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Es ist zunächst Pflicht, einige Bemerkungen nach »links« hin zu machen.
Daß die Sozialdemokratie, nachdem es auch bei uns zu einem politischen Teilstreik gekommen war, wie er in anderen Ländern an der Tagesordnung ist, sich an der Leitung dieser unorganisierten Bewegung beteiligte, war staatspolitisch wahrscheinlich nützlich. Aber vor allem in sachlicher Hinsicht muß – so wenig sozialistische Kreise Ratschläge Außenstehender anzunehmen geneigt sein werden – doch auf das nachdrücklichste darauf hingewiesen werden: daß jede Partei, welche direkt oder indirekt einen schlechten oder leichtsinnigen Frieden verschuldet oder, indem sie den deutschen Unterhändlern in den Rücken fällt, den Friedensschluß erschwert, ihre Rolle in Deutschland ausgespielt haben würde. Noch nach Jahrzehnten würde ihr das nachgehen. Und diese Gefahr besteht. Denn wie liegen die Dinge?
Wir werden im Osten mit demjenigen Frieden schließen, der eine Gewähr loyaler Erfüllung bietet, sei er, wer er wolle. Dem Bolschewismus geben nun die, soviel ich weiß, aus persönlichem Augenschein bestunterrichteten und unbefangensten (radikal sozialistischen) Kenner eine Herrschaftsdauer, die nur nach Monaten zählt. Trifft dies zu, dann bietet ein Frieden gerade mit ihm für das Verhalten der später kommenden Regierung die geringste Gewähr. Jedenfalls ist er die Regierung einer sehr kleinen Minderheit. Gestützt ist er vor allem auf große Teile des kriegsmüden Heeres. Er ist der Sache nach (und ganz unabhängig von der Aufrichtigkeit seiner Ideologie) notgedrungen eine reine Militärdiktatur, nur nicht eine solche der Generäle, sondern: der Korporäle. Es ist reiner Unsinn, wenn man die Vorstellung hegen wollte, hinter ihm ständen »klassenbewußte« Proletariermassen westeuropäischen Gepräges. Soldatenproletariat[292] steht hinter ihm. Das hat seine Konsequenzen. Welche Ziele auch immer die Petersburger Literaten verfolgen mögen, ihr Machtapparat: die Soldaten, erwartet und verlangt vor allem: Löhnung und Beute. Das entscheidet aber über alles (ich darf die Sozialdemokratie daran erinnern, daß die Vorhersagen über die Konsequenzen der Gebundenheit KERENSKIJS an seine spezifischen Machtmittel sich im wesentlichen voll bewahrheitet haben). Die gutbesoldeten Roten Garden haben keinerlei Interesse am Frieden, der sie ja verdienstlos macht. Die Soldaten, die unter dem Vorwande der »Befreiung« der Ukraine, Finnlands und anderer Gebiete dort einbrechen und (ebenso wie in Rußland selbst) Kontributionen erheben, ebensowenig. Die einzige, wenigstens der Form nach durch demokratische Wahl beglaubigte Autorität Rußlands, die konstituierende Versammlung, wurde gewaltsam gesprengt. Nicht wegen prinzipieller Verschiedenheit der Ansichten, – ihre stärkste Partei erklärte, den Waffenstillstand halten und die Friedensverhandlungen fortführen zu wollen. Sondern: damit nicht neue Brotgeber anderen Leibgarden, Angestellten und Truppenkörpern zu Lohn und Beute verhelfen könnten. Es ist der reinste Militarismus, den es zur Zeit irgendwo gibt. Alles andere ist, objektiv, Schwindel, welche Ziele auch immer die Leitung zu haben vorgeben und subjektiv vielleicht wirklich ehrlich haben möge. Aber auch diese Ziele sind, wie bei ausnahmslos jedem russischen Intellektuellen, durchaus »imperialistisch«. Denn es ist nicht wahr, daß es nur bürgerlichen Imperialismus gebe, wenn anders man als Imperialisten jemanden bezeichnet, der aus Machtgier sich, unter idealen Vorwänden, in die Angelegenheiten fremder Völker einmischt, zumal ehe im eigenen Hause irgendwelche Ordnung geschaffen ist. Der bolschewistische Soldatenimperialismus bedroht, solange er besteht, die Sicherheit und Selbstbestimmung aller angrenzenden Völker, und es ist ganz unwahrscheinlich, daß eine von diesen militaristischen Masseninstinkten abhängige Regierung einen aufrichtigen Frieden überhaupt schließen könnte, selbst wenn sie wollte. Daraus folgt alles. Mit einer ehrlich pazifistischen russischen Föderativrepublik wäre natürlich die denkbar beste Nachbarschaft möglich, und jedes Interesse an auch nur zeitweiligen Sicherheiten fiele für uns fort. Was jenseits der Grenze geschähe, ginge uns dann nichts an. Vorerst ist diese pazifistische Wendung des russischen Radikalismus aber eben nicht da, und ob ein imperialistischer Ausdehnungstrieb zaristische, kadettische oder bolschewistische Etikette trägt, ist[293] für den Effekt natürlich ganz gleichgültig. Die Friedensforderung der Streikenden zeugt also davon, daß sie von der Sachlage keine Ahnung haben, und sie diskreditiert durch die Forderung eines Friedens auf die Bedingungen einer Regierung hin, die nicht Frieden, sondern Gewalt will, jeden auf das schwerste, der sich mit ihr einläßt. Das alles muß der Arbeiterschaft – mögen ihr diese Tatsachen noch so unbequem sein – von ihren Führern zunächst klargemacht werden, sonst ist mit ihr nicht ernstlich zu diskutieren.
Freilich werden keinerlei Argumentationen dauernden Eindruck machen, wenn die wirklichen Gründe des Ausstands nicht aus dem Wege geräumt werden. Er ist der unvermeidliche Rückschlag gegen schlimme innerpolitische Vorgänge der letzten Zeit und ihre Träger. Zunächst gegen die Art, wie der preußische Klassenlandtag es wagen darf, das im Angelpunkt der ganzen deutschen Politik stehende Problem des preußischen Wahlrechts zu behandeln. Nur der ist ein nationaler Politiker, der die innere Politik unter dem Gesichtspunkt der unvermeidlichen Anpassung an die außenpolitischen Aufgaben ansieht. Wem die daraus folgenden »demokratischen« Konsequenzen nicht passen, der verzichte auf eine Großmachtpolitik, die sie unvermeidlich macht. Ist es etwa ein Zufall, daß die aristokratischste Körperschaft der Erde, das englische Oberhaus, eben jetzt das demokratischste Wahlrecht irgendeines Großstaats glatt angenommen hat? Und glaubt jemand, es bestehe kein Zusammenhang zwischen der Selbstverständlichkeit dieses Vorgangs und der Haltung der englischen Arbeiterschaft? Und damit vergleiche man nun den Zustand, daß in einem Augenblick äußerster Angespanntheit, wo alles auf des Messers Schneide steht, die preußische Wahlrechtskommission sich mit den Quisquilien dieser Herrenhausvorlage befaßt und bei dem Wust willkürlicher Anträge – dem Produkt des Versuchs, eine Ständevertretung herauszuklügeln in einer Zeit, in der es nun einmal keine »Stände« gibt – noch wochenlang befassen will? Statt daß sofort und vor allem die von den Massen mit leidenschaftlicher Ungeduld er wartete Entscheidung darüber herbeigeführt würde: ob das gegebene Versprechen wahrgemacht wird oder nicht?, und ob man, wie nach den bisherigen Verhandlungen zu erwarten, es auf die innerpolitischen und kriegspolitischen Konsequenzen einer negativen Antwort ankommen lassen will? Für den Fall einer solchen weiß jedermann im Lande, daß es keine Macht gibt, welche dann die Massen der Arbeiterschaft halten könnte, selbst wenn sie wollte. Der Eintritt des[294] Konflikts würde nun gewiß nicht, wie manche Angstmeier glauben, »russische Zustände« heraufführen. Schlechthin alle Vorbedingungen dafür fehlen, und das Standgericht funktioniert in Deutschland präzis. Auch nicht, wie das Ausland offenbar hofft, einen Zusammenbruch des deutschen Heeres. Aber einen deutschen Sieg zu verhindern, wäre er allerdings genügend. Und nebenher würde noch etwas anderes verscherzt: die ganze politische Zukunft Deutschlands. Die Zustände, welche nach dem Frieden einträten, würden unsere Politik für Jahrzehnte lahmlegen. Das mag den Wahlrechtsinteressenten des Landtags gleichgültig sein. Einem nationalen Politiker aber nicht. Da es ausgeschlossen erscheint, daß das Privilegienparlament aufrichtig auf die »Forderung des Tages« eingeht, muß erneut verlangt werden, daß das Reich sie in der Art des seinerzeit hier vorgeschlagenen Wahlrechtsnot gesetzes löst. Jede Verzögerung verschärft Umfang und Konsequenzen des Konflikts. Das wissen die Wahlrechtsinteressenten zweifellos auch ihrerseits. Und die trotzdem betriebene Verschleppung beruht, wie jedermann weiß, auf der Spekulation auf einen Umschwung innerhalb der Regierungspolitik. Auf der Befürchtung, daß ein solcher eintreten könnte, beruht aber auch das Ausbrechen des Ausstandes. Und zu dem Mißtrauen, welches im Laufe dieses Monats scheinbar unvermittelt gegen unsere innere und äußere Politik bei uns, und nicht nur bei uns, wieder ins Kraut geschossen ist, haben eine Anzahl Umstände beigetragen, denen man ruhig und sachlich ins Auge sehen muß. Von ihnen soll in weiteren Ausführungen die Rede sein.
Die schwere Verantwortung, welche auf der Berliner Streikleitung ruht, ist in der Presse mit Recht nachdrücklich betont worden. Wenn sie offenbar die Erwartung gehegt hat: daß, ihrer Aufforderung entsprechend, das Vorgehen in den Hauptstädten der Ententestaaten Nachahmung finden und dieser gleichzeitige Druck den Beginn von Friedensverhandlungen erzwingen werde, so ist das Experiment negativ ausgefallen. Unter diesen Verhältnissen wäre die Fortsetzung des Ausstandes auch von diesem Standpunkt aus durch nichts zu rechtfertigen.[295]
Dies vorausgeschickt, scheint es aber an der Zeit, auch nach der anderen Seite festzustellen, welche Verhältnisse unseres Staatslebens an den beklagenswerten Ereignissen die Schuld tragen.
1. Von einem im Krieg befindlichen Staatsorganismus, zumal einem monarchischen, erwartet man vor allem eins: amtliche Disziplin. Sie hat gefehlt. Denn für jene unerhörten Ausschreitungen der Berliner Presse geht es nicht an, nur deren eigene »Disziplinlosigkeit« verantwortlich zu machen. Das Beispiel dazu wurde von ganz anderen Stellen gegeben.
Gegensätze der Ansichten und ein Ringen um die einzunehmende Haltung hat es auch zwischen BISMARCK und MOLTKE gegeben. Sie liegen in solchen Fällen eben in der Sache. Das Unerhörte war, daß diese Auseinandersetzungen unter den Ressorts diesmal in der Form einer Pressedemagogie gegen die leitenden Staatsmänner in die Öffentlichkeit getragen wurden. Dies Unerhörte aber ist für Deutschland nachgerade typisch geworden. Die Verantwortung dafür geht leider auf den Großadmiral von TIRPITZ zurück. Es ist bekannt, daß das Verhalten einer ihm unterstellten Instanz, welches er wohl nicht veranlaßt, aber eben geduldet hatte, seinerzeit rückhaltlos preis gegeben werden mußte. Viel zu spät hat damals die Zensur der demagogischen Ausbeutung einer der schwierigsten rein militärischen Fragen ein Ende gemacht. Welche Instanz hat diesmal das gleiche Schauspiel verschuldet? Ist gegen diese unerhörte, an Landesverrat grenzende Indiskretion und Disziplinlosigkeit militärischerseits das Erforderliche geschehen? Die internationale und innerpolitische Lage gestattet uns derartige Fehler nicht. Denn über die Rückwirkungen bei uns und anderswo kann niemand im Zweifel sein.
2. Von einem im Krieg befindlichen Staatsorganismus verlangt man: einheitliche Haltung, zum mindesten: vor dem Feinde. Sie hat gefehlt. Was General HOFFMANN bei den Verhandlungen sagte, traf inhaltlich durchweg zu und widersprach inhaltlich auch nicht den Ausführungen, welche namens der politischen Leitung gemacht worden waren. Aber kein Unbefangener kann ernstlich leugnen, daß in dem entscheidenden Punkt für eine Erörterung: im Ton, das genaue Gegenteil von dem getan wurde, was der Vertreter der Außenpolitik getan hatte. Daß angesichts der unwahrhaftigen Phrasen der Gegner dem als Persönlichkeit sympathischen General die Geduld riß, ist ihm menschlich gewiß nicht zu verdenken. Politisch aber war die Lage die: daß der selbstverständliche Zweck des Feindes, uns zur[296] Schwächung unserer Position zunächst vor der Welt, vor allem aber: vor der Bevölkerung verbündeter Staaten formal ins Unrecht zu setzen, vollständig gelang und ihm also in die Karten gespielt worden war. Der höhnische Triumph in der Prawda (Nr. 229 von 17. 1.), die Ereignisse in Wien und die dortigen Erörterungen müssen jeden darüber belehrt haben: daß hier ein Fehler gemacht worden ist. Fehler passieren überall. Aber für jeden, der sie kannte, war der Kommentar der rechtsstehenden Presse vorauszusehen: endlich sei »der richtige Ton gegen Sozialdemokraten« wiedergefunden worden. Dies erst hat den vom Feinde beabsichtigten Erfolg auch in den Köpfen der Berliner Arbeiter angerichtet. Das Resultat des uneinheitlichen Vorgehens aber war: eine Schwächung unserer Stellung.
3. Der Eindruck, den die schmachvolle, gegen unabhängige Politiker, Presse und Körperschaften ehrabschneiderische Agitation der (in ihrer Vergangenheit teilweise recht anfechtbaren) Journalisten der sogenannten »Vaterlandspartei« auf die Arbeiterschaft gemacht hat, läßt sich leicht ermessen. Jeder Arbeiter weiß ja, weit besser als die zahlreichen persönlich vortrefflichen, aber politisch absolut arglosen Mitläufer, in wessen Interesse hier gearbeitet wird. Die vernichtende Wirkung des Eindrucks davon, daß diese für einflußreich geltenden Kreise der Geldmacht ins Garn gingen, stellt sich der Außenstehende meist nicht groß genug vor. Wo immer diese Agitation auftrat, hat sie – wie schon die Hergänge in den Versammlungen bewiesen – dem wildesten Protest der Massen den Boden bereitet, und man darf es als erfreulich bezeichnen, daß trotzdem die überwiegende Mehrzahl auch der sozialdemokratischen Arbeiter nicht alle Besonnenheit verloren hat. Das Gefährliche aber war, daß der Eindruck entstand: politisch maßgebende Stellen ließen sich von diesem Treiben imponieren. Der Eindruck aber war erklärlich.
Als einziges greifbares »Resultat« der letzten »Krise« erschien der Rücktritt des Chefs des Zivilkabinetts. Ob und welche Art von Politik er eigentlich seinerseits begünstigt hat, weiß der Außenstehende nicht, und alle darüber umlaufenden Behauptungen scheinen zweifelhaft. Das Entscheidende waren die Hoffnungen, welche sich an seinen Rücktritt knüpften. Über diese aber belehrte der Kommentar der rechtsstehenden Berliner Presse: es sei nun wieder der »Zutritt zum Monarchen« frei, dem er immer im Wege gestanden oder – wie privatim gesagt wurde – den er durch seine Assistenz immer »gestört« habe. Freier Zutritt für welche Kreise? Nicht die Arbeiterschaft und[297] auch nicht nationale unabhängige Politiker haben das Ohr der deutschen Fürsten. Die »Kreuzzeitung« war kürzlich frivol genug, die Erinnerung an die glücklicherweise vergessene Zuchthausvorlage wieder heraufzubeschwören. Jedermann, vor allem jeder Arbeiter mit Ehrgefühl, weiß sehr gut, welche Kreise es gewesen sind, welche damals eine in einem Augenblick des Unmuts getane private Äußerung des Monarchen in die Öffentlichkeit zerrten und dadurch eine Kluft schufen, deren Überwindung erst der 4. August 1914 gebracht hatte. Es ist klar, welche Rückwirkungen solche Reminiszenzen und Erwartungen dieser Kreise auf die Stimmung der Arbeiterschaft haben müssen.
Wer vor drei Wochen die Gelähmtheit der Regierungsstellen, das irrsinnige Treiben jener Presse und das Verhalten der Zensur dazu beobachtete, fühlte den Argwohn der Massen aufsteigen, dessen Kind der Streik gewesen ist. Es sind alles in allem auf seiten des Regierungsapparats auch schwere Mängel vorhanden und dadurch Fehler passiert, nicht nur auf seiten der Sozialdemokratie. Über diese Fehler sollte man beiderseits zur Tagesordnung übergehen. Es kann heute jedermann sehen, wo im Kriege die Stärke demokratischer Staaten liegt. Ein englischer Minister verkehrt in solchen Fällen mit der Arbeiterschaft wie einer ihresgleichen, und es zeigt sich immer wieder, daß dieses unserer Bürokratie so fremde System dazu führt, das Vertrauen und den Siegeswillen der Arbeiterschaft dem Staate und den Interessen der Nation zu erhalten. An formalistischen Bedenken darf eine Einigung keinesfall scheitern. Man verbreitere den Kreis der zu den Erörterungen Zuzuziehenden soweit wie irgend möglich und ziehe vor allem auch die nicht am Streik beteiligte Arbeiterschaft heran. Mit dem formalistischen Festhalten des Grundsatzes: mit streikenden Arbeitern nicht reden zu wollen, kommt man nicht weiter und arbeitet dem Feinde in die Hände. Es haben nun einmal Gründe vorgelegen, welche den Argwohn der Arbeiterschaft erregen konnten. Dieser Argwohn aber ist das Entscheidende. Er muß um des Vaterlandes willen auch dann beseitigt werden, wenn das Verhalten der Arbeiterschaft zu Tadel Anlaß gibt. Die Zeiten sind nicht dazu geeignet, über Formfragen der überlieferten »Ordnung« die Interessen der Nation, in deren Dienst auch die »Ordnung« zu stehen hat, zu Schaden kommen zu lassen.
Der jetzige Streik war zweifellos ein unangenehmer Zwischenfall für die Interessen des Krieges wie des Friedens. Dennoch ist es – mir wenigstens – vollständig unmöglich, sich darüber zu entrüsten, wie es vielfach geschieht. Denn er war ganz und gar die Frucht dessen, was andere gesät hatten. Und es ist leider Tatsache: daß die sozialdemokratische Partei keine andere Wahl hatte, als (in der Hauptsache) ähnlich zu handeln, wie sie tat. Daß dabei ihre »Regie« nicht wesentlich besser war als die unserer ganzen Politik seit Jahren auch, ist eine Sache für sich. Aber dem, was die Partei wollte, wird man trotz mancher Fehler künftig gerechter werden als jetzt in der Hitze des Augenblicks. Nicht einmal, nein hundertmal war von Sozialdemokraten gesagt worden: »Geht diese Hetze so weiter, so sind die Leute nicht zu halten.« Öffentlich es zu tun, war unmöglich: das wäre als »Drohung« denunziert worden. Aber der Streik war ganz selbstverständlich angesichts dessen, was man in Berlin Mitte Januar erlebte und was tatsächlich jeden, der einen rein sachlichen Betrieb der Politik verlangt, zum Rasen bringen konnte: wildeste Demagogie ohne Demokratie, vielmehr wegen fehlender Demokratie. Man muß dort gewesen sein, um das zu verstehen: man glaubte, im Irrenhaus zu sein – oder: in Athen nach der Arginusenschlacht.
Alles Gerede, daß die »Ausländer« beim Ausbruch beteiligt gewesen seien (in Einzelfällen denkbar, aber sicher absolut nebensächlich), daß die »disziplinlose Jugend« Träger sei (in gewissem Umfang in Berlin richtig), geht völlig in die Luft. Denn niemals hätten solche Einflüsse Macht gewinnen können ohne eine ganz bestimmte Atmosphäre. Das Spezifische dieser aber war keineswegs geschaffen durch die Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung. Es ist gewiß wahr, daß das Verhalten eines Teils der Landbevölkerung und die dadurch bedingten, jedem auffallenden Ungleichheiten der Lebensbedingungen im Land verbittern mußten, und die Art, wie General GROENER, der trotz seiner Derbheit das Vertrauen in seine Sachlichkeit genoß, »abgesägt« worden war, hatte Mißtrauen hinterlassen. Aber draußen im Lande ist ja im ganzen die Versorgung eher besser als im früheren Winter. Nein, die Atmosphäre für den Streik war geschaffen worden: 1. durch die demagogische Art der Behandlung der[299] deutschen auswärtigen Politik, durch eine von allen guten Geistern verlassene und rein persönlich motivierte Agitation, 2. durch die Art, wie mit dem Kapital von Vertrauen, welches die führende Persönlichkeit des Landes, in erster Linie die Heeresleitung, genoß, von einer skrupellosen Parteihetze gewirtschaftet worden war.
Sachliche Kriegsziele durch sachliche Aussprache den Arbeitern verständlich zu machen, ist keineswegs schwer. So arbeitet der Feind, und mit Erfolg. Jeder englische Minister sucht Gelegenheit zu Aussprachen, und zwar – da liegt der Unterschied! – am meisten dann, wenn die Arbeiterschaft, sei es aus objektiv noch so unzutreffenden Gründen, mißtrauisch wird oder mit Streik droht. Daß es der englischen Regierung gelungen ist, trotz schwerer materieller Notlage ihre Arbeiterschaft bisher sogar für fremde, und zwar annexionistische Kriegsziele (Elsaß) kriegswillig zu erhalten, spricht denn doch Fraktur für diese »demokratische« Methode. Es ist die Frucht des Vertrauens, kraft dessen der in diesem Sinn »demokratische« Staat – mag man es nun bei uns noch so ungern hören! – in den außenpolitisch entscheidenden Punkten sich als der »stärkere« erweist. Vor allem: auch als der stärkere an Nerven. Gewaltsamkeiten werden natürlich auch dort rücksichtslos standrechtlich unterdrückt, gleichzeitig aber werden unbekümmert darum die sachlichen Verhandlungen weitergeführt und vor allem: es wird nicht um Haaresbreite von einer staatsnotwendigen Reformpolitik abgewichen.
Natürlich kann man nun mit der Art, in welcher man bei uns im Sinne des Amtsprestiges zu verfahren gewohnt ist, einmal, auch einige Male, so wie voraussichtlich jetzt, äußerlich durchkommen und äußerlichen Erfolg erzielen. Gesetzt aber, der Krieg dauert noch lange Zeit – und das ist bei der Haltung der Feinde möglich, und vor allem: es muß, wenn es nötig ist, unbedingt möglich sein –, dann kommt der Moment, wo dies Verfahren aus Gründen, die jedem klar sind, selbst solchen reinen Reflex-Ausständen wie dem jetzigen gegenüber versagen wird. Vollends dann versagen wird, wenn man durch die Art der inneren Politik die legitimen Vertreter der Arbeiterschaft dazu treiben sollte, ihrerseits den Kampf in die Hand zu nehmen.
Und nun weiter: Solche Aufrufe, wie die der Kommandierenden Generäle, z.B. von Karlsruhe, auch von Münster und anderwärts, an die Arbeiterschaft, kann jedermann nur unterschreiben. Denn die soldatische Gradheit des Tons wirkt sofort menschlich echt, ganz im Gegensatz zu der Unechtheit der üblichen sogenannten »Schneidigkeit«,[300] die nur als eitle Prestigesucht wirkt. Aber man täusche sich doch nicht: die Wirkung auch solcher ausgezeichneten Worte ist seit dem Auftreten der sogenannten »Vaterlandspartei« auf das schwerste geschädigt. Man stelle sich doch einfach vor: welche ungeheure Wucht würde in solchen Tagen jedes Wort des Mannes, der das größte Kapital von Vertrauen in der Nation besitzt, HINDENBURG, hinter sich gehabt haben, wenn die elende Telegramm-Mache dieser Leute nicht ihr Parteisüppchen an seinem strahlenden Ruhm zu kochen versucht und dadurch ihn zu einer Parteigröße zu stempeln gewußt hätte. Dazu kommen nun gewisse typische psychologische Irrtümer der Militärs. Die Psychologie des militärischen Befehls ist nun einmal eine andere als die Psychologie der politischen Beeinflussung. Der Versuch jener politischen »Aufklärungsarbeit« im Heer ist alsbald, durchaus gegen den Willen der Offiziere, aber ganz unvermeidlich, parteipolitisch mißdeutet worden und hat daher schwer geschadet, wie heute nicht mehr zu verkennen ist. Es waren nicht die schlechtesten Freunde des Heeres, die in schwerer Sorge vor jeder Form seiner Politisierung gewarnt haben. Die Gradheit des Offiziers läuft allzu leicht den Interessenten ins Garn, wenn sie sich »national« aufspielen. Aber es darf nicht vergessen werden: so beschränkt ist die Arbeiterschaft nun einmal nicht, daß sie bei politischen Äußerungen eines Offiziers sich nicht sagte: »Es sind nicht Leute aus unserer Mitte.« Das billige patriotische Moralisieren vollends über den Streik nutzt schlechterdings gar nichts. Denn es ist nicht der Weg, der Arbeiterschaft das Vertrauen zu erhalten: daß es auch ihr Staat ist, auch ihre Zukunft, für die sie ertragen muß, was die Notwendigkeit ihr auferlegt.
Schlechterdings unmöglich aber war das, nachdem die Vorgänge im Januar mit Händen greifen ließen: daß leider ein Teil der einflußreichsten Kreise der Nation die äußere Politik und die Frage nach Krieg und Frieden ausschließlich und allein teils nach rein personalen, teils nach partei- und interessenpolitischen Gesichtspunkten der inneren Politik behandelte. Das aber war ohne weiteres erkennbar. Es trat schon in den schreienden Widersprüchen der »Begründung« jener beispiellosen, gegen den Reichskanzler und andere Staatsmänner gerichteten Hetze innerhalb der gleichen politischen Richtungen und Blätter zutage. Man stelle sich vor: einerseits war, nach der »nationalen« Presse, unseren künftigen Freunden, den Russen, zu viel abverlangt worden (»Kreuzzeitung«). Andererseits war die[301] Errichtung neutraler Zwischenstaaten auf den Okkupationsgebieten nicht genügend (»Kreuzzeitung«). Einerseits war die Gelegenheit sofortigen Friedens »verpaßt«, andererseits war nicht genug Schneid entwickelt worden. Teils sollten die Balten zu Deutschland kommen, teils sollten rein militärische Rücksichten maßgebend sein: das bedeutete, daß jetzt, fünf Vierteljahre nach dem November-Manifest, das seit zwei Jahren versunkene sogenannte »Schwartenprojekt« (neue Teilung Polens) neu ausgegraben wurde. Oder es spukte (in der »Vossischen Zeitung«) wieder die unsterbliche Seifenblase eines künftigen »Kontinentalbundes« (offenbar: der Vierbundmächte mit Rußland, und ich weiß nicht wem noch) gegen die Angelsachsen: eine Idee, über welche, ohne Unterschied der Partei, jeder Russe nicht nur, sondern ebenso jeder Österreicher, Ungar, Bulgare, Türke doch einfach hell auflacht! (Was in aller Welt sollte diese kreditbedürftigen Nationen eigentlich an einem solchen Bunde reizen?) Usw.
Wer über Außenpolitik redet, hat die Pflicht der sittlichen Selbstzucht und des Augenmaßes. Welches ist unser Interesse gegen Osten? Da der innerdeutsche Osten um ein Viertel dünner besiedelt ist als Polen, da wir bei uns selbst noch Rekrutierungsmaterial für zehn Armeekorps in Bauernstellen unterbringen könnten, da wir vor dem Krieg jährlich eine Million Fremder als Arbeitskräfte im Lande brauchten, – so ist der Plan: deutschen Nachwuchs als einen Bevölkerungsklecks am Rigaischen Meerbusen zu vergeuden, nun hoffentlich erledigt. Und was die Balten anlangt, so sind sie zwar eine prachtvolle Spielart des Deutschtums, haben aber (bis ihnen das Wasser an den Mund ging) früher nie die geringste Neigung bekundet, reichsdeutsche Bürger zu werden, und werden vor allem nicht erwarten, daß wir für die Zukunft die Pflicht von Blutopfern auf uns nehmen, welche ihre Zahl um das Zwanzigfache übertreffen, um ihnen jetzt dazu zu verhelfen. Denn eine unweigerlich früher oder später wiederkehrende nationale, und das heißt: bürgerliche russische Politik wird stets, mit allen Mitteln, als Mindestforderung geltend machen müssen: daß Riga jedenfalls in ein ähnliches Verhältnis zu Rußland tritt, wie das ist, in welchem Luxemburg sich zu Deutschland befindet (dessen innere Verhältnisse ja vollkommen autonom geregelt sind). Auch rein gefühlspolitisch ist aber den Deutschbalten das ihrige gegeben, wenn sie die »Selbstbestimmung« im Sinn der ausschließlich eigenen Verfügung 1. über ihren Besitz, auch zu Ansiedlungszwecken, 2. ihre Steuerkraft (zu Schul- und Kulturzwecken[302] aller Art) und 3. ihre Rekrutierungskräfte (für Milizzwecke) in eigener Hand, also nach dem Personalitätsprinzip, innerhalb des künftigen, wie immer gearteten politischen Verbandes, dem Kurland angehört, besitzen. Realpolitisch aber ist Deutschland im Nordosten nur daran interessiert: daß die Grenzvölker in Zukunft keinesfalls gegen uns die Waffen führen und daß die litauische Njemenlinie nicht zur Deckung einer Offensive gegen Ostpreußen verwendet wird. Das ist also der Sache nach: eine Neutralisierungspolitik gleichviel welcher Form, welche ersichtlich sowohl dem pazifistischen wie dem Selbstbestimmungsinteresse gerecht wird. Zeigt sich, daß demgegenüber innerhalb des Bolschewismus der Löhnungs- und Kontributionsmilitarismus über die auch vorhandenen friedlichen Elemente die Oberhand hat, dann wäre vielleicht der Waffenstillstand vom Übel. Und daß wir, solange die Räumung der besetzten Gebiete entweder englischen Operationen oder einer wiedererstehenden Regierung MILJUKOWS zugute kommen könnte – also: bis zum Ende des Krieges –, aus zwingenden Sicherheitsgründen nicht einfach ganz dort fortgehen können, muß in Deutschland und Rußland jeder einsehen. (Im übrigen sollte alsbald mit Stammrollen für örtliche Milizen und mit der Verbreiterung der Grundlagen der Vertretungskörper vorgegangen wer den!)
Und im Westen? Der hier stets vertretene Standpunkt möge ohne alle Rücksicht auf das Geschwätz der Sykophanten wiederholt werden. Die zuverlässig bundestreuen Politiker bei unseren Bundesgenossen (z.B. Graf ANDRASSY) haben völlig recht: die Lösung liegt nur in einer sachlichen aufrichtigen Verständigung zwischen Deutschland und England. Gelänge sie in einer Art, welche uns keinen Zweifel an Aufrichtigkeit ließe, dann wäre die sogenannte belgische »Frage« ebenso gelöst, wie sie es vor Eintritt der Spannung war. Es scheint fast, daß es wünschenswert wäre, daß die Verständigung mit der konservativen Partei in England sich vollzöge. Aber freilich: zur Verständigung gehören zwei. Und vom Standpunkt sachlicher Politik ist vorerst mit Bedauern festzustellen: daß anscheinend auch Lord LANSDOWNE geglaubt hat, der Straßenpolitik gewisse Konzessionen machen zu müssen. Wenn englische Politiker vom Elsaß und »reparations« reden, so sorgen sie nur dafür, sich die deutsche Demokratie für alle Zeit zum Todfeind zu machen. Mögen sie das mit sich ausmachen. Mißverstehe man aber in England nicht den sachlichen Grund, aus welchem wir die Verständigung für nützlich halten. Es sei deutlich gesagt: Wir wünschen die Verständigung, weil, wenn[303] jetzt noch ungeheure Blutopfer gebracht werden und wenn weitergekämpft wird, bis Frankreich erschöpft ist und Englands Handelsflotte zum größeren Teil auf dem Meeresboden ruht, 1. wir alle beide als aktionsfähige Großmächte zugunsten anderer lahmgelegt werden und weil – 2. dann, selbst wenn wir wollten, wir nicht hindern könnten, daß die Stimmung in Deutschland Bedingungen forderte, welche Europa für Generationen auf die Spitze der Bajonette setzen und eine rein sachliche Politik unmöglich machen würden.
Unsere sachliche politische Lage wäre sachlich auch der deutschen Arbeiterschaft nicht schwer ins Bewußtsein zu hämmern. Nur müßte eben künftig die Behandlung solcher Bewegungen dem angepaßt werden. Gerechterweise muß andererseits von vornherein, auch von der Sozialdemokratie, anerkannt werden: Die Regierung hatte für ihr formell »bürokratisches« und »obrigkeitsstaatliches« Verhalten gewiß nicht zu unterschätzende Gründe. Es konnte etwas für sich haben, nicht nur dem Inland, sondern vor allem dem Ausland den Beweis zu erbringen, daß diese Art von Streiks, die nicht von den legitimen Organen der Arbeiter ausgehen, bei uns das Staatsgefüge nicht zu erschüttern vermag. Gut: das wird gelingen. Aber darüber dürfen die schweren Fehler, welche diese Streiks überhaupt und gerade jetzt herbeiführen, nicht übersehen werden. Und es kommt nun alles darauf an: ob es gelingt, den schweren Argwohn, welchen gewisse Vorgänge der letzten Wochen, und zwar sehr begreiflicherweise, erregt haben, und zu dessen Beschwichtigung natürlich die bloße Erklärung des Staatssekretärs des Innern: die Versprechungen würden erfüllt werden, nicht genügt, wieder zu beseitigen. Und dazu muß auch von den starken Seiten des Feindes gelernt werden. Dieser Argwohn aber gründet sich auf den Eindruck: daß maßgebende Kreise und Stellen bei uns dies elende Boulevardtreiben, wenn nicht begünstigen, dann – was schlimmer ist – fürchten, jedenfalls aber beachten. Es war denn doch ein Unfug, wenn politische Phantasten als Vertreter »unabhängiger Ausschüsse«, nur weil sie Professoren sind, sogar von deutschen Bundesfürsten empfangen wurden, obwohl sie die Reichsregierung in der skandalösesten Weise mit Schmutz be-worfen hatten, und wenn andererseits Vertreter einer streikenden Arbeiterschaft von einem Minister nicht einmal angehört wurden. Der Zustand, daß Ressorterörterungen durch Pressedemagogie aus-gefochten und dadurch die Massen in Siedehitze versetzt werden, muß aber ganz unbedingt an der Wurzel abgeschnitten und es muß[304] endlich das richtige Wort für diese das Vaterland verderbenden Treibereien gefunden werden. Das ist bisher öffentlich nicht geschehen. Bisher besteht vielmehr bei der Arbeiterschaft, wie im Reichstag gesagt wurde, noch immer der Eindruck, daß die Zensur bei einem Kampf dieser einflußreichen Kreise, hinter denen die Geldmacht steht, mit der sie selbst ihre Kämpfe auszufechten haben, gegen die Reichsregierung arbeiten dürfe. Dieser Eindruck, der angesichts der unbehinderten Hetze in Berlin entstehen mußte, war es, der vor allen Dingen dazu geholfen hat, in Berlin die Vorbedingungen des Streiks zu schaffen. Wer eine mit den spezifischen Mitteln der Arbeiterschaft geübte Straßendemagogie verhüten will, muß auch die mit den spezifischen Mitteln der Geldmacht geübte Boulevard-Demagogie unterdrücken. Vor allem aber muß er darum besorgt sein, daß die einzigen Elemente der Massendisziplin: die Gewerkschaften, in der Lage sind, mit innerlicher Ehrlichkeit dafür sorgen zu können, daß das Vertrauen der Arbeiterschaft in die Aufrichtigkeit unserer inneren und äußeren Politik nicht durch eine gewissenlose Preßhetze derart untergraben wird, wie es Mitte Januar geschah.[305]
1 Frankfurter Zeitung vom 3. Februar 1918.
2 Frankfurter Zeitung vom 5. Februar 1918.
3 Frankfurter Zeitung vom 7. Februar 1918.
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