nur in seiner Ausartung versteht und dann verachtet. Das echte Preußentum verachtet niemand; man fürchtet es.

Nie wird ein Engländer begreifen – die ganze Welt begreift es nicht –, daß mit dem preußischen Stil eine tiefe innere Unabhängigkeit verbunden ist. Ein System sozialer Pflichten verbürgt dem großdenkenden Menschen eine Souveränität der inneren Welt, die mit einem System sozialer Rechte, und das ist das individualistische Ideal, unvereinbar ist. Eine Gemütsverfassung wie die Moltkes ist in England nicht denkbar. Die englische praktische Freiheit bezahlt sich mit der andern: der Engländer ist innerlich Sklave, als Puritaner, als Rationalist und Sensualist, als Materialist. Er ist seit zweihundert Jahren der Schöpfer aller Lehren, die mit der inneren Unabhängigkeit aufräumen, zuletzt des Darwinismus, der den gesamten seelischen Zustand von der Einwirkung materieller Faktoren kausal abhängig macht und der in der ganz besonders platten Fassung Büchners und Haeckels die Weltanschauung des deutschen Spießbürgers geworden ist. Der Engländer gehört auch geistig zur »society«. Seine Zivilkleidung drückt auch eine Uniformierung der Gewissen aus. Es gibt für ihn ein privates Handeln, aber kein privates Denken. Eine gleichförmige, theologisch[39] gefärbte Weltanschauung von geringem Gehalt verteilt sich über alle. Sie gehört zum guten Ton wie Gehrock und Handschuh. Wenn irgendwo, so ist der Ausdruck Herdengefühl hier am Platze.

1

Der Franzose endlich, dem faustische Triebe peinlich sind, erfand neben der Tracht des Erfolges und der des Berufs die Damenmode. An die Stelle von business und Dienst tritt – l'amour.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 36-40.
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