Enqueten

[340] Enqueten (investigations, inquirys; enquêtes; inchiesti) heißen Untersuchungen, die über wirtschaftliche Fragen grundsätzlicher Art, vor allem über solche aus dem Gebiete des Eisenbahnwesens angestellt werden, um der maßgebenden Stelle brauchbare und verläßliche Unterlagen für ihre Entscheidungen zu liefern. Solche Fragen sind insbesondere das Konzessionswesen, das einzuführende Eisenbahnsystem, die Frage der Verschmelzung und sonstiger betrieblicher Vereinbarungen (Fusionen s.d.), die Eisenbahntarife, Eisenbahnunfälle, u. U. technische Fragen, das Verhältnis der Eisenbahn zu anderen Verkehrmitteln, vornehmlich der Wasserstraßen u.s.w. Derartige Untersuchungen haben stattgefunden, wenn es sich um Erlaß neuer oder Änderung bestehender Gesetze, um organische Änderungen in der Verwaltung handelte. Sie werden angeregt von der Regierung, den Parlamenten, oft auch von einzelnen wirtschaftlichen Körperschaften, meist von einem besonders dazu berufenen Ausschuß geleitet, der aus Beamten, oder sachverständigen Persönlichkeiten, oder aus Vertretern beider Kreise besteht. Dieser Ausschuß vernimmt Sachverständige, holt schriftliche Gutachten von Behörden oder wirtschaftlichen Körperschaften, auch von angesehenen Sachverständigen ein, stellt Erhebungen über die Verhältnisse des Auslandes an – je nach der Bedeutung der Untersuchung – und erstattet auf Grund seiner Ermittlungen einen Bericht an die Stelle, die ihm seinen Auftrag erteilt hat. Die Berichte werden häufig den Parlamenten vorgelegt und durch Drucklegung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die meisten solcher E. sind angestellt worden in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese unterscheiden sich von denen anderer Länder hauptsächlich darin, daß die Sachverständigen wie gerichtliche Zeugen unter Eid vernommen werden, daß man besonders auch die Vertreter entgegengesetzter Anschauungen einander gegenüberstellt und in Kreuzverhör ausfragt. Es gilt dies als das geeignetste Mittel, zweifelhafte Tatsachen festzustellen und alle Gründe für und wider bei abweichender Auffassung genau kennen zu lernen, um damit ihre Bedeutung würdigen zu können.

Die E. haben wiederholt wichtige Entscheidungen vorbereitet, sind aber auch nicht selten[340] ohne praktisches Ergebnis geblieben, insbesondere da, wo in den Berichten die Mehrheiten und die Minderheiten der Ausschüsse wesentlich gleich waren.

Von wichtigeren E. sind folgende zu erwähnen:

1. Deutsches Reich. Im Jahre 1872 fand eine E. über die Eisenbahndifferentialtarife statt, 1874 eine solche über die Frage der allgemeinen Erhöhung der Gütertarife, 1874 und 1875 über die Reform der deutschen Gütertarife. Die letztere E. hat die Vereinbarungen der deutschen Regierungen und der deutschen Eisenbahnen über einen einheitlichen deutschen Gütertarif und dessen Fortbildung vorbereitet (s. Gütertarife).

2. Preußen. Im Jahr 1873 hat die Regierung infolge von Angriffen des Abgeordneten Lasker im preußischen Abgeordnetenhause in einer Rede vom 7. Februar 1873 gegen den damaligen preußischen Handelsminister wegen angeblicher schwerer Mißbräuche im Eisenbahnkonzessionswesen, eine besondere Kommission zur Untersuchung des Eisenbahnkonzessionswesens niedergesetzt. Sie hielt umfassende Zeugenvernehmungen über die tatsächlichen Verhältnisse verschiedener Eisenbahnunternehmungen und hörte eine Reihe von Sachverständigen über Fragen, die das gesamte Eisenbahnwesen in allen seinen Beziehungen betreffen. Der Bericht sprach sich u.a. auch für eine gesetzliche Regelung der Reichsaufsicht über die Eisenbahnen aus; von mehreren Mitgliedern war der Übergang zur Staatsbahnpolitik in Preußen befürwortet. Der Bericht war nicht ohne Einfluß auf Änderungen in der Handhabung des Konzessionswesens.

3. Österreich. Im Jahre 1871 hat die niederösterreichische Handels- und Gewerbekammer in Wien mit Rücksicht auf die zahlreichen Wünsche und Beschwerden der Geschäftswelt über den Eisenbahntransport eine öffentliche E. über bessere Ordnung des Güterverkehrs veranstaltet.


(Vgl. Verhandlungen der allgemeinen öffentlichen E. über das Transportwesen, abgehalten in Wien 1871 auf Veranlassung der niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer, Wien 1871, I. Bd.: Die Expertise; II. Bd.: Sektionsberichte und Plenarschlußberatungen.)


Im Jahre 1882/83 wurde eine Eisenbahntarifenquete vom Handelsministerium veranstaltet. Sie erörterte die Frage einer Reform des Tarifsystems, die Neugestaltung und Vereinheitlichung der für Eisenbahnfrachtgüter bestehenden Klassifikationssysteme, sowie zahlreiche andere das Tarifwesen betreffende Einzelfragen.


(Vgl. Österr. Eisenbahntarifenquete 1882/83, II. Teil. Wien 1883.)


Im Jahre 1908 wurde vom Eisenbahnministerium eine E. über die fachliche Ausbildung der Beamten des mittleren Dienstes, im Jahre 1910 eine solche vom Staatseisenbahnrat über die Reform der staatlichen Eisenbahnverwaltung abgehalten.

4. Niederlande. In den Jahren 1881 und 1882 verhandelte eine parlamentarische E. über Mängel im niederländischen Eisenbahnwesen, insbesondere über die Folgen des Systems der Verpachtung der Staatsbahnen an Privatunternehmer. Die Vorschläge des Berichts haben dazu geführt, daß die Regierung einzelne Privatbahnen ankaufte und unter die Pachtgesellschaften zweckmäßiger verteilte. Im Jahre 1908 hat die Regierung auf Grund eines Parlamentsbeschlusses eine neue Untersuchungskommission eingesetzt, deren Verhandlungen noch nicht abgeschlossen sind.


(Vgl. u.a. Claus im Archiv für Eisenbahnwesen 1883, S. 571 ff. und 1892, S. 459 ff.)


5. Italien. Nach Ordnung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des geeinigten Königreiches wurde durch Gesetz vom 8. Juli 1878 eine parlamentarische Kommission zur Untersuchung der Eisenbahnfrage eingesetzt, die 3 Jahre lang (1878 bis 1881) arbeitete und ihren Bericht unter dem Titel: Inchiesta sull' esercizio delle ferrovie Italiane (7 Bände) veröffentlichte. Der Bericht bildete die Grundlage für das italienische Eisenbahngesetz vom 27. April 1885. So lange dieses (bis 1905) in Kraft war, wurden wiederholt E. über Mißstände im Eisenbahnwesen veranstaltet. Die wichtigsten sind die folgenden: 1899. Atti della Reale Commissione d'inchiesta sui rapporti fra le società esercenti le tre principali rete di ferrovie del regno e il loro personale (4 Bände); 1903–1905. Atti della Commissione Reale per lo studio di proposte sull' ordinamento ferroviario (5 Bände). Auf Grund der letzteren wurde der Übergang zum Staatsbahnsystem in Italien beschlossen.


(Vgl. u.a. Pieck, Die Eisenbahnfrage in Italien, Arch. f. Ebw. 1882, S. 91 ff.; Das italienische Eisenbahngesetz vom 27. April 1885; 1886, das. S. 171 ff., 364 ff. – Bresciani, Die Eisenbahnfrage in Italien; Arch. f. Ebw. 1905, S. 1017 ff.; 1907. S. 1067 ff.; 1908, S. 263 ff.)


6. Großbritannien. Wichtigere E. sind folgende: 1844. 14. 2.–8. 5., Untersuchungskommission, eingesetzt auf Antrag von Gladstone, zur Prüfung der gesamten Eisenbahnverhältnisse. 5 Berichte erstattet; 1846. Mehrere Kommissionen zur Untersuchung des Eisenbahnkonzessionswesens und der Verschmelzungen; 1863. Verschiedene Ausschüsse: to inquire into private bill legislation; 1865 bis[341] 1867. Royal Commission hauptsächlich zur Untersuchung der Eisenbahntarife; 1872. Joint Committee on the amalgamation of Railway Companies; 1876. Select committee on Railway passenger duty; 1877. Royal Commission on Railway accidents; 1881/82. Select committee on Railway rates and fares. (Diese E. bildet die Grundlage für die Bestimmungen des Eisenbahn- und Kanalgesetzes vom 10. August 1888.) 1891–1893. Untersuchung über die auf Grund des Gesetzes von 1888 festzustellenden Höchsttarife: ferner Untersuchungen über Working agreements und Amalgamations: Report of the Railway Conference. 1908, 1909. Report of the departemental Committee on Railway agreements and amalgamations. 1911; Viceregal Commission for the inquiry of Railways in Ireland, 1908 bis 1910. Wasserstraßen und Eisenbahnen: 1906–1911. Royal Commission. Untersuchungen über die Wasserstraßen (Canals and Waterways) in England und in anderen Ländern. (11 Bände, in der Zeit von 1906 bis 1911 veröffentlicht.)


(Vgl. Cohn, Untersuchungen über die englische Eisenbahnpolitik. Bd. I, II; ferner Über parlamentarische Untersuchungen in England: Volkswirtschaftliche Aufsätze. 1882, S. 1–51.)


7. Rußland. 1882 wurde eine E. vom Ministerium der Verkehrsanstalten zur Begutachtung des Projekts eines Eisenbahngesetzes einberufen, das durch die im Jahre 1876 veranstaltete sog. Graf Baranowsche Untersuchungskommission ausgearbeitet war.

8. Vereinigte Staaten von Amerika. Die wichtigsten E. sind die folgenden: 1879. Report and Proceedings of the special Committee on Railroads to investigate alleged abuses in the management of Railroads, chartered by the State of New York. Fünf Bände nebst Anl.-Band. New York 1879. Die schweren Mißbräuche, die durch diese, auf Anregung wirtschaftlicher Körperschaften in New York seitens der gesetzgebenden Körperschaften des Staates New York eingesetzte Untersuchungskommission festgestellt worden sind, haben u.a. zum Erlaß eines neuen Eisenbahngesetzes für den Staat New York Anlaß gegeben und die Frage der Einsetzung einer bundesstaatlichen Eisenbahnaufsichtsbehörde ins Rollen gebracht; 1886 Report and Proceedings of the Senate Committee on Interstate Commerce. 2 Bände. Washington; 1887. Report and Proceedings of the United States Pacific Railway Commission. 1 Band Bericht, 8 Bände. Anlagen; 1900. Preliminary report on trusts and industrial combinations. 2 Bände mit Karte u.s.w.; 1900–1902. Report of the Industrial Commission. 19 Bände. Darunter Band I., IV., IX., XIII., XIX. besonders wichtig für die Eisenbahnen; 1905. Report and proceedings of the Senate Committee on Interstate Commerce on bills to amend the Interstate Commerce Act. 5 Bände nebst 1 bes. Band, in dem die Untersuchungen zusammengefaßt sind. Wasserstraßen und Eisenbahnen 1908–1911:

Drei an sich selbständige Untersuchungen und Berichte, die sehr umfassendes Material über die Wasserstraßen, nicht allein der Vereinigten Staaten, sondern aller anderen Länder enthalten. 1. Preliminary report einer Inland waterways Commission, eingesetzt durch Präs. Roosevelt durch Erlaß vom 14. Mai 1907, Bericht erstattet 3. Februar 1908, dem Kongreß vorgelegt 26. Februar 1908. Washington 1908. 1 Bd. mit Karten und Beilagen. – 2. Report of the Commissioner of corporations on transportation by water in the United States. 3 Bde. (1909 12. und 19. Juli, 1910 26. September. Washington. – 3. Report der National Waterways Commission. Eingesetzt durch Gesetz vom 3. März 1909; Preliminary Report. Erstattet 24. Januar 1910; Final Report. 1912. Hat eine Reihe von Beilagen: Dokumente Nr. 1–22). Diese Berichte enthalten Untersuchungen und gutachtliche Äußerungen über die Wasserstraßen in allen Ländern, großen Teils von den amtlichen Vertretern der Vereinigten Staaten mit Unterstützung der fremden Regierungen bearbeitet.

In all diesen Berichten wird besonders auch das Verhältnis der Eisenbahnen zu den Wasserstraßen in allen Ländern sehr eingehend untersucht. Ein Ausbau des Wasserstraßennetzes durch den Bund wird nicht befürwortet.

v. der Leyen.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 4. Berlin, Wien 1913, S. 340-342.
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