Kapitel 4

[43] Nun steht noch aus zu erkennen, wie es sich mit Wesen im Falle der getrennten (von Materie freien) Substanzen, nämlich im Falle der Seele, des Geistes und der ersten Ursache verhält. Obwohl nun aber alle die Einfachheit der ersten Ursache zugeben, streben jedoch einige, eine Zusammensetzung von Form und Materie in die Geister und in die Seele einzuführen. Der Urheber dieser Annahme scheint Avicebron gewesen zu sein, der Verfasser der Schrift »Quelle des Lebens«. Dies steht aber allgemein in Widerspruch zu den Aussagen der Philosophen, weil sie diese Substanzen von Materie getrennte nennen und beweisen, daß sie ohne jede Materie sind. Der hauptsächlichste Beweis hierfür leitet sich aus der Kraft des übersinnlichen Erkennens her, die in diesen Substanzen ist. Wir sehen nämlich, daß die Formen aktuell erkennbar sind, nur insofern sie von Materie und deren Beschaffenheiten getrennt werden, und sie werden aktuell erkennbar gemacht nur durch die Kraft der übersinnlich erkennenden Substanz, insofern sie in diese aufgenommen und insofern sie durch diese zustande gebracht werden. Daher muß im Falle jeder beliebigen übersinnlich erkennenden Substanz ganz und gar Freiheit von Materie herrschen, derart, daß sie weder Materie als einen Teil ihrer selbst hat, noch auch so wie eine in Materie eingeprägte Form ist, wie es bei den an Materie gebundenen Formen der Fall ist.

Es kann aber niemand sagen, daß nicht jede beliebige Materie, sondern nur die körperliche Materie der Erkennbarkeit im Wege steht. Wenn nämlich dies nur wegen der körperlichen Materie wäre, dann müßte, da Materie eine körperliche genannt wird, nur insofern sie unter einer an Körper gebundenen Form steht, die Materie dies, nämlich der Erkennbarkeit imWege stehen, von der an Körper gebundenen Form haben. Und das kann nicht sein, weil eben auch die an Körper gebundene Form aktuell erkennbar ist so wie andere Formen, insofern sie von der Materie losgelöst wird. Daher liegt im Falle der Seele oder im Falle des Geistes in keiner Weise eine Zusammensetzung aus Materie und Form vor, so daß dann ein Wesen in ihnen angenommen werden könnte so wie in den körperlichen Substanzen. Aber es liegt dort Zusammensetzung von Form und Sein vor; daher heißt es in der Erklärung des 9. Satzes der Schrift »Die Ursachen«, daß Geist etwas ist, das Form und Sein hat. Und es wird dort Form verstanden eben wie Washeit oder einfache Natur.

Und wie sich dies verhält, ist klar zu erkennen. Was auch immer nämlich sich so zueinander verhält, daß das eine die Ursache des Seins des anderen ist, jenes, was die Ursache ist, kann Sein haben ohne das andere, aber nicht umgekehrt. Das Verhältnis von Materie und Form aber erweist sich als ein solches, daß die Form der Materie Sein verleiht, und daher ist es unmöglich, daß die Materie ohne eine Form ist; jedoch ist es nicht unmöglich, daß eine Form ohne Materie ist, Form nämlich, insofern sie Form ist, hat kein Abhängigkeitsverhältnis zur Materie. Aber wenn sich etwa manche Formen finden, die nur in Verbindung mit Materie sein können, so kommt ihnen dies zu, insofern sie vom ersten Prinzip (Ursache), das erste und reine Aktualität ist, entfernt sind. Daher sind jene Formen, die dem ersten Prinzip am nächsten sind, für sich allein ohne Materie bestehende Formen, es bedarf nämlich nicht die Form ihrer ganzen Gattung nach der Materie, wie gesagt worden ist; und derartige Formen sind die Geister, und daher dürfen die Wesen oder Washeiten dieser Substanzen nichts anderes als eben Form sein.[45]

Darin also unterscheiden sich das Wesen der zusammengesetzten Substanz und das der einfachen Substanz, daß das Wesen der zusammengesetzten Substanz nicht nur Form ist, sondern Form und Materie umfaßt, das Wesen der einfachen Substanz aber nur Form ist. Und daraus entstehen zwei weitere Unterschiede. Der eine Unterschied ist, daß das Wesen einer zusammengesetzten Substanz als Ganzes oder als Teil bezeichnet werden kann, was wegen der Bezeichnung der Materie geschieht, wie gesagt worden ist. Und daher wird nicht auf jede beliebige Weise das Wesen eines zusammengesetzten Dinges von dem zusammengesetzten Ding selbst ausgesagt: man kann nämlich nicht sagen, daß ein Mensch seine Washeit ist. Aber das Wesen eines einfachen Dinges, das die Form des einfachen Dinges ist, kann nur als Ganzes bezeichnet werden, da es dort außer der Form nichts gibt, das gleichsam die Form aufnimmt; und daher wird, wie auch immer das Wesen einer einfachen Substanz verstanden werden mag, dieses von ihr ausgesagt. Daher sagt Avicenna, daß »die Washeit eines Einfachen das Einfache selbst ist«, weil es nichts anderes gibt, das die Washeit aufnimmt. Der zweite Unterschied ist, daß die Wesen der zusammengesetzten Dinge aufgrund der Tatsache, daß sie in die bezeichnete Materie aufgenommen werden, gemäß der Teilung dieser Materie vervielfältigt werden, weshalb es kommt, daß manches der Art nach dasselbe und der Zahl nach verschieden ist. Aber da das Wesen eines Einfachen nicht in die Materie aufgenommen ist, kann es dort keine solche Vervielfältigung geben; und daher finden sich zwangsläufig im Falle jener Substanzen nicht mehrere Individuen derselben Art, sondern, wie viele Individuen es dort gibt, so viele Arten gibt es dort, wie Avicenna ausdrücklich sagt.[47]

Obwohl also derartige Substanzen nur Formen ohne Materie sind, herrscht im Falle dieser dennoch keine völlige Einfachheit, noch sind sie reine Aktualität, sondern sie sind mit Potentialität vermischt; und dies ist, wie folgt, offenbar. Was nämlich auch immer nicht zum Begriff des Wesens oder der Washeit gehört, das ist etwas, das von außen kommt und eine Zusammensetzung mit dem Wesen bildet, weil kein Wesen ohne das, was die Teile des Wesens sind, gedacht werden kann. Jedes Wesen oder jede Washeit aber kann gedacht werden, ohne daß man etwas über sein (ihr) Sein weiß: ich kann nämlich wissen, was ein Mensch oder ein Phönix ist, und dennoch nicht wissen, ob er Sein im Reich der Wirklichkeit hat. Also ist offenbar, daß das Sein etwas anderes ist als Wesen oder Washeit. Außer es gibt vielleicht ein Ding, dessen Washeit eben sein Sein ist, und dieses Ding kann es nur einmal und als Erstes geben: denn es ist unmöglich, daß eine Vervielfältigung von etwas geschieht, außer durch Hinzufügung eines Unterschieds, so wie die Natur der Gattung in Arten vervielfältigt wird; oder dadurch, daß die Form in verschiedene Materien aufgenommen wird, so wie die Natur der Art in verschiedenen Individuen vervielfältigt wird; oder dadurch, daß eines für sich ist und ein anderes in etwas aufgenommen, so wie, wenn es eine abgesonderte Wärme gäbe, diese etwas anderes als eine nicht abgesonderte Wärme wäre aufgrund eben ihrer Absonderung. Wenn man aber etwa ein Ding annimmt, das nur Sein ist, so daß eben das Sein ein für sich Bestehendes ist, so wird dieses Sein die Hinzufügung eines Unterschieds nicht aufnehmen, weil es dann nur Sein nicht wäre, sondern Sein und außer Sein eine Form; und viel weniger würde es die Hinzufügung von Materie aufnehmen, weil es dann kein für sich bestehendes Sein wäre, sondern Sein mitMaterie. Daher bleibt übrig, daß es ein solches Ding, das sein eigenes Sein ist, nur einmal geben kann; daher muß mit Ausnahme von diesem im Falle jedes beliebigen anderen Dinges etwas anderes sein Sein und etwas anderes seine Washeit oder Natur oder Form sein; daher muß es im Falle der Geister Sein außer der Form geben, und daher ist gesagt worden, daß der Geist Form und Sein ist.

Alles aber, was einem Ding zukommt, ist entweder aus den Prinzipien (Bestandteilen) seiner Natur entstanden, so wie lachensfähig im Falle des Menschen, oder es kommt von einem äußeren Prinzip (Ursache), so wie das Licht in der Luft durch die Einwirkung der Sonne. Es kann aber nicht sein, daß das Sein selbst von der Form oder Washeit eines Dinges selbst verursacht ist, ich meine so wie von einer Wirkursache, weil auf diese Weise ein Ding Ursache seiner selbst wäre und ein Ding sich selbst ins Sein führen würde: das ist unmöglich. Also muß jedes solche Ding, dessen Sein etwas anderes als seine Natur ist, das Sein von einem anderen haben. Und weil alles, was durch ein anderes ist, auf das zurückgeht, was durch sich ist, so wie auf eine erste Ursache, muß es ein Ding geben, das die Ursache des Seins für alle Dinge ist dadurch, daß es selbst nur Sein ist; sonst würde man im Falle der Ursachen ins Unendliche gehen, da jedes Ding, das nicht nur Sein ist, eine Ursache seines Seins hat, wie gesagt worden ist. Also ist offenbar, daß der Geist Form und Sein ist und daß er das Sein von einem ersten Seienden hat, das nur Sein ist, und dies ist die erste Ursache, die Gott ist.

Jedes aber, das etwas von einem anderen empfängt, ist in Potentialität hinsichtlich jenes (was es empfängt), und das, was in es aufgenommen ist, ist dessen Aktualität; also muß eben die Washeit oder dieForm, die der Geist ist, hinsichtlich des Seins, das sie von Gott empfängt, in Potentialität sein, und jenes empfangene Sein verhält sich wie Aktualität. Und so findet sich Potentialität und Aktualität im Falle der Geister, jedoch nicht Form und Materie, außer im Sinne der bloßen Gleichnamigkeit. Daher kommen auch erleiden (bestimmtwerden), aufnehmen (empfangen), Träger sein und alles dergleichen, von dem man sieht, daß es den Dingen aufgrund der Materie zukommt, im Sinne der bloßen Gleichnamigkeit den übersinnlich erkennenden Substanzen und den körperlichen Substanzen zu, wie der Kommentator zum 3. Buch von »Die Seele« sagt. Und weil, wie gesagt worden ist, die Washeit des Geistes der Geist selbst ist, daher ist seine Washeit oder sein Wesen eben das, was er selbst ist, und das von Gott empfangene Sein der Washeit oder des Wesens ist das, wodurch sie (es) im Reich der Wirklichkeit besteht; und deswegen sagen einige, daß derartige Substanzen zusammengesetzt werden aus dem, wodurch etwas ist, und dem, was ist, oder, wie Boëthius sagt, aus dem, was ist, und aus Sein.

Und weil man im Falle der Geister Potentialität und Aktualität annimmt, wird es nicht schwierig sein, eine Vielheit von Geistern zu finden, was unmöglich wäre, wenn es keine Potentialität im Falle der Geister gäbe. Daher sagt der Kommentator zum 3. Buch von »Die Seele«, daß, wenn die Natur der potentiellen Vernunft unbekannt wäre, wir keine Vielheit im Falle der getrennten (von Materie freien) Substanzen finden könnten. Es gibt also eine Verschiedenheit der Geister untereinander nach dem Grad der Potentialität und Aktualität, so, daß der höhere Geist, der dem Ersten (Gott) näher ist, mehr an Aktualität und weniger an Potentialität hat, und so hinsichtlich der übrigen.Und dies endet mit der menschlichen Seele, die die letzte Stufe unter den übersinnlich erkennenden Substanzen innehat. Daher verhält sich deren potentielle Vernunft zu den übersinnlich erkennbaren Formen so wie die erste Materie, die die letzte Stufe im sinnlich wahrnehmbaren Sein innehat, zu den sinnlich wahrnehmbaren Formen, wie der Kommentator zum 3. Buch von »Die Seele« sagt; und daher stellt der Philosoph die menschliche Seele einer Tafel gleich, auf der nichts geschrieben ist. Und wegen der Tatsache, daß sie unter den anderen übersinnlich erkennenden Substanzen mehr an Potentialität hat, daher wird (kommt) sie den materialen Dingen so nahe, daß ein materiales Ding zur Teilnahme an ihrem Sein veranlaßt wird, so nämlich, daß aus Seele und Körper ein Sein in einem Zusammengesetzten entsteht, obwohl jenes Sein, insoweit es das der Seele ist, nicht vom Körper abhängig ist. Und daher finden sich nach dieser Form, die die Seele ist, andere Formen, die mehr an Potentialität haben und der Materie näher (sind als sie), so sehr, daß deren Sein ohne Materie nicht ist; es zeigt sich, daß es bei diesen (Formen) eine Ordnung und Stufen bis zu den ersten Formen der Elemente gibt, die der Materie am nächsten sind: daher ist ihnen auch keine Tätigkeit eigen, außer gemäß der Erfordernis der aktiven und passiven und anderer Beschaffenheiten, durch die die Materie für die Form geeignet gemacht wird.

Quelle:
Thomas von Aquin: De ente et essentia – Das Seiende und das Wesen. Stuttgart 21987, S. 43-55.
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