Max Weber

Ein Wahlrechtsnotgesetz des Reichs[192] 1

Das Recht der heimkehrenden Krieger

Wir erhalten folgende Zuschrift:

Der innere Burgfriede ist durch den Fideikommißentwurf gebrochen und damit der Weg frei, um dem vielen unverbindlichen Sprechen über das, was nach dem Kriege geschehen soll, ein Ende zu machen. Die an dieser Stelle gemachten Ausführungen über den Fideikommißentwurf haben in zahlreichen Zuschriften aus dem Inland und, was noch wichtiger ist, aus der Front Zustimmung gefunden. Gerade aus der Front aber ist dabei immer wieder auf ein Grundproblem hingewiesen worden, ohne dessen alsbaldige wenigstens provisorische Lösung es in der Tat nach dem Krieg für jeden Versuch eines »Neubaues« zu spät sein wird. Die eindrucksvolle Rede des Reichskanzlers ändert naturgemäß daran gar nichts, daß er zur Einlösung seiner Zusagen sich alsdann völlig außer Stand sehen wird, wenn nicht wenigstens eines sofort geschieht. Alle, gleichviel wie sich nennenden, wirklich nationalen Reichstagsparteien haben die Pflicht, die brennendste aller Fragen: nach der Zukunft des einzelstaatlichen Wahlrechts durch einen darauf gerichteten Notgesetzantrag im Reichstag jetzt ins Rollen zu bringen. Von Reichs wegen zu bestimmen wäre folgendes:

»Wer während des Krieges zum Heeresdienst eingezogen gewesen und im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte ist, erlangt mit Erreichung der Großjährigkeit dauernd das Wahlrecht für jede in dem Bundesstaat seiner Staatsangehörigkeit bestehende, aus allgemeinen Wahlen hervorgehende gesetzgebende Körperschaft am Orte seines letzten Wohnsitzes in diesem Staat, und zwar, falls das Wahlrecht dort ein abgestuftes ist, in der bevorzugtesten Klasse oder Art.«

[192] Durch besondere Bestimmungen wäre dabei Vorsorge für eine rechtzeitige (nicht zu frühe und nicht zu späte) Veranstaltung dieser Wahlen nach Friedensschluß zu treffen und zugleich dafür, daß jeder nach diesem Notgesetz wahlberechtigte eingezogene Mann daran teilnehmen kann, eventuell durch Beurlaubung mit freier Fahrt.

Die absolute Notwendigkeit eines solchen Notgesetzes ergibt sich, wenn man das nächstliegende Beispiel: Preußen, heranzieht, aus folgenden einfachen Erwägungen.

Wie würden die jetzigen nach der Steuerleistung abgestuften Wählerklassen, von denen jede ein Drittel der Wahlmänner stellt, nach dem Kriege aussehen? Ungeheure neue Rentenvermögen und -einkommen hat der Krieg erzeugt, große Unternehmerver mögen und -einkommen teils riesenhaft vermehrt, teils sie neu aus dem Boden gestampft, dagegen massenhaft mittlere und kleinere teils ganz vernichtet, teils absolut oder relativ vermindert. In der ersten Klasse würden also nach dem Kriege die ganz großen Kriegsgewinnmacher (die legitimen sowohl wie auch die eigentlichen Kriegswucherer) und die großen neuen Kriegsrentner in Stadt und Land ganz allein den Ausschlag geben. Bei der bekannten Eigenart der Bildung der Klassen würden sie sehr oft auch die zweite beherrschen. Annähernd die Hälfte aller Wahlmännerstimmen würden also von diesen ganz großen Vermögensinhabern beherrscht werden, die daheimgeblieben sind. In der zweiten Klasse würden sich, neben einigen von ihnen, solche Mittelstandselemente befinden, welche daheimgeblieben sind und denen daher die Kundschaft der nächstens drei Jahre im Feld liegenden Krieger zugefallen ist. Die dritte Klasse endlich würde nicht nur die abwesend gewesenen Arbeiter, auch die höchstqualifizierten, umfassen, welche sich neue Arbeitsgelegenheit erst suchen müssen, sondern ebenso die abwesend gewesenen Betriebs- und Ladeninhaber, die ihren Betrieb und ihre Kundschaft neu aufbauen müssen, die abwesend gewesenen Bauern, deren Frauen mühsam den Betrieb aufrechterhielten, die in der Kriegsnot mit Schulden belasteten Hausbesitzer, – mit einem Wort alle diejenigen Mittelschichten enthalten, welche in ihrer Steuerkraft durch Militärdienst auf längere Zeit gelähmt sind. Also: die ganze Masse der jetzt draußenliegenden Krieger ohne Unterschied des Standes. Es hilft gar nichts, von der »Unhaltbarkeit des preußischen Wahlrechts« und von der »Unvermeidlichkeit eines Neubaues« zu reden. Denn die Glückspilze, in deren Händen sich infolge des Krieges mehr als ein Drittel[193] des Volksvermögens zusammengehäuft hat, würden dann über die Neuordnung der Dinge entscheiden, die anderen aber, die zuerst mit ihrem Blut den Staat erhalten haben, und die nun weiterhin mit ihrer geistigen oder körperlichen Arbeit die Zinsen für jene Kriegsrentner herauswirtschaften müssen, wären zur politischen Ohnmacht verdammt.

Das wäre an sich ein Skandal ohnegleichen. Aber es ist auch politisch ganz unmöglich. Denn wie denkt sich der Reichskanzler eine Neuordnung des deutschen Staats-, Finanz- und Wirtschaftslebens mit einem nach dem Kriege gewählten preußischen Parlament, welches die reichgewordenen Kriegsparvenüs vertritt, und mit Ministern, die diesem Parlament nach dem Munde reden? Es ist einfach lächerlich zu denken, daß er gegen diese Leute irgend etwas ausrichten könnte, nachdem er jetzt, mitten im Ernst des Krieges, nur mit Mühe sich der Intriganten aus diesen Kreisen erwehren konnte. Seit Jahrzehnten sind in Preußen Minister durch »Friktionen« und Intrigen gestürzt worden. Dabei ist es, wie die Vorgänge im Hotel Adlon und die Vorstöße im Herrenhaus zeigten, zum mindesten der Absicht der Beteiligten nach geblieben, und gegen derartige Absichten wird gar nichts zu machen sein, wenn diese in ihrer Machtstellung ins Ungeheure gewachsene Plutokratie nach dem Krieg im neuen Abgeordnetenhause ganz und gar unter sich sein wird. Niemals wird diese aus dem Krieg hervorgehende neue Plutokratie von sich aus auf ihr Wahlrechtsprivileg verzichten. Nach dem Krieg, wo es an das Steuerzahlen geht, am allerwenigsten. Auch das blödeste Auge sieht ja an der unverfrorenen Behandlung der Fideikommißfrage schon durch die jetzige Mehrheit, daß die Interessenten ausschließlich darauf ausgehen, ihre Kriegsgewinne hinter dem Rücken des kämpfenden Heeres in Fideikommißform ins Trockene zu bringen. Nur Scheinwerk hat bei diesen Kreisen Aussicht auf Annahme. Vollends, wo es sich um Wahlreformanträge handelt. Die Vergangenheit aller dahingehenden Versuche, schon unter den bisherigen Verhältnissen, ist bekannt. Sie alle begannen seit 30 Jahren ihren Weg in gleicher Art im Königlich Preußischen Statistischen Büro mit Berechnung derjenigen Zahl zuverlässig plutokratischer Abgeordneter, welche die Reform voraussichtlich ins Parlament bringen würde. Und die betroffenen Parteien rechneten dann ihrerseits ebenso weiter. So wird es in Zukunft, wenn das neue Abgeordnetenhaus nach den bisherigen Normen gewählt wird, erst recht gehen. Die Natur der Dinge schließt jeden anderen Verlauf aus.

[194] Der obige Vorschlag eines Reichsnotgesetzes ist dagegen von jeglicher Parteiinteressiertheit frei. Denn kein Mensch weiß heute, welches die politische Stellungnahme der heimkehrenden Krieger sein wird. Vielleicht eine sehr autoritäre. Zu erwarten ist nur, daß diese gleichweit von umstürzlerischen und pazifistischen Utopien wie von dem billigen Heldentum des Mundes entfernt seien, daß sie ferner Sinn für die Realitäten, Sachlichkeit und Verachtung von Phrasen jeglicher Art mitbringen werden. Darauf allein kommt es an.

Die Unterlassung eines solchen Antrags wäre eine schwere und vor allem nie wieder gut zu machende Unterlassungssünde. Die nächsten Wahlen nach dem Frieden würden in Preußen ein Kriegsparvenüparlament in den Sattel setzen, das über unsere Zukunft entscheiden würde, und dann wäre alles zu spät. Keine nationale Partei im Reich hat Anlaß, die Mitverantwortung dafür auf sich zu laden.

Eine dauernde Einmischung in die Verfassung der Einzelstaaten kommt bei dem föderativen Grundcharakter des Reichs nicht in Frage. Die Wirkung des Gesetzes ist eine zeitweilige. Aber: das Reich führt den Krieg; das Reich verlangt seinen Bürgern die ungeheuren Lasten ab, die er erfordert. Das Reich hat daher dafür zu sorgen, daß wenigstens das absolute Minimum an politischen Konsequenzen daraus gezogen werde, wenn der Fall vorliegt, daß die Regierungen der Einzelstaaten voraussichtlich durch kurzsichtige und eigensüchtige Interessenten daran gehindert werden, es ihrerseits zu tun, wie das durch die preußische Plutokratie ohne allen und jeden Zweifel geschehen wird.

Das Notgesetz bedürfte nicht der Formalien des Art. 78 Abs. 2, sondern nur derjenigen des Art. 78 Abs. 1 der Reichsverfassung. Die Stimmen zum Bundesrat werden instruiert von den Ministerien, welche sich nach geltendem Recht die Monarchen, insbesondere auch der König von Preußen, frei wählen. Der Reichskanzler, an dessen ehrlichem Wollen niemand zweifelt, ist in diesem Fall nun einmal nicht die Instanz, deren Stellungnahme letztlich entscheidet. Nein! Auf die deutschen Dynastien kommt es an, und sie müssen jetzt, ehe es zu spät ist, vor die klare Entschließung gestellt werden: ob sie sich nach dem Kriege auf reichgewordene Kriegsparvenüs stützen zu können und zu sollen glauben oder auf das Heer, welches ihnen allen Macht und Ehre und – es ist wohl kaum zu viel gesagt – die Krone mit seinem Blut und seinem Schweiß verteidigt hat und noch verteidigt. Der endgültige Neubau mag sorgsamer Überlegung vorbehalten bleiben.[195] Aber daß über diesen einen entscheidenden Punkt Klarheit geschaffen werde, dafür ist es jetzt schlechterdings die höchste Zeit. Die Armee selbst hat Anspruch darauf, – und die Zuschriften von der Front lassen mich schließen, daß sie diesen Anspruch auch erhebt: – endlich zu wissen, was bei den einzelnen Parteien und auch bei den führenden Staatsmännern hinter den gewiß schönen Worten zu ihrem Lob denn eigentlich an Bereitwilligkeit zur Tat steht. Nicht um »Dank« handelt es sich hier, sondern um eine politisch absolut notwendige Maßregel – und daneben allerdings: um eine schlichte zwingende Pflicht des politischen Anstandes. Das Heer, das die Schlachten schlug, soll auch die entscheidende Stimme beim Neubau des Vaterlandes nach dem Kriege haben.


Ich habe Grund zu der Annahme, daß dies nicht die zufällige Meinung eines einzelnen ist, und glaube, Ihnen daher die Aufnahme dieser Zeilen zumuten zu dürfen.


gez. Prof. MAX WEBER (Heidelberg).[196]


Fußnoten

1 Frankfurter Zeitung vom 28. März 1917.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 197.
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