Ständige Tarifkommission

[143] Ständige Tarifkommission ist eine Körperschaft, der zusammen mit dem Ausschuß der Verkehrsinteressenten die Aufgabe der Fortbildung des deutschen Gütertarifs obliegt.

Nachdem das einheitliche Tarifschema des deutschen Reformtarifs (s. Gütertarife Bd. VS. 464) gewonnen war, regte der preußische Handelsminister am 11. Juni 1877 an, eine aus Vertretern der deutschen Staatsbahnen und einer Anzahl Privatbahnen bestehende Tarifkommission zu bestellen, die Abänderungsanträge für die Beschlußfassung durch die Generalkonferenz der sämtlichen deutschen Eisenbahnverwaltungen konferenziell vorzuberaten habe. Zugleich wurde vorgeschlagen, den Geschäftskreis[143] der Tarifkommission noch dadurch zu heben, daß ihm auch »die Vorberatung einheitlicher Normen für die Personentarife sowie für die Fahrzeuge, Leichen und lebende Tiere zugewiesen, auch die Erörterung gemeinsamer Bestimmungen für das Expeditions- und Abrechnungsverfahren vorbehalten wurde«. Die Zuweisung letzterer Aufgabe zog Preußen zurück; sie ging auf den aus dem Tarifverband sich entwickelnden deutschen Eisenbahnverkehrsverband über. Das Ministerialschreiben vom 8. Oktober 1877 enthielt dann aber noch weiter die Mitteilung, daß es »auf den Vorschlag des Reichskanzleramtes« für ersprießlich erachtet sei, »die Bestellung eines ständigen, aus je 3 Vertretern der Landwirtschaft, der Gewerbtätigkeit und des Handels unter Zutritt eines besonderen, aus Bayern zu kommittierenden Mitglieds zu bildenden Ausschusses zu veranlassen, dessen Aufgabe es sein würde, über allgemein wichtige, das deutsche Eisenbahnwesen betreffende Fragen aus dem Gebiet des Tarifwesens sich gutachtlich zu äußern und zu diesem Behuf jährlich zweimal mit den Mitgliedern der vorerwähnten Tarifkommission zusammenzutreten«.

Der deutsche Landwirtschaftsrat und der deutsche Handelstag würden ersucht werden, die betreffenden Mitglieder dieses Ausschusses zu bezeichnen.

Die Zusammensetzung der S. hat im Lauf der Jahre mehrfach eine Wandlung erfahren. Die Mitgliederzahl umfaßt heute 14 Bahnverwaltungen. Dagegen stieg die Zahl der Mitglieder des Ausschusses der Verkehrsinteressenten auf 5 in jeder Gruppe (mit Bayern 16 im ganzen). Außerdem ist seit 1890 auch der Geschäftsführer des Ausschusses ohne Teilnahme an den sachlichen Beratungen bei den Sitzungen anwesend. Seit 1883 nehmen mit beratender Stimme Vertreter der schweizerischen Bahnen (schweizerische Nordostbahn und schweizerische Zentralbahn, später die schweizerischen Bundesbahnen und die Gotthardbahn) an den Sitzungen teil.

Die erste ordentliche Sitzung der S. fand am 7. Februar 1878 in Berlin statt und stellte die Geschäftsordnung fest. Seit der Sitzung vom 13. November 1878 wohnen Vertreter des Reichseisenbahnamtes den Verhandlungen bei.

Die S. hat zusammen mit dem Ausschuß der Verkehrsinteressenten die Anträge vorzuberaten, die die allgemeinen Tarifvorschriften und die Güterklassifikation, die allgemeinen Ausführungsbestimmungen zur Verkehrsordnung und den Nebengebührentarif betreffen. In der Regel finden 3 gemeinschaftliche Sitzungen unter dem Vorsitz der königlichen Eisenbahndirektion Berlin statt. Über die Beratungsergebnisse beschließt die Generalkonferenz der deutschen Eisenbahnverwaltungen, die in der Regel einmal im Jahr vom preußischen Minister der öffentlichen Arbeiten einberufen wird. Die Beschlüsse der Generalkonferenz werden bindend, wenn ihnen nicht fristgemäß von einer satzungsgemäßen Minderheit widersprochen wird, wobei es Sache der einzelnen Bahnverwaltungen bleibt, die Zustimmung der Landesaufsichtsbehörden vorher einzuholen.

Aus der Geschäftsordnung der S. ist folgendes hervorzuheben:

Antragsberechtigt sind die bei der Generalkonferenz zugelassenen Eisenbahnverwaltungen und der Ausschuß der Verkehrsinteressenten. Beratungsgegenstände können als dringliche oder äußerst dringliche behandelt werden, wenn eine 2/3-Mehrheit der in der Sitzung vertretenen Kommissionsmitglieder und der anwesenden Mitglieder des Verkehrsausschusses dies beschließt.

Beschlüsse über Anträge von einfacher Dringlichkeit werden bindend, sofern nicht bis zur nächsten ordentlichen Sitzung oder bis zur Generalkonferenz wirksamer Widerspruch erhoben ist. Beschlüsse, deren äußerste Dringlichkeit zugestanden wurde, werden bindend, sofern ihnen nicht binnen 10 Tagen widersprochen wird. Zu einem wirksamen Widerspruch gehört eine Mehrheit von 1/10 sämtlicher bei der letzten Generalkonferenz berechtigt gewesenen Stimmen. Tarifbestimmungen, die in ihrer Anwendung zu Zweifeln Anlaß geben, können durch deklaratorische Beschlüsse näher erläutert und klargestellt werden, ohne daß hierdurch der Tarif selbst sachlich geändert wird. Diese Bestimmung hat in der 100. Sitzung der S. (8./9. Februar 1910) zu einer Einrichtung einer öffentlichen Sammlung der bisherigen und zukünftigen Entscheidungen und zu einer Einsetzung eines ständigen Unterausschusses für Tarifentscheidungen geführt. Die Tätigkeit dieses Unterausschusses grenzt sich ab gegenüber den einzelnen Verwaltungen dadurch, daß 1. jede Verwaltung nur das Recht, nicht die Pflicht hat, den Ausschuß anzurufen, 2. es anderseits im Interesse der Sache gelegen ist, ihm von allen Entscheidungen Kenntnis zu geben und ihm alles zu überlassen, was nicht zweifelsfrei auf der Hand liegt.

Gegenüber der S. und dem Ausschuß der Verkehrsinteressenten begrenzt sich seine Aufgabe dadurch, daß die Entscheidung sowohl[144] die Absicht des Tarifs wie den Wortlaut des Tarifs für sich haben müsse. Wo nur eines versagt, hat die S. einzugreifen. Die Sicherung dieser Grenze wird durch das Widerspruchsrecht gewährleistet, das jeder Verwaltung wie dem Verkehrsausschuß zusteht.

In diesem Sinne sind dann die Befugnisse des ständigen Unterausschusses durch die Geschäftsordnung für die S. festgelegt. Seine Beschlüsse werden bindend, sofern nicht binnen 14 Tagen nach Absendung der Mitteilung bei der geschäftsführenden Verwaltung Widerspruch erhoben wird. Dem ständigen Ausschuß gehören neben der geschäftsführenden Verwaltung 2 von der S. gewählte Eisenbahnverwaltungen (Bayern und Sachsen) an.

Grunow.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 9. Berlin, Wien 1921, S. 143-145.
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