Kapitel 5

[55] Nachdem nun dieses erkannt worden ist, ist offenbar, wie Wesen in verschiedenen Dingen vorgefunden wird. Es findet sich nämlich eine dreifache Art und Weise, Wesen zu haben im Falle der Substanzen. Es gibt nämlichetwas wie Gott, dessen Wesen sein Sein selbst ist; und daher finden sich einige Philosophen, die behaupten, Gott habe keine Washeit oder kein Wesen, weil sein Wesen nichts anderes sei als sein Sein. Und daraus folgt, daß Gott nicht unter eine Gattung fällt; denn alles, was unter eine Gattung fällt, muß Washeit außer seinem Sein haben, da sich die Washeit oder Natur der Gattung oder der Art gemäß der Beschaffenheit der Natur (der Gattung oder der Art) nicht sondert in den Dingen, zu denen die Gattung oder die Art gehört, sondern das Sein ist verschieden in den verschiedenen Dingen.

Aber wir dürfen, wenn wir sagen, daß Gott nur Sein ist, nicht in den Irrtum jener verfallen, die behauptet haben, Gott sei jenes allgemeine Sein, wodurch jedes beliebige Ding der Form nach sei. Dieses Sein nämlich, das Gott ist, ist von einer derartigen Beschaffenheit, daß zu ihm keine Hinzufügung gemacht werden kann, weshalb es durch eben seine Reinheit ein von jedem Sein unterschiedenes Sein ist; deswegen heißt es in der Erklärung des 9. Satzes der Schrift »Die Ursachen«, daß die Individuation der ersten Ursache, die nur Sein ist, durch deren reine Güte (Vorzüglichkeit) geschieht. Das gemeinsame Sein aber schließt zwar in seinen Begriff keine Hinzufügung ein, aber dennoch schließt es in seinen Begriff keinen Ausschluß einer Hinzufügung ein; denn, wenn dies der Fall wäre, könnte gar kein Sein gedacht werden, bei dem über das Sein hinaus etwas hinzugefügt würde.

Ebenso auch, obwohl Gott nur Sein ist, dürfen ihm die übrigen Vollendungen und Vorzüge nicht fehlen. Im Gegenteil, er hat alle Vollendungen, die in allen Gattungen sind, weswegen er das schlechthin Vollendete heißt, wie der Philosoph im und der Kommentator zum 5. Buch der »Metaphysik« sagen;aber er hat diese Vollendungen in einer hervorragenderen Weise als alle Dinge, weil sie in ihm eines sind, aber in den anderen Dingen Verschiedenheit haben. Und dies ist, weil alle jene Vollendungen ihm gemäß seinem einfachen Sein zukommen; so wie, wenn jemand durch eine einzige Eigenschaft die Tätigkeiten aller Eigenschaften hervorbringen könnte, er in jener einen Eigenschaft alle Eigenschaften hätte, so hat Gott in eben seinem Sein alle Vollendungen.

Auf eine zweite Art und Weise findet sich Wesen in den geschaffenen übersinnlich erkennenden Substanzen, bei denen das Sein etwas anderes als deren Wesen ist, obwohl (deren) Wesen ohne Materie ist. Daher ist deren Sein nicht absolut, sondern empfangen, und daher ist es eingeschränkt und begrenzt auf die Aufnahmefähigkeit der aufnehmenden Natur; aber deren Natur oder Washeit ist absolut, nicht aufgenommen in eine Materie. Und daher heißt es in der Schrift »Die Ursachen«, daß die Geister nach unten unbegrenzt und nach oben begrenzt sind; sie sind nämlich begrenzt, was ihr Sein angeht, das sie von einem Höheren empfangen, jedoch nach unten werden sie nicht begrenzt, weil deren Formen nicht auf die Aufnahmefähigkeit einer die Formen aufnehmenden Materie eingeschränkt werden. Und daher findet sich im Falle solcher Substanzen keine Vielheit von Individuen in ein und derselben Art, wie gesagt worden ist, außer im Falle der menschlichen Seele wegen des Körpers, mit dem sie vereinigt wird. Und wenn auch die Individuation der menschlichen Seele vom Körper wie von einer Gelegenheit abhängt, was den Anfang der Individuation angeht, weil die menschliche Seele das individuierte Sein nur in dem Körper erhält, dessen Aktualität sie ist, verschwindet dennoch nicht zwangsläufig nach Entfernung des Körpers die Individuation. Denn, da die menschliche Seele ein(vom Körper) unabhängiges Sein hat, wenn sie das individuierte Sein aufgrund der Tatsache, daß sie zur Form dieses Körpers gemacht worden ist, erhalten hat, bleibt jenes Sein immer individuiert. Und daher sagt Avicenna, daß die Individuation der Seelen und ihre Vervielfältigung vom Körper abhängt, was ihren Anfang angeht, jedoch nicht, was ihr Ende angeht.

Und weil im Falle jener Substanzen die Washeit nicht dasselbe ist wie das Sein, daher lassen sich jene unter eine Gattung ordnen; und deswegen findet sich im Falle dieser Substanzen Gattung und Art und Unterschied, obwohl deren wesentliche Unterschiede uns verborgen sind. Bei den sinnlich wahrnehmbaren Dingen sind nämlich ebenfalls die wesentlichen Unterschiede unbekannt; daher werden die sinnlich wahrnehmbaren Dinge durch nichtwesentliche Unterschiede bezeichnet, die aus den wesentlichen entspringen, so wie die Ursache durch ihre Wirkung bezeichnet wird. So wird zum Beispiel zweibeinig als Unterschied des Menschen angeführt. Die wesentlichen Eigenschaften der immaterialen Substanzen aber sind uns unbekannt, weshalb wir deren Unterschiede weder durch diese selbst noch durch die nichtwesentlichen Unterschiede bezeichnen können.

Jedoch muß man wissen, daß nicht auf dieselbe Art und Weise Gattung und Unterschied im Falle jener Substanzen und im Falle der sinnlich wahrnehmbaren Substanzen verstanden werden, weil im Falle der sinnlich wahrnehmbaren Substanzen die Gattung von dem hergenommen wird, was das Materiale in einem Ding ist, der Unterschied aber von dem, was das Formale in ihm ist; daher sagt Avicenna am Anfang seiner Schrift »Die Seele«, daß die Form im Falle der aus Materie und Form zusammengesetzten Dinge »ein einfacher Unterschied dessen ist, wasaus ihr besteht«: aber nicht so, daß die Form selbst der Unterschied ist, sondern so, daß sie das Prinzip (Ursache) des Unterschieds ist, wie derselbe Avicenna in seiner »Metaphysik« sagt. Und von einem solchen Unterschied sagt man, er sei ein einfacher Unterschied, weil er von dem hergenommen wird, was ein Teil der Washeit eines Dinges ist, nämlich von der Form. Da aber die immaterialen Substanzen einfache Washeiten sind, kann in ihrem Falle der Unterschied nicht von dem hergenommen werden, was ein Teil der Washeit ist, sondern (er wird) von der ganzen Washeit (hergenommen); und daher sagt Avicenna am Anfang von »Die Seele«, daß »einen einfachen Unterschied nur die Arten haben, deren Wesen aus Materie und Form zusammengesetzt sind«.

Ebenso wird auch im Falle der immaterialen Substanzen vom ganzen Wesen die Gattung hergenommen, jedoch auf verschiedene Art und Weise. Eine getrennte (von Materie freie) Substanz nämlich stimmt mit der anderen in der Immaterialität überein, und sie unterscheiden sich voneinander im Grad der Vollendung gemäß der Entfernung von der Potentialität und der Nähe zu der reinen Aktualität. Und daher wird in ihrem Falle die Gattung von dem hergenommen, was sie begleitet, insoweit sie immaterial sind, so wie die Geisthaftigkeit oder etwas dergleichen ist; von dem aber, was bei ihnen den Grad der Vollendung begleitet, wird in ihrem Falle der Unterschied hergenommen, jedoch uns ist er unbekannt. Aber diese Unterschiede dürfen keine unwesentlichen sein, weil sie (letztere) gemäß einer größeren und geringeren Vollendung sind, sie, die die Art nicht verschieden machen; der Grad der Vollendung im Aufnehmen derselben Form nämlich macht die Art nicht verschieden, so wie das Weißere und das weniger Weiße im Falle des Teilnehmens an der Weißedesselben Sinnes (die Art nicht verschieden machen): sondern der verschiedene Grad der Vollendung im Falle der Formen oder Naturen selbst, an denen eine Teilnahme stattgefunden hat, macht die Art verschieden, so wie die Natur gradweise von den Pflanzen zu den Tieren über einiges, was in der Mitte zwischen den Tieren und den Pflanzen steht, fortschreitet, nach dem Philosophen im 7. Buch von »Die Tiere«. Außerdem ist es aber nicht notwendig, daß die Einteilung der übersinnlich erkennenden Substanzen immer durch zwei wirkliche Unterschiede geschieht, weil es unmöglich ist, daß dies bei allen Dingen geschieht, wie der Philosoph im 11. Buch von »Die Tiere« sagt.

Auf eine dritte Art und Weise findet sich Wesen in den aus Materie und Form zusammengesetzten Substanzen, bei denen sowohl das Sein empfangen und begrenzt ist wegen der Tatsache, daß sie von einem anderen das Sein haben, als auch außerdem deren Natur oder Washeit in die bezeichnete Materie aufgenommen ist. Und daher sind die aus Materie und Form zusammengesetzten Substanzen sowohl nach oben als auch nach unten begrenzt; und in ihrem Falle ist ferner wegen der Teilung der bezeichneten Materie eine Vervielfältigung der Individuen hinsichtlich einer einzigen Art möglich. Und wie sich im Falle dieser Substanzen Wesen zu den logischen Begriffen verhält, ist oben gesagt worden.

Quelle:
Thomas von Aquin: De ente et essentia – Das Seiende und das Wesen. Stuttgart 21987, S. 55-65.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Seiende und das Wesen
Das Seiende und das Wesen
De ente et essentia /Das Seiende und das Wesen: Lat. /Dt.
De ente et essentia. Über das Seiende und das Wesen: Lateinisch - Deutsch
De Ente et Essentia. Vom Seienden und Wesen: Lateinisch - Deutsch
Über das Seiende und das Wesen

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon