Max Weber

Rußlands Übergang zur Scheindemokratie[197] 1

Der Unterzeichnete beansprucht für die Gegenwart keinerlei Sachverständnis über Rußland, welches sich nicht jedermann sonst auch verschaffen könnte. Vielleicht aber hat er ein nüchternes Urteil über das, was von den jetzt ans Ruder gekommenen Männern uns gegenüber zu erwarten ist. Unbeschadet meiner von jeher sehr starken Sympathien für die russische Freiheitsbewegung muß nachdrücklich ausgesprochen werden: bei der jetzigen Zusammensetzung der russischen Regierungsgewalt kann von aufrichtig friedlichen Gesinnungen der Mehrheit der maßgebenden Männer Rußlands gar keine Rede sein und noch viel weniger von freundlichen Absichten gegenüber dem deutschen Volke (ich sage sehr absichtlich: »dem deutschen Volke«, und nicht etwa nur: der jetzigen deutschen Regierung). Die, trotz der im höchsten Grade herausfordernden und geradezu kriegswütigen Äußerungen von Prof. MILJUKOW, von seiten der Zentralmächte abgegebenen friedlichen Erklärungen waren nicht nur ehrlich, sondern es war und bleibt trotz und wegen jenes Verhaltens auch politisch absolut richtig, sie erneut zu geben. Denn wir haben an die weitere Zukunft zu denken. Aber freilich müßten noch Ereignisse anderer Art als bisher oder starke Machtverschiebungen eintreten, um ihnen zum unmittelbaren Erfolg zu verhelfen.

Prophezeiungen über den weiteren Verlauf der Revolution wären wohl selbst für den bestinformierten Beobachter unmöglich. Daß ein Umsturz der Zarenmacht während des Krieges überhaupt entstehen würde, haben auch ungleich besser über die Lage orientierte Leute als ich unbedingt bezweifelt und selbst nach dem Krieg für mehr als fraglich gehalten. Die Agrarreform STOLYPINS hatte ja den klugen Schachzug getan, eine der sozialrevolutionären Kerntruppen, die Bauern der altrussischen Gebiete, in zwei ungleich große, aber unvermeidlich[197] tief verfeindete Teile zu spalten: einerseits die neuen, aus dem Dorfkommunismus ausgeschiedenen Privateigentümer: die ökonomisch stärksten Elemente der Bauern also, deren neuer Besitz sie mit dem bestehenden Regime eng verknüpfte, und andererseits die im Dorfkommunismus verbliebenen proletarisierten Bauernmassen, welche die Verleihung jenes Privatbesitzes als schnödes Unrecht zugunsten der anderen empfanden. Des weiteren schien es immerhin möglich, daß ein anderer wichtiger Träger der alten sozialrevolutionären Ideen sich anders als früher verhalten könnte: das sogenannte »dritte Element«. Dahin gehören die massenhaften, fest aber schlecht bezahlten Angestellten der großen Selbstverwaltungsverbände, der sogenannten »Semstwos«. Unter ihnen befindet sich fast die gesamte, überhaupt in der materiellen Verwaltung tätige »Intelligenz«. So alles Personal der in Rußland sehr wichtigen agronomischen, der veterinären und überhaupt fast aller in unserem Sinn »volkwirtschaftlichen« Arbeit und des weltlichen Volksschulunterrichts, ebenso die, im Gegensatz zu unseren Verhältnissen, mit festem Gehalt angestellten ländlichen Ärzte. Das sind also fast alle jene Kreise der »Intelligenz«, welche mit der Bauernschaft im Alltagsleben als Vertrauensleute ständig zu tun haben. Sie standen in der Zeit der vorigen Revolution zu der fast nur polizeilichen Zwecken dienenden staatlichen Verwaltung im schroffsten inneren Gegensatz und waren die Träger der sozialrevolutionären Propaganda auf dem Lande. Ebenso aber standen sie in Gegnerschaft zu den ehrenamtlichen Mitgliedern der Semstwos selbst, die dem bürgerlichen Besitz, vor allem dem ländlichen Grundbesitz, entstammten. Gewisse Änderungen in der sachlichen Richtung der Semstwoarbeit sowohl wie auch in der Zusammensetzung dieser Schicht, welche man als Folge von Maßregeln der STOLYPINschen Regierung und auch der Semstwos nach der Revolution vermuten durfte, konnten immerhin die jetzige Stellungnahme dieses Elements zu einer Revolution unsicher erscheinen lassen. Durch die Proletarisierung breiter Unterschichten der Bauern und durch die neue Privateigentumsordnung war ferner zwar das landlose, mit dem Dorf nicht mehr durch Landansprüche verknüpfte Industrieproletariat stark vermehrt worden. Es war ein führender Faktor der früheren Revolution gewesen. Aber es ist an Zahl begrenzt, und der Verlauf der Dinge nach dem Verfassungsmanifest hatte damals die neuerdings überall gemachte Erfahrung bestätigt: daß heute Revolutionen mit einem mehr als ganz kurzfristigen Erfolg [198] weder von dem Bürgertum und der bürgerlichen Intelligenz allein, noch auch von den proletarischen Massen und der proletarischen Intelligenz allein erfolgreich durchgeführt werden können. Alle Generalstreiks und Putsche waren gescheitert von dem Augenblicke an, als das Bürgertum und dessen in Rußland wichtigster Bestandteil, die landbesitzenden Semstwokreise, sich der weiteren Mitwirkung versagt hatten. Auch wo aufständische Massen so fähige und wenigstens teilweise uneigennützige Führer haben, wie ohne Zweifel in Rußland, fehlt ihnen eben ein heute nun einmal auf die Dauer grundlegend wichtiges Kampfmittel: die Kreditfähigkeit. Diese genießt dagegen das Bürgertum. Und auf Grund ihrer kann es sich die Geldmittel verschaffen, welche heute für die Organisation einer dauernden Verwaltung, mag sie sich auch »revolutionär« nennen, ebenso notwendig sind wie für jede Machtorganisation überhaupt. Die Menschen wollen und müssen materiell zunächst einmal existieren, und um ein Heer von noch so idealistischen Angestellten zu bezahlen und die zahlreichen materiellen Mittel einer dauernden Macht zu beschaffen, braucht man: Geld. Es kam also darauf an, wie die bürgerlichen Kreise sich zu einer abermaligen Revolution verhalten würden. Die absolut reaktionäre Haltung der wenigen Riesenunternehmer der Schwerindustrie stand auch in Rußland natürlich fest. (Sie waren so reaktionär, daß ihre Haltung Revoltestimmungen der Massen – wie bei uns – allerdings geradezu herausfordern mußte.) Über das Verhalten der Mehrheit der einst die Reformbewegung tragenden bürgerlichen Intelligenz und der Semstwokreise seit der Revolution schien aber ebenfalls kein Zweifel zu bestehen. Ihr durch die Enttäuschung ihrer innerpolitischen Machthoffnungen gebrochenes Selbstgefühl flüchtete sich um so inbrünstiger in die Romantik der äußeren Macht. Ganz begreiflich: die Angehörigen der höheren russischen Bürokratie ebenso wie des Offizierkorps rekrutieren sich ja schließlich dort wie überall sehr stark aus diesen besitzenden Schichten. Konstantinopel und die sogenannte »Befreiung« der Slawen, das hieß praktisch: ihre Beherrschung durch die nationale großrussische Bürokratie, ersetzten also jetzt die Schwärmerei für »Menschenrechte« und die »Konstituante«. Lebendig geblieben war ja diese imperialistische Legende und insbesondere der großrussische Herrschaftsanspruch innerhalb Rußlands selbst in der bürgerlichen Intelligenz auch während der ganzen Befreiungsbewegung. Schon ehe auch nur die allergeringste Garantie für die angeblich allein erstrebten freiheitlichen[199] Errungenschaften erreicht war, hatten (1905) fast alle führenden Persönlichkeiten des »Befreiungsbundes« (nicht etwa nur der ganz zu Unrecht dafür geschmähte Herr PETER STRUVE) ihre Augen nach Konstantinopel und der Westgrenze gerichtet. Die Existenz einer ukrainischen Nationalität wurde von ihnen bestritten, die polnische Autonomie lediglich unter dem Gesichtspunkt, sich für eine künftige Expansion Rußlands nach außen »Freunde an der Westgrenze« zu schaffen, behandelt, die »Befreiung« aller möglichen Völker als Aufgabe ausgerechnet gerade des Großrussentums verkündet, – während doch im eigenen Haus noch schlechthin alles an Befreiung zu tun war. Die kleine Gruppe von Ideologen der alten DRAGOMANOWschen Schule, welche eine Umgestaltung Rußlands zu einer wirklichen gleichberechtigten Nationalitätenföderation erstrebten, waren schon damals entweder betrogene Betrüger oder vollkommen einflußlos und in steter Furcht, den großrussischen Chauvinismus ihrer Genossen zu reizen. Die Frage der Nationalitätenautonomie innerhalb Rußlands war denn auch, wie Prof. J. HALLER in seiner vor kurzem erschienenen lesenswerten Schrift: »Die russische Gefahr im deutschen Hause« (Stuttgart 1917) mit Recht betont hat2, das wichtigste Mittel in der Hand STOLYPINS gewesen, durch Weckung des großrussischen Nationalismus die demokratische Opposition niederzuwerfen. Die feste Überzeugung von dem vermeintlich »unvermeidlichen« Zerfall Österreich-Ungarns[200] und die Schwächung der Türkei im Balkankrieg schwellten die Hoffnungen dieser imperalistischen Intelligenz aufs äußerste. In der Duma wurde sie Hauptträgerin der Kriegsvorbereitungen, und im Kriege vertritt sie die Parole vom »Krieg bis zum äußersten«. Seit der von Prof. HALLER (S. 80) erwähnten Rücksprache des Großfürsten NIKOLAJ (Juli 1914) mit den Führern der »Kadetten« waren diese Politiker höchst plötzlich in das Lager der Kriegshetzer abgeschwenkt. Sie hofften von der Fortsetzung des Kriegs eine Stärkung der finanziellen Position der Bourgeoisie. Die politisch liberale Entwicklung Rußlands, meinten Vertreter der Kadettenpartei zu Kriegsbeginn in Privatgesprächen, »komme ganz von selbst«. Wie dies je hätte geschehen sollen, wenn die Autokratie und Bürokratie durch einen Sieg über uns mit ungeheurem Prestige aus dem Krieg hervorgegangen wären, – dies blieb im Dunkeln. Es war ja nur als Folge einer schweren Niederlage möglich, welche diese russischen Imperialisten durchaus nicht erwarteten. Eine Revolution mußte nach alledem als sehr unwahrscheinlich gelten.

Wenn sie nun dennoch gekommen ist, so war dafür nach den Erfolgen unserer Waffen das rein persönliche Verhalten des Zaren ausschlaggebend. Die Niederlage von 1915 benutzte er zwar zur Kaltstellung des jetzigen »Bürgerkönigs« in spe: des Großfürsten NIKOLAJ. Aber den Teilerfolg von 1916 benutzte er nicht, um mit einem ehrenvollen Frieden aus dem Kriege zu kommen. Die Hoffnung auf Größeres und wohl auch der bei ihm bestehende tiefe, rein persönliche Haß gegen den Deutschen Kaiser bedingten das. Nach der Niederlage in Rumänien gab es noch immer den Weg der Verständigung mit der durch und durch nationalistischen bürgerlichen, monarchisch gesonnenen Mehrheit der auf Grund eines krassen Klassenwahlrechts gewählten Duma. Ihn zu betreten und damit in die Bahn des Parlamentarismus einzulenken, hinderte den Zaren aber offenbar seine verhängnisvolle Eitelkeit. Ob daneben leicht pathologische Züge mitspielten, wie die Art seiner »Frömmigkeit«, die schließlich das Würdegefühl auch seiner besten Anhänger tief verletzt zu haben scheint, vermuten lassen könnte, kann ganz dahingestellt bleiben. Denn sein alles entscheidender Kernfehler lag ganz und gar in jenem verderblichen Irrtum: selbst regieren zu wollen. Dies zu tun, konnte ein Monarch wie der Zar sich allenfalls dann einmal vortäuschen, wenn der Zufall es wollte, daß ein ganz ungewöhnlich begabter Staatsmann ihm den Schein zu wahren half. Der Zar wäre schon bei[201] der letzten Revolution verloren gewesen, nachdem er aus Eifersucht und Eitelkeit den Grafen WITTE entlassen hatte, wenn nicht wider alles Erwarten ihm in STOLYPIN eine der Situation gewachsene Persönlichkeit erstanden wäre, der er sich unbedingt fügte. Ohne einen solchen Anhalt blieb er notwendig ein Dilettant, dessen unvermeidlich unstetes und unberechenbares Eingreifen auch bei weit größerer Begabung alle zielbewußte Politik unmöglich machte und der um die Existenz des Landes und seiner Krone spielte. Technische Kenntnis der modernen Verwaltung konnte er, nachdem der Thron einmal in jungen Jahren bestiegen war, überhaupt nicht mehr erwerben. Aber sie war nicht das Entscheidende. Denn dafür konnten schließlich, bei der nötigen Zurückhaltung des Monarchen, tüchtige Beamte sorgen. Allein – was so gern vergessen wird – ein noch so hervorragender Beamter ist um deswillen noch kein irgendwie geeigneter Politiker und umgekehrt. Noch weniger aber war ein solcher Politiker der Zar. Die besonderen Qualitäten für dieses schlüpfrige Gebiet verantwortlichen Handelns, verbunden mit der strengen Sachlichkeit, dem sicheren Augenmaß, der reservierten Selbstbeherrschung, der Fähigkeit schweigenden Handelns, die es verlangt, sind keine ererbten Angebinde einer Krone. Und diese Qualitäten sich zu bewahren, war für diesen, wie für jeden Monarchen in der die romantische Phantasie stark anregenden Lage eines solchen, noch ungleich schwerer als für andere. Es bedarf eben in monarchischen Staaten heute ganz fester und starker anderer Gewalten, um die Ausschaltung politisch unbegabter Herrscher in ihrem eigenen Interesse im Fall der Notwendigkeit zu ermöglichen.

Eben dieses Problem der gegebenenfalls nötigen Ausschaltung des Monarchen mußte nun aber im Kriege, je länger, je mehr, in Rußland gerade für die tüchtigsten Schichten auch der absolut undemokratischen Imperialisten beherrschend werden. Dazu bedurfte es keiner Anzettelung Englands. Es folgte auch für die zum Teil höchst sozialkonservativen Kreise des sogenannten »Fortschrittlichen Blocks« der Duma aus der Forderung der Sache. Große Politik wird stets von kleinen Kreisen der Menschen gemacht. Entscheidend für den Erfolg ist aber: – 1. daß ihre Entschlüsse nicht durch Einfälle eines politisch so unbegabten Monarchen, wie des Zaren, gestört werden, – 2. daß sie die freie Hingabe einer hinlänglich breiten mächtigen gesellschaftlichen Schicht hinter sich haben, – 3. daß sie wissen, wie Machtkämpfe da geführt werden, wo Reglement, Befehl und militärischer oder[202] bürokratischer Gehorsam nach der Natur der Sache nicht die technischen Mittel ihrer Durchführung sind, – und dies ist in der großen Politik der Fall. Ein Apparat nun, einen politisch unbegabten Herrscher im eigenen Interesse und dem des Landes, da, wo es sachlich nötig ist, auszuschalten, ohne daß die politischen Institutionen umgestürzt werden, bietet nur eine sehr starke und breit fundierte selbstständige Parlamentsmacht der Vertrauensmänner der Wähler. Die menschlich verständliche Eifersucht des Fachbeamtentums, die sich als »monarchistisch« gebärdende Schmeichelei plutokratischer Interessenten und der ästhetenhafte Snobismus von Bildungsphilistern und Literaten (dieser Speichellecker der jeweils als »vornehm« geltenden Mode) hat zwar diesen einfachen Sachverhalt seit Jahrzehnten verlästert. Ästhetisch wird sich niemand an einem Parlament berauschen können. Vom Standpunkt der reinen Verwaltung aus ist es nur Kräftevergeudung und Redegelegenheit eitler Menschen, denen sich jeder tüchtige Fachbeamte an Beherrschung seines Ressorts weit überlegen fühlt, die man durch kleine Vorteile und verhüllten Anteil an der Ämterpatronage ködert und eben dadurch von realer Macht und Verantwortlichkeit ausschließt. Genau diese Qualitäten eignen tatsächlich und ausschließlich jedem machtlosen und daher politisch verantwortungslosen Parlament, welches die großen politischen Begabungen mit ihrem sittlich berechtigten Machtehrgeiz von der Beteiligung fernhält. Das ist »Scheinkonstitutionalismus« und schädigt unweigerlich die politische Qualität der Leistung. Deutschland z.B. hat die besten und ehrlichsten Fachbeamten der Welt. Was militärische Disziplin und Beamtentüchtigkeit können, hat die deutsche Leistung in diesem Krieg gezeigt. Aber die furchtbaren Mißerfolge der deutschen Politik haben auch gezeigt: was nun einmal durch diese Mittel nicht zu leisten ist.

Die Parlamentsmacht verdammt – das ist ihre weitaus wichtigste positive Leistung – durch eine einfach wirkende Auslese den politisch unbegabten Herrscher, und nur ihn, zur Ohnmacht. Dem politisch begabten Monarchen hält sie dagegen jenen gewaltigen Einfluß offen, den z.B. EDWARD VII. – mehr als ein anderer Monarch eine beherrschende Figur der neuesten Zeit – ausgeübt hat. Der Zar hatte zu wählen zwischen dem realen Besitz jener Macht, die jedem Monarchen sein bei politischer Klugheit und Beherrschtheit stets überaus großer tatsächlicher Einfluß auf die Staatsleitung gewährt, und jener eitlen Romantik und Pathetik des äußeren Scheines der Macht, durch[203] dessen Erstreben sein ostensibles und geräuschvolles Eingreifen für die sachliche und konsequente Führung der Politik verderblich wurde und für seine Krone gefährlich werden konnte. In Rußland war zwar (im Gegensatz zu uns) strafbar (als »Publikation eines Hofberichtes«) jede Veröffentlichung von Reden und Telegrammen des Monarchen, welche nicht durch den zuständigen Beamten kontrolliert worden war. Allein das genügte, da dieser Beamte eben ein Hofbeamter war und keine parlamentarische Macht dem Monarchen gegenüber als selbständige Grundlage seiner Stellung hinter sich hatte, nicht einmal zur Verhinderung des Bekanntwerdens politisch unkluger Äußerungen des Zaren. Erst recht nicht setzte irgend etwas der unbegabten Unstetheit seines Eingreifens in die Politik eine Schranke. Deshalb wurden selbst die konservativsten Kreise des russischen Besitzes, und gerade sie, im Kriege Anhänger des Parlamentarismus. Der Zar dagegen optierte für die Romantik des Scheins und entschloß sich auch in letzter Stunde nicht, die formelle Macht auch nur mit den sozialkonservativen Mächten des in der jetzigen Duma vorherrschenden bürgerlichen Besitzes zu teilen. Mit der ihm im eigenen Machtinteresse unbedingt ergebenen Polizei und den angeworbenen »Schwarzen Banden« allein war aber das Land in einer Lage wie der jetzigen nicht in der Hand zu behalten. Sie hatten ihre Fähigkeit gezeigt, Attentate, Generalstreiks, Pogrome zu arrangieren, um das Bürgertum und unbequeme Minister einzuschüchtern, wie dies festgestellterma ßen geschehen ist. Sie waren eine vollständig nach eigenem Ermessen operierende und tatsächlich sehr erhebliche Macht. Aber fast die ganze materielle Verwaltung lag, dem reinen Polizeicharakter des Staates entsprechend, in den Händen eben jener dem Zaren besonders tief verhaßten Semstwokreise. Vor allem mußte daher, wenn diese Vertreter der »Gesellschaft« geflissentlich beiseitegeschoben, desorganisiert oder gar zur Obstruktion getrieben wurden, die wirtschaftliche Versorgung des Landes und der Hauptstädte völlig zum Stillstand gebracht werden. Das geschah offenbar und brachte in Verbindung mit dem Versagen des russischen Eisenbahnsystems infolge der Ansprüche des rumänischen Feldzugs die Revolte unmittelbar zum Ausbruch.

Nun wäre ohne die Gegnerschaft der bürgerlichen Intelligenz gegen das alte Regime jede noch so erfolgreiche Massenrevolte natürlich nach kurzer Dauer ebenso ins Nichts verlaufen und im Blut erstickt worden wie im Winter 1905/06, und wie es etwa einem Putsch[204] der Schwätzer unserer »Gruppe LIEBKNECHT« ergehen würde, wenn man sie sich an Zahl um das Zwanzigfache vermehrt denkt. Aber nicht nur alle geschulten Arbeiterführer, sondern auch die führenden Schichten der bürgerlichen Intelligenz taten infolge des Verhaltens des Zaren mit. Ihre Bataillone gegen Angehörige jener Familien marschieren zu lassen, denen die meisten von ihnen selbst entstammten, hätte sich die Mehrzahl selbst der aktiven und vollends der – jetzt vorwiegenden – Reserve-Offiziere nicht dauernd bereit gefunden. Gerade den tüchtigsten unter ihnen schien überdies die Ausschaltung des unberechenbaren persönlichen Eingreifens dieses Monarchen aber sachlich unumgänglich, nachdem die Folgen seines Dilettantismus zutage getreten waren. Daß dann diese »Ausschaltung« wesentlich anders verlief, als wohl die Mehrzahl von ihnen es gewünscht hätte, daß sie nämlich zum Sturz der Dynastie und nicht zu einem Bürgerkönigtum eines Großfürsten oder zu einer Militärdiktatur führte, – dies erzwang die zunächst unvermeidliche Rücksicht der hauptstädtischen Führer der Bewegung auf die Machtstellung des für den Kampf gegen den Zaren unentbehrlichen Proletariats. Die Hungersnot entstand allein aus einem Versagen der russischen Eisenbahnen gegenüber den Aufgaben, welche die Verlängerung der Front durch den rumänischen Feldzug stellte. Und es zeigte sich nun, daß die Führer der proletarischen Schichten der »Intelligenz«, des staatlichen und sonstigen Unterbeamtentums und der Eisenbahn-, Post-und Telegraphenarbeiter, ihre Leute so in der Hand hatten, daß sie KERENSKIJS Machtstellung hinnehmen und die völlige Beseitigung der Dynastie dulden mußten. Daß aber eine Entwicklung zu einer offenen oder verhüllten Militärdiktatur dauernd unterbleibt, ist, falls der Krieg fortgesetzt wird, sehr wenig wahrscheinlich. Eine gewisse Rücksichtnahme auf die besitzenden Schichten wäre dabei freilich unvermeidlich. Die Mehrzahl der Berufsoffiziere, sicherlich aber die bürgerlichen Schichten der heutigen Klassenduma und provisorischen Regierung fürchten jedoch die wirkliche Demokratie. Und vor allem fürchten eine solche die Geldgeber im Inland und in den verbündeten Ländern. Teils weil sie die Fortsetzung des Krieges wünschen, teils aber weil sie für die Sicherheit ihrer Geldvorschüsse fürchten. Dieser Einfluß ist der wichtigste. Bei der früheren Revolution ließ sich Schritt für Schritt verfolgen, wie seitens der Regierung des Grafen WITTE ganz genau das geschah, an Konzessionen und an Repressionen, was jeweils von den ausländischen Banken und Börsen[205] für die Kreditwürdigkeit seines Regimes für ersprießlich gehalten wurde. Die bürgerlichen Leiter des gegenwärtigen Regimes haben, wenn sie Kredit erhalten wollen, gar keine Wahl, als genau ebenso zu verfahren. Das Gelingen der auswärtigen Anleihe setzte den Zaren 1906 in den Stand, WITTE zu entlassen, die Scheinkonstitution zu oktroyieren, vor allem die Polizeigewalt und die »Schwarzen Banden« neu zu etablieren und dann die Duma zuerst als Luft zubehandeln und weiterhin zum Staatsstreich zu schreiten. Finden sich die Persönlichkeiten, so erhalten sie das Geld zur Bändigung des Landes unter gleichviel welchen scheindemokratischen Formen natürlich auch diesmal. Die Aufgabe an sich ist nicht unlösbar und die Frage nur die: ob sich Persönlichkeiten finden. Das kann kein Ausländer wissen. Jedenfalls aber wird sich jeder selbst sagen, daß ein Regime, für dessen Kosten zunächst Leute wie MOROSOW und die anderen Führer des erzreaktionären Großkapitals das Geld zeichneten, keine »Demokratie« bedeuten kann. Nach den Banken, den inländischen und ausländischen, und jetzt nach Amerika richten die Herren MILJUKOW und GUTSCHKOW ihre Blicke, um von da das Geld zu erhalten – nicht in erster Linie zur Führung des Krieges, sondern um sich gegen die Radikalen im Sattel zu befestigen.

In diesem ganzen Zusammenhang ist nun entscheidend wichtig und charakteristisch die Stellung der Regierung gegenüber den Bauern, welche auch bei der früheren Revolution das in die Augen fallende Symptom der jeweiligen innerpolitischen Machtlage war.

Wirkliches Interesse am Frieden haben objektiv vor allem die Bauern, die ungeheure Mehrzahl des russischen Volkes. Im Sinn ihrer eigenen Ideale sind ihre realen Interessen nicht zu befriedigen ohne: 1. Enteignung des gesamten nichtbäuerlichen Grundbesitzes und 2. Kassierung der Auslandsschulden Rußlands. Gerade das letztere ist entscheidend. Denn sollten die Bauern die Schuldzinsen für das Ausland decken, so begänne der von den russischen Nationalökonomen eindringlich geschilderte Prozeß aufs neue: daß diese total unterernährte Schicht das Getreide, welches für den Export zur Deckung jener Zinsen erforderlich ist, hergeben müßte und durch gewaltige Steuern zum unfreiwilligen Verkauf gezwungen werden würde. So war es früher. – Die praktisch vermutlich auch diesmal unüberwindlichen Schwierigkeiten aber, welche der erste Punkt: die Enteignung, bietet, liegen nicht so sehr in der Sache an sich als in den unvermeidlich bei der Durchführung entstehenden Interessenkonflikten[206] zwischen den einzelnen, vor allem: den lokalen und regionalen Gruppen innerhalb der Bauern selbst. Wenn die Enteignung in einem Kreise für die dortigen Bauern 6 Hektar ergibt, im Nachbarkreise aber je 15, so verlangen die Bauern des ersteren natürlich Gemeinsamkeit der Verteilung, während die letzteren das Land ihres Kreises für sich monopolisieren wollen. Diese Konflikte spielten schon in den ersten Stadien der früheren Revolution ihre Rolle. Außerdem natürlich liegt die Schwierigkeit darin, daß sie für das Land nichts bezahlen wollen, also in hoffnungslosen Konflikt mit den bürgerlichen Interessenten des Bodeneigentums geraten. Diese Schwierigkeiten wären zu beseitigen nur im Wege einer jahrelang dauernden sozialrevolutionären Diktatur (unter »sozialrevolutionär« ist dabei nicht irgendein Wüterich, sondern einfach ein Politiker verstanden, welcher an die in Rußland überaus jugendliche »Heiligkeit« des privaten ländlichen Grundbesitzes sich nicht kehrt). Ob Persönlichkeiten dafür vorhanden sind, weiß ich nicht. Dauernde Macht könnten sie aber nur dann gewinnen, wenn schleunigst Frieden geschlossen würde. Denn nur dann wären die Bauern überhaupt in der Heimat und ständen zur Verfügung. Jetzt sind in der Heimat Greise, Kinder und Frauen, die Bauern aber sind der »Disziplin«, und das heißt in diesem Fall: der Gewalt der jetzt herrschenden, besitzenden Schichten und der aus ihnen hervorgehenden Offiziere und Beamten, ausgeliefert. Die Disziplin mag noch so sehr gelockert und das Heer in seiner Offensivkraft geschwächt sein, diesen Dienst leistet die Fortdauer des Krieges den besitzenden Schichten doch. Diese Schichten sind natürlich geschworene Feinde jeglicher Bauernbewegung, denn sie sind verbündet mit den in den Semstwos herrschenden Grundbesitzinteressenten. Sie sind daher, um die Bauern von der Heimat fernzuhalten, bedingungslos für die Fortsetzung des Krieges um seiner selbst willen, auch wenn sie völlig aussichtslos ist. Denn nur dadurch können: – erstens die Massen der Bauern weiter von der Heimat fern in den Schützengräben unter der Kontrolle der Generale gehalten, inzwischen – zweitens die Festigung der neuen Macht der besitzenden Klassen vor dem Friedensschluß durchgeführt, und dafür – drittens die Geldunterstützung der Banken im Inland und Ausland gewonnen werden, um die neue Macht zu organisieren und die Bauernbewegung niederzuhalten. Die Situation ähnelt der unserigen darin, daß auch unsere Konservativen jetzt gern hinter dem Rücken des Heeres draußen eine Scheinreform des preußischen[207] Wahlrechts vornehmen möchten. Niemals wären solche Reaktionäre wie GUTSCHKOW und ähnliche Persönlichkeiten in die jetzige Regierung eingetreten ohne Garantien dafür, daß jede wirkliche Bauernbewegung niedergeschlagen wird. Nur zu diesem Zwecke traten sie ein. Das liegt auf der Hand. Niemals würden andererseits die erzreaktionären Schwerindustriellen und Handelskammerpräsidenten und die Banken die »Freiheitsanleihe« zeichnen oder die Geldgeber in den verbündeten Staaten dem neuen Regime Kredit gewähren ohne die gleichen Garantien, da sie sonst ihr bisher geliehenes Geld verlieren würden. Das liegt ebenfalls auf der Hand. Mit Geld kann man gewiß nicht alles in der Welt machen. Ohne Geld aber kann man auf die Dauer gar nichts machen. Mit den Milliarden der »Freiheitsanleihe« wird es nach menschlichem Ermessen möglich sein, 1. die Massen der Bauern weiter in den Schützengräben und also in Ohnmacht zu erhalten, – 2. jeden Versuch der wirklichen Demokraten im Inland, die Macht an sich zu reißen, zu vereiteln. Diese Gewalt des Geldes kann durch Putsche und Revolten wohl gehemmt und in ihrer Bedeutung für die Öffentlichkeit im Kriege gelähmt, aber sie kann ohne eine völlige Liquidation des Krieges nun und nimmer gebrochen werden. Für die Machtlage der beiden feindlichen Parteien liegt bisher als Symptom nur die Tatsache vor: daß ein Teil des inländischen Hauptkapitals die »Freiheitsanleihe« zu zeichnen sich weigert, also dem Bestand der bürgerlichen plutokratischen Regierung nicht zu trauen scheint. Immerhin ein wichtiges Anzeichen.

Die Demokraten haben aber ihrerseits wenigstens bisher noch nicht die Fähigkeit gezeigt, an der Machtstellung der Finanz ernstlich zu rütteln. Man hat ihnen natürlich durch Zulassung eines gewissen Maßes von Bewegungsfreiheit, vor allem der praktisch wichtigen Freiheit des Agitierens, ferner durch das Versprechen der »Republik« und im übrigen durch genau so allgemein gehaltene Versprechungen für die Zukunft, wie sie seinerzeit auch die Regierung des Zaren gegeben hatte, Konzessionen gemacht. Denn vorläufig sind sie anscheinend nach wie vor im Besitz der Verfügung über einen Teil der Verkehrsmittel, vor allem der inländischen Telegraphen und Eisenbahnen. Aber nicht sie erhalten den Kredit der Banken, und solange der Krieg fortgesetzt wird, hat daher ihre Macht zur Etablierung eines ständig funktionierenden Regierungsapparates eine feste und enge Grenze. Auch die zu ihnen haltenden zahlreichen[208] Beamten wollen ja auf die Dauer vor allem – bezahlt sein, und dazu braucht man Bankkredit. Von den Banken erhält aber nur Geld, wer 1. vorläufig den Krieg fortsetzt und 2. die Bauern, deren Ideale mit den Interessen der russischen Staatsgläubiger unvereinbar sind, unbedingt niederhält.

Die Regierung hat nie die »Konstituante« versprochen. Diese würde, wenn 1. wirklich freie Wahlen stattfänden und 2. die Bauern wirkliche Informationen über die Sachlage erlangen könnten, ganz unfehlbar eine ungeheure Mehrheit von Bauernvertretern bringen, welche für 1. Landenteignung, 2. Kassierung der Staatsschuld, 3. Frieden einträten. Die herrschenden besitzenden Schichten und die leitenden Offiziere sind daher ebenso wie die großen Geldmächte des In- und Auslandes einerseits an Verfälschung der Informationen der Bauern und der Wahlen selbst, andererseits, wenn dies nicht möglich ist, an Hinausschiebung der Konstituante interessiert. Vor allem aber daran: daß die Angehörigen des Heeres, d.h. die Masse der kräftigsten Bauern, um keinen Preis an den Wahlen zur Konstituante teilnehmen.

Aber auch viele Vertreter der sozialdemokratischen russischen Industriearbeiter können sich für keinen der drei Punkte jenes naturgegebenen Bauernprogramms ernstlich begeistern. Die wirklichen Hoffnungen der Bauern erscheinen dem marxistischen Sozialdemokraten, vor allem PLECHANOW, natürlich heute genau so utopisch und »rückständig« wie 1905. PLECHANOW und ähnliche Ethiker sind als marxistische Evolutionisten die geschworenen Gegner aller »kleinbürgerlichen, bäuerlichen Gleichheits- und Teilungs-Ideale«; dazu treten materielle Momente. Die Arbeiter verlangen Höchstpreise und billiges Brot, die Bauern halten das Getreide zurück und würden der Beschlagnahme, wenn sie könnten, Gewalt entgegensetzen. Der Verdienst der Arbeiter in der Kriegsindustrie ist sehr gut. Irgendwelche Erfolge der wirklichen Bestrebungen der Bauern könnten die kapitalistische industrielle Entwicklung Rußlands für Jahre verlangsamen. Und wie in der ganzen Welt haben sich die sozialistischen Arbeiter, wo immer sie zur Regierung kamen (so in sizilianischen Städten), als bewußte Förderer der kapitalistischen Entwicklung, die ihnen ja Arbeitsgelegenheit gibt, gezeigt. Vor allem aber müßten sie ihre Macht mit der riesigen Mehrheit einer Bewegung ganz anderen Gepräges teilen, von deren abgründiger »Unreife« sie so überzeugt sind, wie nur irgendein deutscher Literat es ist. Das hindert natürlich[209] ein ganz aufrichtiges gefühlsmäßiges Solidari tätsempfinden mit den Bauern nicht. Und es hindert nicht, daß die nicht kriegsindustriell interessierten oder evolutionistisch gebundenen Sozialisten für den Frieden eintreten. Es hindert endlich auch nicht, daß sie ihrem Programm gemäß »prinzipiell« die Forderung der alleinigen Zuständigkeit der Konstituante vertreten müssen. Wohl aber beeinflußt es die tatsächliche praktische Haltung der mit in der Macht sitzenden sozialistischen Politiker unbeschadet aller Prinzipien.

Die sozialistischen Arbeiterführer können durch Obstruktion der Verwaltung wohl politische Konzessionen von einer bürgerlichen Regierung eintauschen, – nicht aber von einer »Konstituante« der Bauern. Aus eigener Kraft, ohne die bürgerlichen Schichten, können sie ferner keine stetige Verwaltung des Landes organisieren, solange der Krieg dauert. Denn dafür ist eben der entscheidende Punkt: der Mangel der Kreditfähigkeit, die so lange ein für die Teilnahme an der Macht ausschlaggebender Faktor bleibt, als der Krieg fortgesetzt wird. Gegen diese Fortsetzung energisch aufzutreten, riskieren sie aber dennoch nicht. Denn sie können gerade jetzt die Bundesgenossenschaft der allein kreditwürdigen bürgerlichen Schichten nicht entbehren. Ohne Fortsetzung des Krieges aber würde diesen der Kredit gesperrt. Die Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre können also, solange die Lage bleibt, wie sie ist, nur die Rolle von »Mitläufern« spielen und werden als solche gern geduldet, weil sie den Massen einen wirklich »revolutionären« Charakter der Regierung vortäuschen. Aber über die entscheidende Frage von Krieg und Frieden verfügen vorerst nicht sie, sondern die besitzenden bürgerlichen Schichten, die Offiziere und – die Banken. Nicht eine »Revolution«, sondern eine einfache »Ausschaltung« eines unfähigen Monarchen hat bisher stattgefunden. Die reale Macht ist mindestens zur Hälfte in den Händen von lauter monarchisch gesinnten Kreisen, die den jetzigen republikanischen Schwindel nur deshalb mitmachen, weil der Monarch sich zu ihrem Bedauern nicht in die sachlich gebotenen Schranken seiner Macht gefügt hat. Ob die »Republik« infolge der Torheiten und der Minderwertigkeit der Dynastie schließlich der Form nach wirklich für längere Zeit (womöglich dauernd) sich etablieren muß – was jene Kreise bestimmt nicht wünschen –, ist sachlich gleichgültig. Es kommt nur darauf an, ob die wirklich »demokratischen« Elemente: Bauern, Handwerker, Industriearbeiter außerhalb der Kriegsindustrie, die reale Macht gewinnen. Das ist nicht[210] unmöglich, aber im Augenblick jedenfalls noch nicht der Fall. Haben aber erst die bürgerlichen Teilhaber der Regierung, GUTSCHKOW, MILJUKOW usw., das Geld Amerikas oder der Banken in der Hand, dann ist die Zeit reif für den Versuch, sich der sozialistischen Mitläufer mit Hilfe der Offiziere und der Gardetruppen gänzlich zu entledigen. In dem Augenblick, wo dann wirklich »revolutionäre« Konsequenzen gezogen werden sollten, würden die sozialistischen Ideologen die Geldmacht und die jetzt herrschenden bürgerlichen Kreise geschlossen gegen sich haben. Alle noch so radikalen Politiker, die mit diesen Mächten herrschen wollen, haben gar keine Wahl, als sich zu der elenden Rolle herzugeben, welche Leute wie KERENSKIJ und TSCHEIDSEE heute spielen müssen. Das ist der sehr einfache Zusammenhang.

Wer diesen Zusammenhang bezweifelt – und so naive Gemüter wird es im neutralen Ausland sicher, vielleicht aber auch bei uns geben –, der wird doch die Probe auf das Exempel anerkennen müssen, wenn er ehrlich sein will. Diese Probe besteht in folgenden Punkten:

1. Die ganze Masse der Bauern befindet sich an der Front. Die Radikalen, die angeblich gegen den »Militarismus« sind, müßten nun vor allem dafür eintreten, daß diese Leute ihre Meinung in geheimer Abstimmung und Wahl (deren Geheimhaltung sorgsam zu kontrollieren wäre) äußern dürfen. Die Reaktionäre und nur sie haben dagegen, wie gesagt, das klare Interesse: 1. die Bauern an der Front zu halten und 2. die Beteiligung der Front an der Abstimmung zu hindern. Solange in den Dörfern nur Greise, Kinder und Frauen sind, sind die Bauern machtlos. Und die Daheimgebliebenen haben es äußerst billig, das große Maul für die Fortsetzung des Krieges zu führen. Sie verdienen ja Geld daran und eignen sich die Kundschaft der draußenliegenden Krieger zu. Das alles ist sonnenklar. Wenn sich also die Radikalen der Fernhaltung der Armee von den Wahlen fügen, so wollen sie den Frieden nicht, – weil sie nicht »dürfen«. Die Probe ist, wenn die Nachrichten nicht direkt gefälscht sind, gemacht: die Deputierten der neuen Regierung, mit Einschluß des Reaktionärs GUTSCHKOW einerseits, des Revolutionärs KERENSKIJ andererseits, sind bei dem (erzreaktionären) General BRUSSILOW gewesen. Was ist geschehen? Sie haben sich gefügt. Nach neueren Nachrichten scheint freilich irgendeine Form der Beteiligung des Heeres doch durchgesetzt zu sein. Aber es gibt der Proben noch mehrere.

[211] 2. Eine öffentliche, absolut unzweideutige Erklärung der Zentralmächte und überdies ein Telegramm der deutschen sozialdemokratischen Partei liegt den (angeblich) »radikalen« Petersburger Führern vor. Die ganz einfache Probe ist: ob sich daraufhin die jetzige Regierung, deren im Innern mächtigster Mann KERENSKIJ ist, oder ob wenigstens die Konkurrenzregierung, deren mächtigster Mann TSCHEIDSEE ist, die Herbeiführung von Friedensverhandlungen der Zentralmächte mit den verbündeten Ententemächten zu erzwingen versucht oder nicht. Weigern sie sich, ihren Bundesgenossen abzuverlangen, auch nur in Friedensverhandlungen einzutreten (unter der Androhung, dies sonst selbständig zu tun), so ist die zweite Probe gemacht. – Die nächste Zeit wird es lehren.

3. Es gibt aber immer noch weitere Proben: Friedensverhandlungen kann man unmöglich machen durch öffentliche Proklamierung von Bedingungen, denen sich der Gegner wie einem »Ultimatum« vor Beginn der Verhandlungen zu fügen habe. Darauf läßt sich kein Gegner ein. Das hat aber Prof. MILJUKOW – ohne Widerspruch des »Radikalen«: KERENSKIJ – durch sein Manifest über Polen und seine Erklärung über Serbien getan. In dem Manifest über Polen ist nicht gesagt, welches Gebiet Prof. MILJUKOW darunter versteht. Es gibt in ganz Deutschland, wie er genau weiß, keinen Menschen, der über deutsches, von Deutschen in untrennbarer Mischung mit Polen bewohntes Reichsgebiet zu verhandeln gedenkt. Sondern es handelt sich darum: daß die von Rußland 1815 garantierte Selbständigkeit Polens, nachdem sie von dem russischen Zaren schnöde geraubt worden ist, unter neuen Garantien wiederhergestellt werden soll. Die Hauptfrage ist: welches soll die Ostgrenze dieses Gebiets sein? Nach deutschem Standpunkt hat dafür die Ansicht der Polen maßgebend zu sein. Die Polen sind jetzt aus der Duma ausgetreten, da sie nicht mehr ihre Vertretung sei. Prof. MILJUKOW, dem die Duma die Macht gegeben hat, hat also mit ihnen offenbar nichts mehr zu schaffen.


Dazu tritt die innerrussische Nationalitätenfrage. Ein echt demokratisches Programm dafür hatte seinerzeit der Kleinrusse DRAGOMANOW aufgestellt3: ganz freie Föderation mit Bundesparlament und Kontrolle nur der formalen Rechtmäßigkeit der Akte der autonomen[212] Landtage und Behörden der Einzelvölker. Die jetzige Regierung hat nicht umhin gekonnt, ein Nationalitätenprogramm aufzustellen, welches Gleichstellung verheißt. Aber von Autonomie, d.h. einem Ersatz des großrussischen Beamtentums und Offizierkorps durch frei von den einzelnen Nationalitäten bestimmte Funktionäre, von Landtagen oder doch von solchen Rechten, wie sie die Tschechen, Kroaten, Slowenen in Österreich haben, steht nichts darin.

Hier hat diese Demokratie ihre feste Schranke, solange die jetzige bürgerliche Regierung in Rußland besteht. Denn ihre imperialistischen Mitglieder, insbesondere die Dumakreise, wollen ja gerade die Beherrschung der anderen Fremdvölker durch eine Bürokratie und ein Offizierkorps, welche aus ihrer eigenen Mitte, das heißt aus den besitzenden großrussischen Schichten hervorgegangen sind. So war es von jeher, einerlei, wer in Rußland regierte. An diesem Problem ist die frühere Revolution durch das Wachrufen des großrussischen Chauvinismus zum Scheitern gebracht worden. – Auch die Sozialisten werden sich da – aus Angst vor dieser Möglichkeit – zunächst fügen müssen. Daß »nationale« Versprechungen, welche Herr GUTSCHKOW und die übrigen Mitglieder der aus Klassenwahlen hervorgegangenen Duma machen, ehrlicher erfüllt würden als die des Zaren, glaubt weder eines der russischen Fremdvölker, noch glaubt es Herr GUTSCHKOW selbst, und am allerwenigsten glauben es die Herren KERENSKIJ und TSCHEIDSEE. Aber sie müssen das trotzdem mitmachen.

Denn – um es immer wieder zu sagen – die an der gegenwärtigen Gewalt teilnehmenden Politiker, gleichviel welcher Richtung, bedürfen des Geldes der Banken. Dies Geld wird nur zum kleinsten Teil für den Kampf gegen die Zentralmächte verwendet. Die Hauptmasse wird gebraucht, um die Beherrschung des Landes durch die kapitalistischen Interessenten und die Interessenten der großrussischen besitzenden Intelligenz zu sichern. Zu dieser Sicherung gehört zunächst die Schaffung einer Wehrmacht, so zuverlässig für das bürgerliche Regime, wie die Schwarzen Banden des Zaren es für diesen waren. Sie ist bestimmt vor allen Dingen gegen innere Gegner. Das geschieht soeben – mit den Vorschüssen der Banken und der Großindustriellen. Ferner ist dafür nötig die Verhaftung aller derjenigen Leute, welche die Bauern im Sinn von deren eigenen Interessen zu beeinflussen imstande sind. Das sind die gleichen Mittel, welche das Regime des Zaren anwandte. Diese Verhaftungen haben schon jetzt begonnen. Sie erfolgen unter der Firma: daß diese Radikalen geheime Agenten[213] Deutschlands seien. Vor allem werden die Wahlen zur Konstituante (wenn sie überhaupt während des Krieges stattfinden) durch Verbreitung der bekannten unwahren Behauptung über die »Unterstützung des alten Regimes durch Deutschland« verfälscht. Davon ein Wort.

Im Jahre 1905 wurde ich von akademisch gebildeten, lange Zeit in Deutschland gewesenen Russen allen Ernstes immer wieder gefragt: 1. ob Deutschland im Fall der Enteignung des russischen Privatgrundbesitzes intervenieren, – 2. wenn ja, ob die Sozialdemokratie in der Lage sein werde, dies zu hindern. Die Verneinung der beiden für jeden Kenner deutscher Verhältnisse gleich lächerlichen Fragen stieß auf völligen Unglauben. Nun hat gewiß das Verhalten der konservativen preußischen Polizei zur Entstehung dieses Glaubens das ihrige beigetragen: ich will diese würdelosen und dabei politisch für uns wertlosen Dienste hier nicht nochmals aufzählen. Denn ich denke, das ist jetzt vorbei. Direkter Urheber des wahnwitzigen Märchens war aber 1905 der erzreaktionäre Militärgouverneur von Warschau, SKALON, der sehr genau wußte, was er damit tat. Keiner der heutigen Petersburger Machthaber glaubt diesen Unsinn. Dennoch wird er von ihnen genau ebenso benutzt wie von SKALON. Und es scheint sich dabei auch zu zeigen: daß die Vertreter des russischen Sozialismus nur die Wahl haben, entweder dies erbärmliche Spiel mitzumachen oder: auf die Teilnahme an der Macht zu verzichten. Sie müssen es ebenso mitmachen, daß die Friedensbotschaft der Zentralmächte ignoriert wird, und müssen es dulden, daß Kriegsmanifeste und Interviews mit dem Kriegsziel: »Vernichtung des preußischen Militarismus« oder »Absetzung der Hohenzollern« oder Losreißung türkischer oder österreichischer oder deutscher Gebietsteile in die Welt gehen. Denn sonst gibt es kein Geld für die Erhaltung der eigenen Herrschaft im Lande.

Diese sonnenklare Lage der russischen Scheindemokratie und insbesondere der sozialistischen Führer in Rußland begründet nun die politisch sehr verantwortliche Situation der deutschen sozialdemokratischen Partei und ihrer Führer.

Denn die Lage ist jetzt diese: Neben den erwähnten sehr materiellen Umständen beruht jene Haltung der russischen sozialistischen Führer auf einer grundsätzlichen Voraussetzung: daß nämlich die deutsche Sozialdemokratie jetzt, wo ein Heer von Negern, Ghurkas und allem barbarischen Lumpengesindel der Welt an unserer Grenze[214] steht, halb wahnsinnig vor Wut, Rachedurst und Gier, unser Land zu verwüsten, sich dennoch vielleicht dazu hergeben werde, den Schwindel der jetzigen russischen Duma-Plutokratie mitzumachen und dem deutschen Heer, das unser Land vor wilden Völkern schützt, moralisch in den Rücken zu fallen. Daneben freilich auch auf einer ungeheuren Unterschätzung der deutschen militärischen Kraft und unseres Entschlusses, nötigenfalls alle Entbehrungen auf uns zu nehmen, um einen dauerhaften Frieden zu erzwingen, wenn es den russischen Machthabern, wie vorauszusehen, wiederum gelingt, Friedensverhandlungen zu vereiteln. Es ist durchaus notwendig, daß die deutsche Arbeiterschaft weiß, daß und warum zur Zeit von irgendeiner echten »Demokratie« in Rußland gar keine Rede ist. Mit einem wirklich demokratischen Rußland könnten wir jederzeit einen ehrenvollen Frieden schließen. Mit dem jetzigen vermutlich nicht; denn die Machthaber brauchen den Krieg um ihrer Machtstellung willen.

Es ist gewiß ein widerwärtiger Gedanke, daß unsere Truppen nach fast drei Kriegsjahren noch immer der Heimat fernbleiben müssen, nur weil die plutokratische Hälfte der jetzigen Regierung in Rußland ihre Macht im Innern des Landes durch Festhaltung der Bauern in den Schützengräben und Benutzung des Bankkredits festigen muß, und weil die Macht der Sozialisten infolge ihrer Kreditunfähigkeit unzulänglich ist und sie deshalb genötigt sind, mit den Wölfen zu heulen. Aber wenn nicht ein neuer Umsturz eintritt oder die Machtlage sich verschiebt, wird es mindestens mehrere Monate dauern, bis auch das Interesse breiter bürgerlicher Elemente in Rußland an einer Durchführung geordneter Verhältnisse, deren Vorbedingung ein anständiger Friede ist, sich maßgebend durchsetzen kann – so oder so. Der Moment kommt natürlich mit absoluter Sicherheit. Aber bis dahin muß eventuell rücksichtslos weitergekämpft werden, darin besteht tatsächlich gar keine Wahl. Daß man, solange noch eine wirklich erhebliche Hoffnung auf einen Sieg der Friedensströmung besteht, die Russen unter sich läßt, ist in der Ordnung. Zeigt sich, daß die am Krieg interessierten Mächte doch das Übergewicht gewinnen, dann fällt dazu der Grund fort.

Zu lernen haben wir unsererseits von dieser jetzigen Scheindemokratie gar nichts als nur das eine: daß man nicht durch solchen Schwindel, wie es das jetzige Dumawahlrecht ist, den moralischen Kredit einer Krone gefährden soll. Das zu betonen, scheint leider auch jetzt noch zeitgemäß.[215]


Fußnoten

1 Die »Hilfe« vom 26. April 1917 (23. Jg. 1917, S. 272-279).


2 Die Schrift richtet sich gegen das Buch und auch gegen die Kreuzzeitungstätigkeit des Herrn Prof. HOETZSCH. Es ist in der Tat geradezu erstaunlich, daß ein Mann, der in Rußland wiederholt gewesen ist und dessen Buch mit beträchtlichen Ansprüchen auftritt, eine so vollständige Unkenntnis entscheidender politischer Parteigruppierungen an den Tag legt, wie es in jenem in jeder Hinsicht überaus seichten Buche geschieht, welches als politische Informationsquelle nicht in Betracht kommt. Meine eigenen seinerzeit gleichzeitig mit den Ereignissen geschriebenen Chroniken der Revolution von 1905/06 (»Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland« und »Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus«, Tübingen, Mohr, 1906) können nur unter dem Vorbehalt noch in Betracht kommen, daß man 1. heute natürlich auch bei uns sehr viel mehr wissen kann, als damals, und den ganz lückenhaften Berichten zu entnehmen war, 2. daß seitdem die STOLYPINsche Reform unternommen wurde. STOLYPINS Bedeutung überhaupt war damals nicht zu erkennen. Für die Orientierung über die (seitdem teilweise verschobenen) Partei strömungen in Rußland und ihre reale Unterlage können jene anspruchslosen Chroniken vielleicht auch heute noch dem gänzlich Ununterrichteten eine gewisse Stütze bieten, wenn er die Mühe des Lesens nicht (wie z.B. Herr HOETZSCH tat) scheut.


3 Siehe des Verfassers Bemerkungen in seinem Bericht »Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland«, aus dem Jahre 1906 [Beilage zum XXII. Band, 1. Heft des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, S. 267 ff.]. (D.H.)


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 216.
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