[168] Kandid hatte im Grunde seines Herzens nicht die geringste Lust Kunigunden zu heirathen. Allein eben die grenzenlose Unverschämtheit des Freiherrn bestimmte ihn zu dem Entschluß, die Heirath zu vollziehen, und Kunigunde drang überdies so lebhaft in ihn, daß er sein Wort nicht gut zurücknehmen konnte.
Er berieth sich mit Pangloß, Martin und dem treuen Kakambo. Pangloß schrieb eine schöne Abhandlung, worin er bewies, daß der Freiherr kein Recht über seine Schwester habe, und daß sie nach alen Reichsgesetzen sich Kandid an die linke Hand könne antrauen lassen. Martin stimmte dafür, den Freiherrn ins Meer zu werfen. Kakambo that den Ausspruch, man müsse ihn dem Levantipatron wieder überliefern und vorläufig wieder auf die Galeere schmieden, worauf man ihn ja dann mit erster Gelegenheit nach Rom zum Pater General zurückschicken könnte. Dieser Rath wurde einstimmig angenommen; auch die Alte billigte ihn. Seiner Schwester sagte man nichts davon. Für wenig Geld war die Sache abgethan, und man hatte das Vergnügen, zu gleicher Zeit einen Jesuiten zu überlisten und den Hochmuth eines deutschen Freiherrn zu züchtigen.
Nach so mannigfachen Mißgeschick endlich mit seiner Geliebten vereint, in Gesellschaft der Philosophen Pangloß und Martin, des klugen Kakambo und der Alten, und überdies in Besitz so vieler Diamanten, die er aus dem Vaterlande der alten Inka's mitgebracht, hätte Kandid, wie man denken sollte, unfehlbar das angenehmste Leben von der Welt führen müssen. Allein er wurde von den Juden[168] dergestalt geprellt, daß ihm bald nichts weiter übrig blieb als sein kleiner Meierhof; dazu wurde seine Frau von Tage zu Tage häßlicher und in eben dem Maße zänkischer und unleidlicher. Die Alte war schwach und kränklich und zudem noch übellauniger als Kunigunde. Kakambo, der im Garten arbeitete und die Hülsenfrüchte zum Verkauf nach Konstantinopel trug, hatte alle Hände voll zu thun und verwünschte sein Schicksal. Pangloß war in Verzweiflung, nicht auf einer deutschen Universität zu glänzen. Martin endlich war fest überzeugt, daß es einem aller Orten schlecht geht, und ertrug daher sein Loos noch am geduldigsten. Kandid, Martin und Pangloß disputirten noch oft über Sätze aus der Metaphysik und der Moralphilosophie. Unter ihren Fenstern kamen oft Schiffe vorbei, die mit Effendi's, Pascha's, Kadi's beladen waren, die man nach Lemnos, Mytilene oder Arzerum ins Exil schickte. Man sah andere Kadi's, andere Pascha's und Effendi's ankommen, die an den Platz der vertriebenen traten und die dann, wenn die Reihe an sie kam, wieder vertrieben wurden. Oft sah man auch wohl einbalsamirte Köpfe ankommen, die der hohen Pforte zu Füßen gelegt wurden.
Bei solchen Gelegenheiten wurden ihre Dispüte doppelt lebhaft, wenn man sich aber ausdisputirt hatte, wurde die Langeweile so unerträglich, daß die Alte sich einst unterstand, die Frage aufzuwerfen: »Ich möchte wohl wissen, was schlimmer ist, hundertmal von schwarzen Piraten geschändet zu werden, das halbe Gesäß zu verlieren, bei den Bulgaren Spießruthen zu laufen, bei einem Auto da Fe gepeitscht und gehängt zu werden, sich seciren zu lassen, auf den Galeeren zu rudern, kurz all' das Elend auszustehen, das wir sämmtlich erlitten haben, oder, sein ganzes Leben so die Hände im Schooß hier zuzubringen?«[169]
»Eine kitzlige Frage!« sprach Kandid.
Dies Gespräch gab zu neuen Betrachtungen Veranlassung, und Martin zumal nahm Anlaß daraus, zu schließen, der Mensch sei dazu geboren, sein Leben in den Zuckungen der Unruhe oder in der Lethargie der Langeweile zuzubringen. Kandid war nicht damit einverstanden, brachte aber nichts Positives dagegen vor. Pangloß gestand, daß er beständig ein Spielball des entsetzlichsten Mißgeschicks gewesen; da er aber einmal behauptet hatte, Alles in der Welt sei aufs herrlichste eingerichtet, verfocht er sein System aufs eifrigste ohne selbst daran zu glauben.
Endlich ereignete sich ein Umstand, der Martin vollends in seinen verdammlichen Grundsätzen bestärkte, Kandid schwankender machte als je und Pangloß nicht wenig in Verlegenheit setzte. Sie sahen nämlich eines Tags Pakette nebst Fra Leucojo bei ihrem Meierhofe landen.
Beide befanden sich im äußersten Elend. Die dreitausend Piaster, die Kandid ihnen geschenkt, hatten sie bald durchgebracht, sich darauf getrennt, von Neuem überworfen, im Gefängniß gesessen, sich geflüchtet, und endlich war Fra Leucojo Türke geworden. Pakette setzte überall ihr Handwerk fort, ohne noch was damit verdienen zu können.
»Ich hatte es wohl vorhergesehen,« sagte Martin zu Kandid, »daß Ihre Geschenke bald verschleudert sein und die Leute nur noch unglücklicher dadurch werden würden, als zuvor. Sie und Ihr Kakambo hatten ja die Piaster zu Scheffeln und waren darum doch nicht glücklicher, als Fra Leucojo und Pakette.«
»Ei, sieh doch, sieh doch,« sagte Pangloß zu Pakette, »so führt Dich denn der Himmel wieder zu uns, armes Kind! Weißt Du wohl, daß Du mich um meine[170] Nasenspitze, um ein Auge und um ein Ohr gebracht hast? Wie Du aussiehst! O Welt, o Welt!«
Ueber dies neue Abenteuer fingen sie stärker an zu philosophiren, als je. In der Nachbarschaft lebte ein weit berühmter Derwisch, der für den besten Philosophen in der ganzen Türkei galt. Zu dem gingen sie und fragten ihn um Rath.
Pangloß führte das Wort und sprach: »Meister, wir kommen, um von Euch zu erfahren, wozu ein so seltsames Thier wie der Mensch wurde?«
»Was geht Dich das an?« erwiderte der Derwisch, »ist das Deine Sache?«
»Aber mein ehrwürdiger Vater,« sprach Kandid, »es giebt so entsetzliches Elend auf Erden.«
»Ob Elend oder Glück, was ist daran gelegen?« entgegnete der Derwisch. »Wenn Seine Hoheit ein Schiff nach Aegypten sendet, kümmert Sie Sich wohl darum, ob die Ratten im Schiffe sich behaglich fühlen, oder nicht?«
»Was soll man denn machen?« fragte Pangloß.
»Schweigen!« antwortete der Derwisch.
»Ich schmeichelte mir,« sprach Pangloß, »ein wenig über Wirkungen und Ursachen, über die beste aller möglichen Welt, über den Ursprung des Uebels, über die Natur der Seele und über die vorherbestimmte Harmonie mit Euch zu philosophiren.«
Bei diesen Worten schlug ihnen der Derwisch die Thür vor der Nase zu.
Während dieser Unterredung erscholl das Gerücht, daß man zu Konstantinopel zwei Wesire des Divans und den Mufti erdrosselt und viele ihrer Freunde gepfählt habe. Diese Katastrophe erregte einige Stunden lang gewaltigen Lärm. Auf dem Heimwege nach ihrem Meierhofe stießen Pangloß,[171] Kandid und Martin auf einen guten Alten, der sich in einer Pomeranzenlaube vor seiner Hausthür der frischen Luft erfreute. Pangloß, der eben so neugierig, als schwatzhaft und disputirsüchtig war, fragte ihn, wie der eben erdrosselte Mufti heiße.
»Das weiß ich nicht,« erwiderte der ehrliche Alte, »so wenig wie ich überhaupt je den Namen irgend eines Mufti oder Wesir gewußt habe. Von der ganzen Geschichte, von der Du da sagst, ist mir nichts bekannt. Ich bin der Meinung, daß die Meisten, die sich in öffentliche Angelegenheiten mischen, am Ende übel wegkommen und es auch verdienen. Ich erkundigte mich nie danach, was man in Konstantinopel anfängt. Ich schicke meine selbstgepflanzten Gartenfrüchte zum Verkauf dorthin, und damit gut.«
Wie er dies gesagt hatte, nöthigte er die Fremden in sein Haus. Seine beiden Töchter und beiden Söhne bewirtheten sie mit mehrerlei selbstgefertigten Scherbet's, mit Kaimak, der mit eingemachter Citronenschale abgezogen war, mit Pomeranzen, Citronen, Limonien, Ananas, Pistazien und Moccakaffee, der nicht mit den elenden Bohnen von Batavia und den Inseln vermischt war. Hierauf beräucherten die beiden Töchter des guten Muselmanns Kandid, Pangloß und Martin die Bärte.
»Ihr müßt ein großes, herrliches Landgut haben,« sprach Kandid zum Türken.
»Nichts weiter, als zwanzig Morgen,« antwortete der Alte; »die bestelle ich mit meinen Kindern. Die Arbeit schützt uns vor drei Hauptübeln, vor Langerweile, Laster und Mangel.«
Kandid stellte auf dem Heimwege über die Reden des Türken tiefe Betrachtungen an.
»Wahrlich,« sprach er zu Pangloß und Martin,[172] »dieser gute Alte scheint sich ein Loos verschafft zu haben, das dem der sechs Könige, mit denen wir die Ehre hatten, zu speisen, weit vorzuziehen ist.«
»Nichts gefährlicher in dieser Welt, als Macht und Größe,« sagte Pangloß, »das lernen wir von allen Philosophen. Denn am Ende ward Eglon, der König der Moabiter, durch Ehud gemeuchelmordet; Absalon an die Haaren aufgehängt und mit drei Spießen durchbohrt; König Nadab, der Sohn Jerobeam's, ward von Baesa getötdet; König Ella von Simri; Ahasja von Jehu; die Königin Athalja von dem Priester Jojada; die Könige Jojakim, Jojachin und Zedekia wurden Sklaven. Sie kennen das jämmerliche Ende des Krösus, Astyages, Darius, Dionys von Syrakus, Pyrrhus, Perseus, Hannibal, Jugurtha, Ariovist, Cäsar, Pompejus, Nero, Otho, Bitellius, Domitian, Richards II. von England, Eduards II., Heinrichs VI., Richards III., der Maria Stuart, Karls I., der drei Heinriche von Frankreich, Kaiser Heinrichs IV.; Sie wissen –«
»Ich weiß auch,« sprach Kandid, »das wir unsern Garten bestellen müssen.«
»Sie haben Recht,« sprach Pangloß; »denn als Gott den Menschen in den Garten setze, setze er ihn deßhalb hinein, ut operaretur eum, auf daß er ihn bebaute; woraus erhellt, daß der Mensch nicht zur Ruhe geschaffen ist.«
»Laßt uns arbeiten, ohne zu vernünfteln,« sprach Martin, »das ist das einzige Mittel, sich das Leben erträglich zu machen.«
Die ganze kleine Gesellschaft unterstützte dies löbliche Vorhaben. Jeder ließ es sich angelegen sein, seine Talente[173] auszubilden und zu üben. Das kleine Gut trug viel ein. Kunigunde war zwar sehr häßlich, aber sie wurde eine treffliche Pastetenbäckerin; Pakette legte sich aufs Sticken und Nähen, und die Alte besorgte die Wäsche. Selbst Fra Leucojo bestrebte sich, kein unnützes Glied der Gesellschaft zu bleiben; er wurde ein sehr guter Tischler, ja sogar ein rechtschaffner Mann.
Und Pangloß sagte manchmal zu Kandid: »Alle Begebenheiten in dieser besten aller möglichen Welten stehen in nothwendiger Verkettung mit einander, denn: wären Sie nicht wegen Fräulein Kunigundens schöner Augen mit derben Fußtritten aus dem schönsten aller Schlösser gejagt, wären Sie nicht von der Inquisition eingekerkert worden, hätten Sie nicht Amerika zu Fuße durchwandert, dem Freiherrn nicht einen tüchtigen Stoß mit dem Degen versetzt, nicht alle ihre Lama's aus dem guten Lande Eldorado eingebüßt, so würden Sie hier jetzt nicht eingemachte Citronenschale und Pistazien essen.«
»Gut gesagt,« antwortete Kandid, »aber wir müssen unsern Garten bestellen.«[174]
Buchempfehlung
Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«
270 Seiten, 9.60 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro