[138] Auf unbestimmte Zeit war ich wieder vor eine Aufgabe gestellt, die sich nicht aus einem äußeren Anlasse, sondern aus dem innern Werdegang meiner Welt- und Lebensanschauungen ergeben hatte. Und aus diesem hatte sich auch ergeben, daß ich in Rostock mit meiner Abhandlung über den Versuch einer »Verständigung des menschlichen Bewußtseins mit sich selbst« das Doktorexamen machte. Äußere Tatsachen bewirkten nur, daß ich es in Wien nicht machen konnte. Ich hatte die Realschule, nicht das Gymnasium offiziell hinter mir, hatte mir die Gymnasialbildung, Privatunterricht darin erteilend, auch privat angeeignet. Das schloß in Österreich das Doktorieren aus. Ich war in die »Philosophie« hineingewachsen, hatte aber einen offiziellen Bildungsgang hinter mir, der mich von allem ausschloß, in das den Menschen das Philosophiestudium hineinstellt.
Nun war am Ende meines ersten Lebensabschnittes mir ein philosophisches Werk in die Hände gefallen, das mich außerordentlich fesselte, die »Sieben Bücher Platonismus« von Heinrich v. Stein, der damals in Rostock Philosophie lehrte. Diese Tatsache führte dazu, daß ich bei dem lieben alten Philosophen, den mir sein Buch sehr wert machte und den ich nur bei dem Examen gesehen habe, meine Abhandlung einreichte.
Die Persönlichkeit Heinrichs v. Stein steht noch ganz lebendig vor mir. Fast so, als ob ich viel mit ihm durchlebt hätte. Denn die »Sieben Bücher Platonismus« sind der Ausdruck einer scharf geprägten philosophischen Individualität. Die Philosophie als Denkinhalt wird in diesem Werke nicht als etwas genommen, das auf eigenen Füßen steht. Plato wird allseitig als der Philosoph betrachtet, der eine solche auf sich selbst gestellte Philosophie suchte. Was er auf diesem Wege gefunden hat, wird von Heinrich v. Stein sorgfältig dargestellt. Man lebt sich in diesen ersten Kapiteln des Werkes ganz in die platonische Weltanschauung ein. Dann aber geht Stein über zu dem Hereinbrechen der Christus-Offenbarung in die Entwickelung der Menschheit. Dieses reale Hereinbrechen geistigen Lebens stellt er als das Höhere hin gegenüber dem Erarbeiten eines Denkinhaltes durch die bloße Philosophie.
Von Plato zu Christus wie zu der Erfüllung eines Erstrebten,[139] so könnte man kennzeichnen, was in der Darstellung Steins liegt. Dann verfolgt er weiter, wie in der christlichen Entwickelung der Weltanschauungen der Platonismus weiter wirkte.
Stein ist der Meinung, daß die Offenbarung von außen dem menschlichen Weltanschauungsstreben seinen Inhalt gegeben habe. Da konnte ich mit ihm nicht mitgehen. Mir war Erlebnis, daß die menschliche Wesenheit, wenn sie sich zur Verständigung mit sich selbst im geist-lebendigen Bewußtsein bringt, die Offenbarung haben könne, und daß diese dann im Ideen-Erleben Dasein im Menschen gewinnen könne. Aber ich empfand aus dem Buche etwas, das mich anzog. Das reale Leben des Geistes hinter dem Ideenleben, wenn auch in einer Form, die nicht die meinige war, bildete da den Impuls einer umfassenden geschichts-philosophischen Darstellung. Plato, der große Träger einer Ideenwelt, die der Erfüllung durch den Christus-Impuls harrte; das darzustellen ist der Sinn des Steinschen Buches. Mir stand dieses Buch, trotz des Gegensatzes, in dem ich mich zu ihm befand, viel näher als alle Philosophien, die nur aus Begriffen und Sinneserfahrungen heraus sich einen Inhalt erarbeiten.
Ich vermißte bei Stein auch das Bewußtsein, daß Platos Ideenwelt doch auch zu einer uralten Offenbarung der geistigen Welt zurückführt. Diese (vor-christliche) Offenbarung, die zum Beispiel in Otto Willmanns »Geschichte des Idealismus« eine sympathische Darstellung gefunden hat, tritt in Steins Anschauung nicht zutage. Er stellt den Platonismus nicht als den Ideenrest der Uroffenbarung hin, der dann im Christentum den verlorenen Geistgehalt in einer höheren Gestalt wiedererlangt hat; er stellt die platonischen Ideen wie einen aus sich selbst gesponnenen Begriffsinhalt hin, der dann durch Christus Leben gewonnen hat.
Doch ist das Buch eines von denjenigen, die mit philosophischer Wärme geschrieben sind; und sein Verfasser war eine Persönlichkeit, die von tiefer Religiosität durchdrungen, in der Philosophie den Ausdruck des religiösen Lebens suchte. Auf jeder Seite des dreibändigen Werkes wird man der dahinterstehenden Persönlichkeit gewahr. Es war, nachdem ich das Buch, besonders die Partien über das Verhältnis des Platonismus zum Christentum immer wieder gelesen hatte, für mich ein bedeutsames Erlebnis, dem Verfasser gegenüberzutreten.
Eine in ihrer ganzen Haltung ruhige Persönlichkeit, im höheren Alter, mit mildem Auge, das wie geeignet erschien, sanft[140] aber doch eindringlich auf den Entwickelungsgang von Schülern hinzuschauen; eine Sprache, die in jedem Satze die Überlegung des Philosophen im Ton der Worte an sich trug. So stand Stein gleich vor mir, als ich ihn vor dem Examen besuchte. Er sagte mir: Ihre Dissertation ist nicht so, wie man sie fordert; man sieht ihr an, daß Sie sie nicht unter der Anleitung eines Professors gemacht haben; aber was sie enthält, macht möglich, daß ich sie sehr gerne annehme. Ich hatte nun so stark gewollt, im mündlichen Examen über etwas gefragt zu werden, was mit den »Sieben Büchern Platonismus« zusammengehangen hätte; aber keine Frage bezog sich darauf; alle waren der Kantschen Philosophie entnommen.
Ich habe das Bild Heinrichs v. Stein immer tief eingeprägt in meinem Herzen getragen; und es wäre mir unbegrenzt lieb gewesen, dem Manne wieder zu begegnen. Das Schicksal hat mich nie wieder mit ihm zusammengebracht. Mein Doktorexamen gehört zu meinen liebsten Erinnerungen, weil der Eindruck von Steins Persönlichkeit weitaus alles andere, das damit zusammenhängt, überstrahlt.
Die Stimmung, mit der ich in Weimar eintrat, war gefärbt von meiner vorangehenden eingehenden Beschäftigung mit dem Platonismus. Ich meine, daß mir diese Stimmung viel geholfen hat, mich in meiner Aufgabe im Goethe- und Schiller-Archiv zurechtzufinden. Wie lebte Plato in der Ideenwelt, und wie Goethe? Das beschäftigte mich, wenn ich die Gänge von und zum Archiv machte; es beschäftigte mich auch, wenn ich über den Papieren des Goethenachlasses saß.
Diese Frage war im Hintergrunde, als ich anfangs 1891 meine Eindrücke von Goethes Naturerkenntnis (in dem Aufsatze »Über den Gewinn unserer Anschauungen von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten durch die Publikationen des Goethe-Archivs« im 12. Band des Goethe-Jahrbuches) in Worten aussprach wie diesen: »Es ist für die Mehrzahl der Menschen unmöglich, sich vorzustellen, daß etwas, zu dessen Erscheinung durchaus subjektive Bedingungen notwendig sind, doch eine objektive Bedeutung und Wesenheit haben kann. Und gerade von dieser letzteren Art ist die ›Urpflanze‹. Sie ist das objektiv in allen Pflanzen enthaltene Wesentliche derselben; wenn sie aber erscheinendes Dasein gewinnen soll, so muß sie der Geist des Menschen frei konstruieren.« Oder diesen: Eine rechte Erkenntnis der[141] Goetheschen Denkungsart »liefert nun auch die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, ob es der Auffassung Goethes gemäß ist, die Urpflanze oder das Urtier mit irgendeiner zu einer bestimmten Zeit vorgekommenen oder noch vorkommenden sinnlich-realen organischen Form zu identifizieren. Darauf kann nur mit einem entschiedenen ›Nein‹ geantwortet werden. Die ›Urpflanze‹ ist in jeder Pflanze enthalten, kann durch die konstruktive Kraft des Geistes aus der Pflanzenwelt gewonnen werden, aber keine einzelne, individuelle Form darf als typisch angesprochen werden.«
In das Goethe- und Schiller-Archiv trat ich nun als Mitarbeiter ein. Das war die Stätte, in der die Philologie vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts Goethes Nachlaß übernommen hatte. An der Spitze des Archivs stand, als Direktor, Bernhard Suphan. Mit ihm ergab sich auch, ich möchte sagen vom ersten Tage meines Weimarer Lebensabschnittes an, ein persönliches Verhältnis. Ich konnte oft in sein Haus kommen.
Daß Bernhard Suphan der Nachfolger Erich Schmidts, des ersten Direktors des Archivs, geworden war, hatte er seiner Freundschaft mit Herman Grimm zu verdanken.
Der letzte Goethenachkomme, Walter von Goethe, hatte Goethes Nachlaß der Großherzogin Sophie erblich hinterlassen. Diese hat das Archiv begründet, damit der Nachlaß in angemessener Art in das Geistesleben hineingestellt werde. Naturgemäß wandte sie sich an diejenigen Persönlichkeiten, von denen sie annehmen mußte, daß sie wissen konnten, was mit Goethes Papieren zu geschehen habe.
Da war zunächst Herr v. Loeper. Er war wie vorbestimmt, der Vermittler zu werden zwischen den Goethekennern und dem Weimarischen Hofe, dem die Verwaltung des Goethenachlasses anvertraut war. Denn er hatte es zu einer hohen Beamtenstellung im preußischen Hausministerium gebracht, stand so der Königin von Preußen, der Schwester des Großherzogs von Weimar nahe, und er war zugleich der wichtigste Mitarbeiter an der damals berühmtesten Goetheausgabe, der Hempelschen.
Loeper war eine eigenartige Persönlichkeit; eine höchst sympathische Mischung von Weltmann und Sonderling. Als Liebhaber, nicht als Fachmann war er in die »Goetheforschung« hineingewachsen. Aber er hatte es in ihr zu hohem Ansehen gebracht. In seinen Urteilen über Goethe, die in so schöner Art[142] in seiner Faustausgabe zutage traten, war er durchaus selbständig. Was er vorbrachte, hatte er von Goethe selbst gelernt. Da er nun raten sollte, wer Goethes Nachlaß am besten verwalten könne, mußte er auf diejenigen verfallen, denen er als Goethekennern durch seine eigene Tätigkeit an Goethe nahegetreten war.
Da kam zunächst Herman Grimm in Betracht. Als Kunsthistoriker ist Herman Grimm an Goethe herangetreten; als solcher hat er an der Berliner Universität Vorlesungen über Goethe gehalten, die er dann als Buch veröffentlicht hat. Aber er konnte sich zugleich als eine Art geistiger Nachkomme Goethes betrachten. Er wuchs aus denjenigen Kreisen des deutschen Geistesleben heraus, die stets eine lebendige Tradition von Goethe bewahrt hatten und die sich gewissermaßen in einer persönlichen Verbindung mit ihm denken konnten. Die Frau Herman Grimms war Gisela v. Arnim, die Tochter Bettinas, der Verfasserin des Buches: »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«.
Herman Grimm urteilte als kunstbegeisterter Mensch über Goethe. Er ist ja auch als Kunsthistoriker nur insoweit in die Gelehrsamkeit hineingewachsen, als ihm dies unter Wahrung einer persönlich gefärbten Stellung zur Kunst, als Kunstgenießer, möglich war.
Ich denke, mit Loeper, mit dem er durch das gemeinschaftliche Goethe-Interesse naturgemäß befreundet war, konnte sich Herman Grimm gut verständigen. Ich stelle mir vor, daß bei den beiden, wenn sie über Goethe sprachen, die menschliche Anteilnahme an dem Genius durchaus im Vordergrunde, die gelehrte Betrachtung aber im Hintergrunde stand.
Diese gelehrte Art, Goethe anzusehen, lebte nun in Wilhelm Scherer, dem Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Berliner Universität. In ihm mußten die beiden den offiziellen Kenner Goethes gelten lassen. Loeper tat das in kindlich harmloser Art. Herman Grimm mit einem gewissen inneren Widerstreben. Denn ihm war die philologische Betrachtungsweise, die in Scherer lebte, eigentlich nicht sympathisch.
An diese drei Persönlichkeiten kam die eigentliche Führung in der Verwaltung des Goethe-Nachlasses. Aber sie glitt doch stark ganz in die Hände Scherers hinüber. Loeper dachte wohl nicht daran, mehr als ratend und von außen mitarbeitend sich an der Aufgabe zu beteiligen; er hatte seine festen gesellschaftlichen[143] Zusammenhänge durch seine Stellung am preußischen Königshause. Herman Grimm dachte ebensowenig daran. Er konnte durch seine Stellung im Geistesleben nur Neigung haben, Gesichtspunkte und Richtlinien für die Arbeit anzugeben; für die Einrichtung der Einzelheiten konnte er nicht aufkommen.
Ganz anders stand die Sache für Wilhelm Scherer. Für ihn war Goethe ein gewichtiges Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. In dem Goethe-Archiv waren neue Quellen von unermeßlicher Bedeutung für dieses Kapitel zutage getreten. Da mußte denn die Arbeit des Goethe-Archivs in die allgemeine literarhistorische Arbeit systematisch eingegliedert werden. Der Plan zu einer Goethe-Ausgabe entstand, die im philologisch richtigen Sinne gestaltet sein sollte. Scherer übernahm die geistige Oberaufsicht; die Leitung des Archivs wurde seinem Schüler, der damals die Professur für neuere deutsche Literaturgeschichte in Wien innehatte, Erich Schmidt, übertragen.
Dadurch bekam die Arbeit am Goethe-Archiv ihr Gepräge. Aber auch alles andere, was im Goethe-Archiv und durch dieses geschah. Es trug alles den Charakter der damaligen philologischen Denk- und Arbeitsart.
In Wilhelm Scherer hat die literargeschichtliche Philologie nach einer Nachahmung der damaligen naturwissenschaftlichen Methoden gestrebt. Man nahm die gebräuchlichen naturwissenschaftlichen Ideen und wollte die philologisch-literarhistorischen ihnen nachbilden. Woher ein Dichter etwas entlehnt hat, wie das Entlehnte sich in ihm umgebildet hat, wurden die Fragen, die man einer Entwickelungsgeschichte des Geisteslebens zum Grunde legte. Die dichterischen Persönlichkeiten verschwanden aus der Betrachtung; eine Anschauung davon, wie sich »Stoffe«, »Motive« durch die Persönlichkeiten hindurch entwickelten, trat auf. Ihren Höhepunkt erreichte diese Anschauungsart in Erich Schmidts großer Lessing-Monographie. In dieser ist nicht Lessings Persönlichkeit die Hauptsache, sondern eine höchst sorgfältige Betrachtung des Minna-von-Barnhelm-, des Nathan-Motivs usw.
Scherer starb früh, bald nachdem das Goethe-Archiv errichtet war. Seine Schüler waren zahlreich. Erich Schmidt wurde vom Goethe-Archiv hinweg an seine Stelle in Berlin berufen. Herman Grimm setzte es dann durch, daß nicht einer der zahlreichen Schüler Scherers die Direktion des Archivs erhielt, sondern Bernhard Suphan.[144]
Dieser war vorher seiner Stellung nach Gymnasiallehrer in Berlin. Er hatte sich zugleich der Herausgabe von Herders Werken unterzogen. Dadurch schien er gut vorbestimmt, auch die Leitung der Goethe-Ausgabe zu übernehmen.
Erich Schmidt behielt noch einen gewissen Einfluß; dadurch waltete Scherers Geist an der Goethe-Arbeit fort. Aber die Ideen Herman Grimms traten daneben, wenn auch nicht in der Arbeitsweise, so doch inner halb des persönlichen Verkehrs im Goethe-Archiv stärker hervor.
Bernhard Suphan war, als ich nach Weimar kam und in ein näheres Verhältnis zu ihm trat, ein persönlich hartgeprüfter Mann. Er hatte zwei Frauen, die Schwestern waren, frühzeitig ins Grab sinken sehen. Mit seinen beiden Knaben lebte er nun in Weimar, trauernd um die Dahingeschiedenen, ohne jegliche Lebensfreude. Sein einziger Lichtpunkt war das Wohlwollen, das ihm die Großherzogin Sophie, seine von ihm ehrlich verehrte Herrin, entgegenbrachte. In dieser Verehrung war nichts von Servilismus; Suphan liebte und bewunderte die Großherzogin ganz persönlich.
In treuer Anhänglichkeit war Suphan Herman Grimm zugetan. Er war vorher, in Berlin, wie ein Mitglied im Hause Grimm angesehen worden, hatte mit Befriedigung in der geistigen Atmosphäre geatmet, die in diesem Hause war. Aber es lag in ihm etwas, das ihn mit dem Leben nicht zurechtkommen ließ. Man konnte wohl mit ihm über die höchsten geistigen Angelegenheiten sprechen; aber es kam leicht etwas Säuerliches, das von seiner Empfindung ausging, in das Gespräch. Vor allem waltete dieses Säuerliche in seiner eigenen Seele; dann half er sich durch einen trockenen Humor über diese Empfindung hinweg. Und so konnte man mit ihm nicht warm werden. Er konnte in einem Atemzug ganz sympathisch das Große erfassen, und, ohne Übergang, in Kleinlich-Triviales verfallen. Er stand mir dauernd mit Wohlwollen gegenüber. Für die geistigen Interessen, die in meiner Seele lebten, hatte er keine Anteilnahme, behandelte sie wohl auch zuweilen vom Gesichtspunkte seines trockenen Humors; für meine Arbeitsrichtung im Goethe-Archiv und für mein persönliches Leben hatte er aber das größte Interesse.
Ich kann nicht in Abrede stellen, daß mich manchmal recht unangenehm berührte, was Suphan tat, wie er sich in der Führung[145] des Archivs und in der Leitung der Goethe-Ausgabe verhielt; ich habe daraus nie ein Hehl gemacht. Aber, wenn ich auf die Jahre zurückblicke, die ich mit ihm durchlebt habe, so überwiegt doch eine starke innere Anteilnahme an dem Schicksal und an der Persönlichkeit des schwer geprüften Mannes. Er litt am Leben und er litt an sich. Ich sah, wie er gewissermaßen immer mehr mit guten Seiten seines Charakters und seiner Fähigkeiten in ein bodenloses, wesenloses Grübeln versank, das in seiner Seele aufstieg. Als das Goethe- und Schiller-Archiv in das neue, an der Ilm gebaute Haus einzog, sagte Suphan, er komme sich vor gegenüber der Eröffnung dieses Hauses wie eines der Menschenopfer, die in uralten Zeiten vor den Toren geheiligter Gebäude zum Segen der Sache eingemauert wurden. Er hatte sich auch allmählich ganz in die Rolle eines für die Sache, mit der er sich doch nicht ganz verbunden fühlte, Geopferten hineinphantasiert. Wie ein Lasttier der Goethe-Arbeit, das keine Freude empfinden konnte an einer Aufgabe, bei der andere mit höchster Begeisterung hätten sein können, empfand er sich. In dieser Stimmung fand ich ihn später immer, wenn ich ihn nach meinem Weggang von Weimar traf. Er endete durch Selbstmord in getrübtem Bewußtsein.
Außer Bernhard Suphan wirkte am Goethe- und Schiller-Archiv zur Zeit meines Eintrittes Julius Wahle. Er war noch von Erich Schmidt berufen worden. Wahle und ich waren einander schon zur Zeit meines ersten Aufenthaltes in Weimar nahegekommen; es bildete sich zwischen uns eine herzliche Freundschaft aus. Wahle arbeitete an der Herausgabe von Goethes Tagebüchern. Als Archivar wirkte Eduard von der Hellen, der auch die Ausgabe von Goethes Briefen besorgte.
An »Goethes Werken« wirkte ein großer Teil der deutschen Germanistenwelt mit. Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen von Professoren und Privatdozenten der Philologie. Man war mit diesen dann auch außerhalb der Archivstunden während ihrer längeren und kürzeren Besuche viel zusammen. Man konnte sich ganz in die Interessenkreise dieser Persönlichkeiten einleben.
Außer diesen eigentlichen Mitarbeitern an der Goethe-Ausgabe wurde das Archiv von zahlreichen Persönlichkeiten besucht, die sich für das eine oder das andere der reichen Handschriftensammlungen deutscher Dichter interessierten. Denn das Archiv wurde nach und nach die Sammelstätte vieler Dichter-Nachlässe.[146] Und auch andere Interessenten kamen, die zunächst weniger mit Handschriften zu tun hatten, die nur innerhalb der Archivräume in der vorhandenen Bibliothek studieren wollten. Auch viele Besucher, die nur die Schätze des Archivs sehen wollten, gab es.
Eine Freude war es allen, die im Archiv arbeiteten, wenn Loeper erschien. Er trat mit sympathisch-liebenswürdigen Bemerkungen ein. Er ließ sich sein Arbeitsmaterial geben, setzte sich hin und arbeitete nun stundenlang mit einer Konzentration, die man selten an einem Menschen bemerken kann. Was auch um ihn herum vorging, er blickte nicht auf. – Sollte ich nach einer Personifikation der Liebenswürdigkeit suchen: ich würde Herrn v. Loeper wählen. Liebenswürdig war seine Goethe-Forschung, liebenswürdig jedes Wort, das er zu jemand sprach. Besonders liebenswürdig war die Prägung, die sein ganzes Seelenleben dadurch angenommen hatte, daß er fast immer nur daran zu denken schien: wie bringt man Goethe der Welt zum rechten Verständnis? Ich saß einmal neben ihm bei einer Faust-Aufführung im Theater. Ich fing an, über die Art der Darstellung, über das Schauspielerische zu sprechen. Er hörte gar nicht, was ich sagte. Aber er erwiderte: »Ja, diese Schauspieler sprechen ja oft Worte und Wendungen, die mit den Goetheschen nicht ganz stimmen.« Noch liebenswürdiger erschien mir Loeper in seiner »Zerstreutheit«. Als ich in der Pause auf etwas zu sprechen kam, wobei man eine Zeitdauer ausrechnen sollte, sagte Loeper: »Also die Stunde zu 100 Minuten, die Minute zu 100 Sekunden ...« Ich schaute ihn an und sagte: »Exzellenz, 60.« Er nahm seine Uhr heraus, prüfte, lächelte herzlich, zählte und sprach: »Ja, ja, 60 Minuten, 60 Sekunden.« Ähnliche Proben von »Zerstreutheit« erlebte ich viele bei ihm. Aber selbst über solche Proben der Eigenart von Loepers Seelenverfassung konnte ich nicht lachen, denn sie erschienen als eine notwendige Beigabe des ganz posenlosen, unsentimentalischen, ich möchte sagen, graziösen Ernstes dieser Persönlichkeit, der zugleich anmutig wirkte. Er sprach in etwas sich übersprudelnden Sätzen, fast ohne allen Tonfall; aber man hörte durch die farblose Sprache eine starke Artikulation der Gedanken.
Geistige Vornehmheit zog in das Archiv ein, wenn Herman Grimm erschien. Von dem Zeitpunkte an, da ich – noch in Wien – sein Goethe-Buch gelesen hatte, lebte zu seiner Geistesart[147] die tiefste Neigung in mir. Und da ich ihm im Archiv zum erstenmal begegnen durfte, hatte ich fast alles gelesen, was bis dahin von ihm erschienen war. Durch Suphan wurde ich denn bald näher mit ihm bekannt. Er lud mich dann einmal, als Suphan nicht in Weimar anwesend war und er zum Besuch ins Archiv kam, zu einem Mittagessen in sein Hotel ein. Ich war allein mit ihm. Ihm war offenbar sympathisch, wie ich auf seine Art, Welt und Leben anzusehen, eingehen konnte. Er wurde mitteilsam. Er sprach zu mir von seiner Idee einer »Geschichte der deutschen Phantasie«, die er in seiner Seele trug. Ich bekam damals den Eindruck, daß er eine solche schreiben wolle. Es ist nicht dazu gekommen. Aber er setzte mir schön auseinander, wie der fortlaufende Strom des geschichtlichen Werdens seine Impulse in der schaffenden Volksphantasie habe, die in seiner Auffassung den Charakter eines lebenden, wirkenden übersinnlichen Genius annahm. Ich war während dieses Mittagsmahles ganz erfüllt von den Ausführungen Herman Grimms. Ich glaubte zu wissen, wie die übersinnliche Geistigkeit durch Menschen wirkt. Ich hatte einen Mann vor mir, dessen Seelenblick bis zu der schaffenden Geistigkeit reicht, der aber nicht das Eigenleben dieser Geistigkeit erkennend ergreifen will, sondern der in der Region verbleibt, wo sich im Menschen das Geistige als Phantasie auslebt.
Herman Grimm hatte eine besondere Gabe, größere oder kleinere Epochen der Geistesgeschichte zu überschauen und das Überschaute in präzisen, geistvollen epigrammatischen Charakteristiken darzustellen. Wenn er eine einzelne Persönlichkeit, wenn er Michel Angelo, Raphael, Goethe, Homer schilderte, so erschien seine Darstellung immer auf dem Hintergrunde solcher Überschauen. Wie oft habe ich doch seinen Aufsatz gelesen, in dem er Griechentum, Römertum, Mittelalter in seinen schlagenden Überblicken charakterisiert. Der ganze Mann war die Offenbarung eines einheitlichen Stiles. Wenn er seine schönen Sätze im mündlichen Gespräche prägte, so hatte ich die Vorstellung: das könnte genauso in einem Aufsatze von ihm stehen; und wenn ich, nachdem ich ihn kennen gelernt hatte, einen Aufsatz von ihm las, so vermeinte ich, ihn sprechen zu hören. Er ließ sich keine Lässigkeit im mündlichen Gespräche durch; aber er hatte das Gefühl, man müsse im künstlerisch-schriftstellerischen Darstellen der Mensch bleiben, als der man alltäglich herumwandelt.[148] Aber Herman Grimm wandelte eben in der Alltäglichkeit nicht so herum wie andere Menschen. Es war ihm selbstverständlich, ein stilisiertes Leben zu führen.
Wenn Herman Grimm in Weimar und im Archiv erschien, dann fühlte man die Nachlaßstätte wie durch geheime geistige Fäden mit Goethe verbunden. Nicht so, wenn Erich Schmidt kam. Er war nicht durch Ideen, sondern durch die historisch-philologische Methode mit den Papieren verbunden, die im Archiv aufbewahrt waren. Ich konnte nie ein menschliches Verhältnis zu Erich Schmidt gewinnen. Und so ging denn an mir ziemlich interesselos vorbei, was sich an großer Verehrung für diesen in den Kreisen aller derer auslebte, die als Scherer-Philologen im Archiv arbeiteten.
Sympathische Augenblicke waren es immer, wenn der Großherzog Karl Alexander im Archiv erschien. Eine in vornehmer Haltung auftretende, aber innerlich wahre Begeisterung für alles, was an Goethe anknüpfte, lebte in dieser Persönlichkeit. Durch sein Alter, seine lange Verbindung mit vielem Bedeutenden im deutschen Geistesleben, durch seine gewinnende Liebenswürdigkeit machte er einen wohltuenden Eindruck. Es war ein befriedigender Gedanke, ihn als Beschützer der Goethe-Arbeit im Archiv zu wissen.
Die Großherzogin Sophie, die Besitzerin des Archivs, sah man in diesem nur bei besonders feierlichen Anlässen. Wenn sie etwas zu sagen hatte, ließ sie Suphan zu sich rufen. Die mitarbeitenden Besucher wurden zu ihr geführt, um ihr vorgestellt zu werden. Ihre Fürsorge für das Archiv war aber eine außerordentliche. Sie bereitete damals persönlich alles vor, was zum Bau eines staatlichen Hauses führen sollte, in dem die Dichternachlässe würdig untergebracht werden sollten.
Auch der Erbgroßherzog Karl August, der, bevor er zur Regierung kam, gestorben ist, kam öfter ins Archiv. Sein Interesse an all dem, was da vorhanden war, ging nicht tief, aber er unterhielt sich gerne mit uns Mitarbeitenden. Er betrachtete es mehr als Pflicht, sich für die Angelegenheiten des geistigen Lebens zu interessieren. Warm aber war das Interesse der Erbgroßherzogin Pauline. Mit ihr konnte ich manches Gespräch über die Dinge führen, die Goethe, Dichtung usw. betrafen. Das Archiv stand in bezug auf seinen Verkehr zwischen der wissenschaftlichen, künstlerischen und der Weimarischen Hofgesellschaft[149] darinnen. Von beiden Seiten her erhielt es seine eigene gesellschaftliche Färbung. Kaum hatte sich die Türe hinter einem Kathedermann geschlossen, so ging sie wieder für irgendeine fürstliche Persönlichkeit auf, die am Hofe zum Besuche erschienen war. Viele Menschen aller gesellschaftlichen Stellungen nahmen teil an dem, was im Archiv geschah. Es war im Grunde ein reges, in vieler Beziehung anregendes Leben.
In der unmittelbaren Nachbarschaft des Archivs war die Weimarische Bibliothek. In ihr hauste ein Mann mit kindlichem Gemüte und einer schier unbegrenzten Gelehrsamkeit, Reinhold Köhler, als Oberbibliothekar. Die Mitarbeiter des Archivs hatten oft dort zu tun. Denn was sie im Archiv als literarische Hilfsmittel ihrer Arbeit hatten, fand dort seine wichtige Ergänzung. Reinhold Köhler war in einzigartiger Umfänglichkeit bewandert in der Mythen-, Märchen- und Sagenschöpfung; sein Wissen auf sprachgelehrtem Gebiet war von der bewunderungswürdigsten Universalität. Er wußte Rat im Aufsuchen der verborgensten Literaturbelege. Dabei war er von rührender Bescheidenheit, von herzlichstem Entgegenkommen. Er ließ es sich nie nehmen, die Bücher, die man brauchte, selbst von ihren Ruheplätzen her in das Bibliotheksarbeitszimmer, wo man arbeitete, zu holen. Ich kam einmal hin, bat um ein Buch, das Goethe bei seinen botanischen Studien benützt hatte, um es einzusehen. Reinhold Köhler holte den Schmöker, der wohl seit Jahrzehnten unbenützt ganz oben irgendwo gelagert hatte. Er kam längere Zeit nicht zurück. Man schaute nach, wo er blieb. Er war von der Leiter gefallen, auf der er zur Besorgung des Buches zu klettern hatte. Ein Bruch eines Oberschenkelknochens. Die liebe, edle Persönlichkeit konnte sich von den Folgen des Unfalles nicht mehr erholen. Nach langem Kranksein starb der weithin verehrte Mann. Ich litt unter dem schmerzlichen Gedanken, daß sein Unfall bei dem Besorgen eines Buches für mich geschehen war.
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