Max Weber

Der Reichspräsident[498] 1

Der erste Reichspräsident ist von der Nationalversammlung gewählt worden. Der künftige Reichspräsident muß unbedingt vom Volke unmittelbar gewählt werden. Die entscheidenden Gründe dafür sind die folgenden:

1. Da der Bundesrat, wie immer man ihn benennen und wie immer man seine Befugnisse umgestalten möge, jedenfalls in irgendeiner Gestalt in die neue Reichsverfassung übernommen werden wird – denn es ist vollkommen utopisch zu glauben, daß die Träger der Regierungsgewalt und Staatsmacht: die von den Völkern der Einzelfreistaaten bestellten Regierungen, sich bei der Willensbildung des Reichs, vor allem: der Reichsverwaltung, ausschalten lassen –, so ist die Schaffung einer unzweifelbar auf dem Willen des Gesamtvolkes, ohne Dazwischenkunft von Mittelsmännern, ruhenden Staatsspitze ganz unumgänglich. Überall ist die indirekte Wahl beseitigt worden, und hier, an der formell höchsten Stelle, soll sie erhalten bleiben? Das würde mit Recht als eine Verhöhnung des Prinzips der Demokratie im Interesse des Kuhhandels der Parlamentarier wirken und das Reich in seiner Einheit diskreditieren.

2. Nur ein Reichspräsident, der die Millionenstimmen hinter sich hat, kann die Autorität besitzen, die Sozialisierung in die Wege zu leiten, für die ja durch Paragraphen von Gesetzen schlechthin gar nichts, durch eine straff einheitliche Verwaltung dagegen alles zu leisten ist; Sozialisierung ist: Verwaltung. Dabei ist völlig einerlei, ob man die Sozialisierung nur als unumgängliche Finanzmaßregel oder ob man sie, im Sinne der Sozialdemokratie, als Umformung der Wirtschaft betreiben will. Es ist nicht die Aufgabe der Reichsverfassung, die künftige Wirtschaftsordnung festzulegen. Sie hat nur für alle denkbarerweise an die Verwaltung herantretenden Aufgaben freie Bahn und Möglichkeit zu schaffen, also auch für diese. Es ist sehr[498] zu hoffen, daß die Sozialdemokratie sich nicht aus einem mißverstandenen, kleinbürgerlichen, pseudodemokratischen Vorstellungskreis heraus diesen Notwendigkeiten verschließen werde. Möchte sie doch bedenken, daß die vielberedete »Diktatur« der Massen eben: den »Diktator« fordert, einen selbstgewählten Vertrauensmann der Massen, dem diese so lange sich unterordnen, als er ihr Vertrauen besitzt. Eine kollegiale Spitze, in der dann natürlich alle größeren Bundesstaaten und ebenso alle größeren Parteien jede ihren Vertreter verlangen würden, oder eine parlamentsgewählte Spitze, die mit der elenden Ohnmacht des französischen Präsidenten belastet wäre, könnte in die Verwaltung niemals jene Einheit bringen, ohne welche ein Wiederaufbau unserer Wirtschaft, gleichviel auf welcher Grundlage, unmöglich ist. Man sorge dafür, daß der Reichspräsident für jeden Versuch, die Gesetze anzutasten oder selbstherrlich zu regieren, »Galgen und Strick« stets vor Augen sieht. Man schließe eventuell, um jede Restauration auf dem Wege des Plebiszits zu hindern, Mitglieder der Dynastien aus. Aber man stelle das Reichspräsidium fest auf eigene, demokratische Füße.

3. Nur die Wahl eines Reichspräsidenten durch das Volk gibt Gelegenheit und Anlaß zu einer Führerauslese und damit zu einer Neuorganisation der Parteien, welche das bisherige ganz veraltete System der Honoratiorenwirtschaft überwindet. Bliebe dies bestehen, so hätte die politisch und wirtschaftlich fortschrittliche Demokratie in absehbarer Zeit ausgespielt. Die Wahlen haben gezeigt, daß es den alten Berufspolitikern überall gelingt, entgegen der Stimmung der Wählermassen, die Männer, die deren Vertrauen genießen, zugunsten politischer Ladenhüter auszuschalten. Eine radikale Abwendung gerade der besten Köpfe von aller Politik ist die Folge gewesen. Nur die Volkswahl des höchsten Reichsfunktionärs kann hier ein Ventil schaffen.

4. Die Wirkung des Verhältniswahlrechts verstärkt dies Bedürfnis. Bei den nächsten Wahlen wird eintreten, was bei diesen sich erst im Keim zeigte: die Berufsverbände (Hausbesitzer, Diplominhaber, Festbesoldete, »Bünde« aller Art) werden die Parteien zwingen, lediglich zum Zwecke des Stimmenfangs deren (der Berufsverbände) besoldete Sekretäre an die Spitze der Listen zu stellen. Das Parlament wird so eine Körperschaft werden, innerhalb derer solche Persönlichkeiten, denen die nationale Politik »Hekuba« ist, die vielmehr, der Sache nach, unter einem »imperativen« Mandat von ökonomischen[499] Interessenten handeln, den Ton angeben: ein Banausenparlament – unfähig, in irgendeinem Sinne eine Auslesestätte politischer Führer darzustellen. Dies muß hier offen und nackt gesagt werden. Zusammen aber mit dem Umstand, daß der Bundesrat durch seine Beschlüsse den Ministerpräsidenten (Reichskanzler) weitgehend bindet, bedeutet dies eine unvermeidliche Schranke der rein politischen Bedeutung des Parlaments als solchen, die unbedingt ein auf dem demokratischen Volkswillen ruhendes Gegengewicht fordert.

5. Der Partikularismus ruft nach einem Träger des Reichseinheitsgedankens. Wir wissen nicht, ob die Entwicklung rein regionaler Parteien nicht weiter fortschreitet. Stimmung dafür ist da. Das wird auf die Mehrheitsbildung und die Zusammensetzung der Reichsministerien unweigerlich auf die Dauer zurückwirken. Die Wahlbewegung bei der Bestellung eines volksgewählten Reichspräsidenten bildet einen Damm gegen das einseitige Überwuchern solcher Tendenzen, denn es zwingt die Parteien, sich durch das Reich hin einheitlich zu organisieren und zu verständigen, ebenso wie der volksgewählte Reichspräsident selbst dem – leider unvermeidbaren – Bundesrat ein Gegengewicht im Sinne der Reichseinheit gegenüberstellt, ohne doch die Einzelstaaten mit Vergewaltigung zu bedrohen.

6. Früher, im Obrigkeitsstaat, mußte man für die Steigerung der Macht der Parlamentsmehrheit eintreten, damit endlich die Bedeutung und damit das Niveau des Parlaments gehoben würde. Heute ist die Lage die, daß alle Verfassungsentwürfe einem geradezu blinden Köhlerglauben an die Unfehlbarkeit und Allmacht der Mehrheit – nicht etwa des Volkes, sondern der Parlamentarier – verfallen sind: das entgegengesetzte, ganz ebenso undemokratische Extrem. Man schränke die Macht des volksgewählten Präsidenten ein wie immer und sorge dafür, daß er nur in zeitweilig unlösbaren Krisenfällen (durch suspensives Veto und Berufung von Beamtenministerien), im übrigen nur durch Anrufung des Referendums in die Reichsmaschine eingreifen kann. Aber man gebe ihm durch die Volkswahl einen eigenen Boden unter die Füße. Sonst wankt in jedem Fall einer Parlamentskrise – und bei mindestens vier bis fünf Parteien wird eine solche nicht zu den Seltenheiten gehören – der ganze Reichsbau.

7. Nur ein volksgewählter Reichspräsident kann in Berlin neben der preußischen Staatsspitze eine andere als eine rein geduldete Rolle spielen. Bei den Einzelstaatenregierungen, also auch bei der[500] preußischen Staatsspitze wird fast die gesamte Amtspatronage liegen, vor allem die Besetzung sämtlicher mit dem Volk im Alltag in Berührung kommenden inneren Verwaltungsbeamten, vermutlich auch mindestens der unteren Offiziersgrade. Ein nicht durch Wahl des Gesamtvolks gewählter Reichspräsident würde daher der preußischen Staatsspitze gegenüber eine geradezu erbärmliche Rolle spielen und die Übermacht Preußens in Berlin und dadurch im Reich erneut und in sehr gefährlicher, weil partikularistischer Form erstehen.

Es ist an sich verständlich, wenn die Parlamentarier ungern das Opfer der Selbstverleugnung bringen, die Wahl des höchsten Reichsorgans aus den eigenen Händen zu geben. Aber es muß geschehen, und die Bewegung dafür wird nicht rasten und ruhen. Möge die Demokratie nicht ihren Feinden diese Agitationswaffe gegen das Parlament in die Hand drücken. Wie diejenigen Monarchen nicht nur am vornehmsten, sondern auch am klügsten handelten, welche rechtzeitig ihre eigene Macht zugunsten parlamentarischer Vertretungen begrenzten, so möge das Parlament die Magna Charta der Demokratie: das Recht der unmittelbaren Führerwahl, freiwillig anerkennen. Es wird das, wenn die Minister streng an sein Vertrauen gebunden bleiben, nicht zu bereuen haben. Denn der große Zug demokratischen Parteilebens, der sich an der Hand dieser Volkswahlen entwickelt, wird auch ihm zugute kommen. Ein unter bestimmten Parteikonstellationen und -koalitionen vom Parlament gewählter Reichspräsident ist mit Verschiebung dieser Konstellation ein politisch toter Mann. Ein volksgewählter Präsident als Chef der Exekutive, der Amtspatronage und (eventuell) Inhaber eines aufschiebenden Vetos und des Befugnisses der Parlamentsauflösung und Volksbefragung ist das Palladium der echten Demokratie, die nicht ohnmächtige Preisgabe an Klüngel, sondern Unterordnung unter selbstgewählte Führer bedeutet.[501]


Fußnoten

1 Berliner Börsenzeitung vom 25. Februar 1919.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 502.
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