I

[1] In dem Jonier Heraklit erreicht die griechische Philosophie des 6. und 5. Jahrhunderts – keine Schule, sondern eine Reihe selbständiger, mächtiger, ihrer Zeit an Reife weit überlegener und erstaunlich schöpferischer Denker, wie sie später, als die Philosophie ihren Sitz in Athen genommen hatte, nicht wieder aufgetreten sind – ihren Gipfel. Griechenland hat niemals gewaltigere Menschen hervorgebracht als diese, von denen einer dem andern folgend mit Meisterstrichen ein Bild des Kosmos schuf, nichts weniger als kritisch und mit dem Vorsatz, den Anforderungen strenger Wissenschaft zu genügen, sondern in hoher Intuition und mit einem gewaltigen Blick den Sinn der Welt, ihre Vergangenheit und Zukunft umfassend. In diesem Sinne hat man ihre Leistungen zu beurteilen. An Stelle der kühlen Strenge des Unterscheidens und Zerlegens, wie sie Aristoteles besitzt, findet man hier, um ein Wort Goethes zu gebrauchen, die »exakte sinnliche Fantasie«, eine Richtung auf Gestalten und Gedanken, nicht deren abstrakte Folgerungen, Begriffe und Gesetze. Heraklit ist nicht nur der tiefste, sondern auch der vielseitigste und umfassendste Geist unter ihnen. Die Systeme des Anaximander, Xenophanes, Pythagoras finden in dem seinigen verwandte Seiten. Die großen Probleme des griechischen Denkens – das Verhältnis von Form und Ding an sich, der Begriff des Gesetzes, der Begriff der inneren Einheit alles Seins oder Geschehens, der Ursprung des Seins, der Ursprung des Andersseins – die man in dieser Zeit entdeckte und zu naiven und kühnen[1] Formeln verdichtete, vereinigte er in den Grundgedanken seiner Lehre, die andern repräsentieren sie einzeln. Es wäre unrichtig, aus diesem Grunde in Heraklit einen Nachfolger oder Nachahmer dieser Lehren sehen zu wollen. Ob zwischen Anaximander oder Xenophanes und ihm das Verhältnis des Meisters zum Jünger oder eine andere engere Beziehung bestand – eine Unwahrscheinlichkeit, wenn man die geistige und politische Unabhängigkeit der hellenischen Städte und die selbstbewußte, von der üblichen weit entfernte Lebensführung dieser Philosophen in Betracht zieht – ist eine Frage von geringer Bedeutung. Die Möglichkeit einer mittelbaren Einwirkung ist ja vorhanden. Aber von den zahlreichen möglichen, aus Beobachtung, Erlebnissen, Eindrücken, Meinungen der anderen stammenden Anregungen werden nur diejenigen gewirkt haben, die auf verwandte, im Grunde schon vorhandene Elemente trafen. Daß Heraklits Unabhängigkeit niemals in Frage gestellt worden ist, darf man aus seinem Charakter mit großer Gewißheit schließen. Wenn sich eine ähnliche Richtung im Denken jener Philosophen beobachten läßt (wie die Gleichheit des Ausgangspunktes und die parallele Behandlung gleicher Fragen), so folgt dies aus der organischen Einheit des geistigen Lebens innerhalb einer umgrenzten Kulturepoche, wie es die Geschichte häufiger zeigt. (Die ἀταραξία als Basis aller ethischen Lehren im 3. Jahrhundert, das Problem der Methode bei Bacon, Descartes, Galilei.)

Der Gedanke, in dem Heraklit eine neue Auffassung des kosmischen Daseins gab, ist ein energetischer: der eines reinen (stofflosen), gesetzmäßigen Geschehens. Die Entfernung dieser Idee von der Anschauung anderer, und zwar gleichmäßig der Jonier, Eleaten und Atomisten, ist eine außerordentliche. Heraklit ist mit ihr unter den Griechen völlig einsam geblieben; es gibt keine zweite Konzeption dieser Art. Alle andern Systeme enthalten den Begriff der substanziellen Grundlage (ἀρχή, ἄπειρον, τὸ πλέον, ὕλη, τὸ πλῆρες und auch Platos Erscheinungswelt, γένεσις im Gegensatz zur Ideenwelt, αἰτία τῆς γενέσεως), und die Stoa, die sich später Heraklits Worte und Formeln aneignete, mußte sie erst mit demokritischem Geist erfüllen, um sie dem Zeitalter annehmbar zu machen. Daraus vor allem erklären[2] sich die häufigen Mißverständnisse in der Auffassung dieser Lehre, nicht weil sie uns ungenügend bekannt ist,1 sondern weil sie im Gegensatz zu der uns geläufigen Denkweise steht. Die Geschichte der Heraklitforschung zeigt, wie man, um sich einen schwierigen, fremdartigen Gedanken zu assimilieren, mangels einer angemessenen modernen Ausführung der Idee auf alle möglichen andern zurückgreift, um sich an bekannte Begriffe und Anschauungen halten zu können. Man darf zweifeln, ob irgendeine der möglichen Erklärungen noch nicht versucht worden ist. Heraklit erscheint als Schüler des Anaximander (Lassalle, Gomperz), des Xenophanes (Teichmüller), der Perser (Lassalle, Gladisch), der Ägypter (Tannery, Teichmüller), der Mysterien (Pfleiderer), als Hylozoist (Zeller), Empirist und Sensualist (Schuster), »Theologe« (Tannery), als Vorläufer Hegels (Lassalle). Sein großer Gedanke gleicht der Seele Hamlets: jeder versteht ihn, aber jeder anders. –

Der Versuch, die Ideen eines Philosophen, dem die scharfe, durch lange Übung geschulte Ausdrucksweise einer hochentwickelten Wissenschaft unbekannt war, ohne diese Genauigkeit zu beurteilen, führt nicht zum Ziele. Teichmüller (Bd. I S. 80) sagt: »Wer bei Heraklit exakte Begriffe sucht, gibt sich unnütze Mühe. – Bei Heraklit bestand die Philosophie nur in einer allegorischen Verallgemeinerung einiger auffallender Tatsachen. – Wollten wir schärfer bestimmen, so würden wir Heraklits Denkweise zerstören.« Eine Folge dieser Auffassung ist es, wenn man durch ungenügende Feststellung der Begriffe und unhaltbare Analogien zu den schwersten Irrtümern kommt. Ein Beispiel ist die Anwendung des Begriffs ἀρχή, den Anaximander für seine Philosophie geschaffen hat und der nur innerhalb des Hylozoismus[3] einen Sinn hat, auf andere, auch Heraklit, in dessen System er ganz gegenstandslos ist. Man muß vorsichtig, sogar skeptisch sein nicht nur in der Erklärung der griechischen Gedankenelemente an sich, sondern vor allem in ihrer Abgrenzung gegen die modernen. Wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Grundbegriffe das Ergebnis der ganzen Entwicklung der neueren Philosophie seit dem 16. Jahrhundert sind und nur in diesem Ideenkreis eine unbedingte Geltung haben. Den innerhalb so verschiedener Kulturen, wie es die antike und die neuere sind, entstandenen Gedankenkomplexen, die sich schon durch die verschiedene Auffassung vom Wesen der Wissenschaft überhaupt unterscheiden, entsprechen beiderseits durchaus eigentümliche Begriffe. Selbst ein so naheliegender wie der Begriff Materie ist bei Demokrit und in der modernen Naturwissenschaft nicht derselbe; dort liegt z.B. die Ursache der Bewegung im Wesen der Materie (τύχη), hier ist sie als an den Äther gebundene Energie ein selbständiger Faktor außerhalb.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin, daß Heraklit zwar seiner Anschauung gewiß war, ihr aber sprachlich nicht immer einen angemessenen Ausdruck gab. Nicht nur der Mangel einer wissenschaftlichen Sprache mit zweckmäßig geschaffenen Ausdrücken, auch nicht das Fehlen einer regelrechten Polemik unter diesen Philosophen, die zu einer scharfen und vorsichtigen Ausdrucksweise gezwungen hätte, sind der wichtigste Grund dafür, sondern die Unmöglichkeit, eine neue, dem Augenschein widersprechende Erkenntnis der Natur mit den gewohnten, unter andern Eindrücken und Meinungen entstandenen Wortsymbolen zu geben. Goethe, dessen Ansichten über die Natur von einem ähnlichen Geist getragen waren, bemerkte diese Grenze wohl. »Alle Sprachen sind aus naheliegenden menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allgemein menschlichen Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegendes auszudrücken. – Er muß bei seiner Anschauung ungewöhnlicher Naturverhältnisse stets nach[4] menschlichen Ausdrücken greifen, wobei er denn fast überall zu kurz kommt, seinen Gegenstand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet.« (Eckermann, Gespr. mit Goethe III, 20. Juni 1831.)

Eine Darstellung der gesamten Lehre Heraklits ist durch den Verlust seiner Schrift unmöglich geworden. Es soll hier lediglich eine Entwicklung des Prinzips versucht werden, das dieser Denker zur Grundlage seines Weltsystems machte und das mit wenigen Worten in eine Formel zu bringen ist: πάντα ῥεῖ, die Idee eines reinen gesetzmäßigen Werdens. Es liegt in den Worten, daß die Ausführung nach zwei Seiten zu erfolgen hat: das Werden selbst und sein Gesetz. Diese Trennung ist eine rein methodische. Ihr entspricht, wie betont werden muß, durchaus nicht eine dualistische Gliederung des heraklitischen Kosmos. Alle im folgenden erwähnten Gedanken sind ein und dasselbe Grundprinzip, das, als Einheit konzipiert, in den Fragmenten (und bei der aphoristischen Schreibweise Heraklits vielleicht schon in seinem Buche) nur in einer Anzahl verschiedener Darstellungen, wie sie der Fantasie eines leidenschaftlichen künstlerischen Menschen entsprangen, erhalten geblieben sind.

1

Die Meinung von Th. Gomperz (Wien. Sitzungsber. 113 [1886] S. 947). Die übrigen, hier benutzten Schriften sind: Schleiermacher, Herakleitos der Dunkle (Werke III. Abt. II. Bd.); Zeller, Philosophie der Griechen Bd. I; F. Lassalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos; P. Schuster, Heraklit von Ephesus; E. Pfleiderer, Die Philosophie des Heraklit von Ephesus; G. Teichmüller, Neue Studien zur Geschichte der Begriffe Bd. I, II; G. Schäfer, Die Philosophie des Heraklit von Ephesus und die moderne Heraklitforschung; G. Tannery, Rév. philos. 1883, XVI, Héraclite et le concept de Logos.

Quelle:
Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 1-5.
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