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Um das Verhalten der russischen Regierung zu verstehen, ist die Berücksichtigung des Umstandes, daß Rußland Schuldnerstaat ist, durchaus unumgänglich. Daß »die Juden« die russische Verfassung erzwungen, erschlichen oder doch mitfabriziert hätten, wie die Reaktionäre behaupten, ist ganz richtig, nur sind es natürlich nicht die furchtbar geschändeten Bewohner der russischen Ghettos, sondern ihre zum Teil geadelten Stammesvettern aus der Haute Finance in Berlin und Paris, denen die Kontrolle der Kurse russischer Staatspapiere anvertraut ist. Dies konnte man sehr deutlich auch in jener Periode heftigster Reaktion bemerken, die dem Siege in Moskau und der sich daran anschließenden Niederwerfung der Aufstände in den Ostseeprovinzen und in den inneren Gouvernements parallel ging und folgte. Das Manifest vom 17. (30.) Oktober 1905 hatte Beruhigung verbreiten sollen. Es gelang nicht. Die Kurse sanken also wieder. Die blutige Tragi-Komödie in Moskau führte dagegen zu steigenden Tendenzen: die Besitzer russischer Papiere wünschten also »Ordnung« und Graf WITTE ließ zweideutige Worte von der Möglichkeit einer »Rücknahme« der kaiserlichen Versprechungen fallen. Dieser ballon d'essay fand aber seinerseits auch keine freundliche Aufnahme. »Nowoje Wremja« ließ Anfang und Mitte Januar sich tagelang[69] hintereinander aus London telegraphieren, die Bankkreise hielten Rußlands Kreditwürdigkeit nur im Falle der Durchführung der »konstitutionellen« Regierungsform für gesichert. Ähnlich wird es ja wohl auch gestanden haben. Folglich war, nach außen hin, Vorsicht geboten, und das bekamen nun die Reaktionäre zu fühlen. Am 23. Dezember (a.St.) hatte der Zar – es war das zweite Mal – eine Deputation der »russischen Leute« empfangen. Leidenschaftliche Reden gegen die Zerreißung von Zar und Volk, den Umsturz der Jahrhunderte alten Ordnung, die Vernichtung der unbeschränkten Gewalt brachten, so scheint es, schließlich auch sein dünnes Blut in Wallung: in etwas phantastischen Wendungen redete er davon, daß »bald, bald die Wahrheit wieder ihr Licht über der russischen Erde leuchten lassen werde« und dgl. Begeistert und entzückt setzte die Deputation dies im Januar in die Zeitungen zum Trost aller echt russischen Herzen, – und alsbald erfolgte die offiziöse Ankündigung, daß sie in Anklagezustand versetzt sei wegen unerlaubter Anfertigung eines Hofberichtes. Der Hinweis WITTES auf das Deplacierte solcher Romantik angesichts des leeren Beutels hatte offenbar genügt, das etwas zu früh den Kopf erhebende Gottesgnadentum wieder kollabieren zu lassen und fortan in einer der Lage entsprechenden Oboe dienz gegenüber der unpersönlichen, aber um so unentrinnbareren Macht des Geldmarktes zu erhalten. Dies zeigte sich in mannigfacher Art: daß an den Judenkrawallen im Spätherbst und Winter Polizeifunktionäre beteiligt gewesen seien, wurde offiziös bestritten, aber man sah sich doch genötigt, als die neue große Anleihe dicht vor Ostern zur Auflage gelangen sollte, durch eine in der Tat unzweideutige, geradezu drakonische Verfügung die Provinzialbeamten für ihr etwaiges Entstehen persönlich haftbar zu machen. Die Folge war, daß sie in der Tat absolut unterblieben. Schriftsteller, die, wie GORKIJ, im Auslande bekannt sind und deren allzu harte Behandlung dort »verstimmen« konnte, hatten sich, trotz stärkster »Kompromittierung« eines immerhin wesentlich anderen Schicksals zu erfreuen als solche, bei denen das nicht der Fall war.
So sah sich die Regierung, angesichts der Finanzlage, in der inneren Politik überhaupt zur Anlegung eines »doppelten Kontos« genötigt. Daß es von seiten des Zaren persönlich mit einer Umwandlung Rußlands in einen »Rechtsstaat« mit – wie es im Oktobermanifest etwas naiv hieß – »wirklicher« Garantie der Persönlichkeitsrechte zu keiner Zeit aufrichtig gemeint war, versteht sich von selbst[70] und trat bei jeder Gelegenheit hervor, die dazu irgend Anlaß gab; für ihn gab es nur Polizeinteressen. Das stimmte vortrefflich mit den Machtinteressen der Polizeibürokratie alten Stils zusammen, und durch schonungslose Repression konnte ja wohl auch »nach außen« auf die Börsen, der Eindruck einer »starken« Staatsgewalt hervorgebracht werden. Auf der anderen Seite aber zeigten wiederholte erfolglose Sendungen von Finanzbeamten ins Ausland, daß trotz allem die Bankiers schlechthin darauf bestehen zu müssen glaubten, daß die Duma wirklich gewählt und einberufen werde, ehe an die Emission einer Anleihe großen Stils gedacht werden könne. Also mußte die »Verfassung« unter formeller Wahrung der Versprechungen vom 17. Oktober, so weit ausgeführt werden, daß für das ausländische Publikum, mit dessen Eindrücken die Bankiers rechneten, wenigstens der äußere Anschein »konstitutioneller« Garantien vorhanden war. Es mußte daher der Versuch gemacht werden, die inländische »Bourgeoisie« mit den Interessen der Regierung zu versöhnen, womöglich Parteien zu finden, welche in der Duma ihr zur Verfügung ständen, und ihnen bei den Wahlen zum Siege zu verhelfen. Dabei ergaben sich nun aber Komplikationen dadurch, daß einmal innerhalb der Bürokratie selbst, bis in den Reichsrat und in das Ministerium hinein, und ebenso innerhalb des Heeres, vorwiegend in den unteren, aber auch in den oberen Chargen überzeugte Anhänger einer entschieden liberalen Umgestaltung des Staatswesens saßen, andererseits die Zeiten des demagogischen PLEHWEschen Regimes die tiefste Verstimmung und ein schwer zu überwindendes Mißtrauen der »bürgerlichen« Kreise erregt hatten. Man konnte schließlich nur hoffen – und dies war der Standpunkt WITTES –, daß der rote Schrecken der Generalstreiks, Revolten und Bauernkriege über alle diese Reminiszenzen siegen werde.
Innerhalb der Bürokratie und des Heeres aber mußte sich, wenigstens in den leitenden Stellungen, langsam aber systematisch, die Spreu vom Weizen sondern, nachdem die Haltung des Zaren feststand. Der demokratische Landwirtschaftsminister KUTLER und der mittelparteiliche Handelsminister TIMIRJASJEW schieden nacheinander aus. Im Ministerium war seit dem Dezemberaufstand der Minister des Innern, DURNOWO, der Vertrauensmann des Zaren, die leitende Persönlichkeit. Schon die fieberhafte Tätigkeit seines Ministeriums stach im Januar und Anfang Februar von den Zuständen der anderen Ressorts sichtbar ab. Die Repressionspolitik[71] leitete er persönlich, indessen war dies Geschäft dadurch sehr erleichtert, daß die meisten Gouverneure sie als Sport auf eigene Faust betrieben in dem richtigen Bewußtsein, dem Zaren um so sicherer zu gefallen, je mehr sie sich darin auszeichnen würden. Für sie galt kein Gesetz; Beamte wie NEIDHARDT (Odessa) und KURLOV (Minsk), deren strafrechtliche Verfolgung der mit der Revision ihrer Tätigkeit beauftragte Senator KUSMINSKI für notwendig erklärt hatte, wurden vom I. Departement des Senats, auf Drängen des persönlich anwesenden Ministers des Innern, außer Verfolgung gesetzt, »da ihre Handlungen den Absichten der Regierung entsprochen hätten«. Selbst auf Abmahnungen oder Verbote der Minister, insbesondere WITTES, oder in einzelnen Fällen selbst DURNOWOS, reagierten die eifrigen Gouverneure nicht; in einem solchen Falle erklärte der Minister im Konseil entschuldigend: Der Gouverneur habe sich offenbar in der Ansicht befunden, er habe nur dem Ministerkonseil, nicht einem seiner einzelnen Mitglieder, Gehorsam zu leisten; in bezug auf die administrative Willkür zerfiel Rußland im Januar de facto in regionale Satrapien. Eine Preßnachricht – in den Einzelheiten nicht sicher beglaubigt – behauptet, daß in einer Konseilsitzung WITTE auf Einschränkung der Repressionspolitik und speziell der unkontrollierbaren Willkürherrschaft der Beamten gedrungen habe, DURNOWOS Erklärung darauf: dann sei es für ihn Zeit zu gehen, sei mit eisigem Schweigen aufgenommen worden. Einige Tage später aber führte eine Unterredung beider eine »Verständigung« herbei. Tatsächlich war es nur die erneute Unterwerfung WITTES: er erreichte, daß formell seine Stellung als Konseilpräsident durch Mitteilung der Ressortverfügungen an ihn anerkannt wurde; in der Sache blieben die Dinge so, daß er gelegentlich erklärte: DURNOWO sei allmächtig, wolle er ihn (WITTE) hängen lassen, so könne er das jeden Augenblick tun. Die – hier nicht näher zu erörternde – Änderung der Polizeiorganisation, die Purifikation der Post-, Telegraphen- und Eisenbahnangestellten2 – unter gleichzeitiger nicht unerheblicher Erhöhung der Bezüge – war die erste Maßregel der wieder erstarkenden Bürokratie.
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Während einerseits die Unterdrückung der Mord-, speziell auch der Bombenanschläge schlechterdings nicht gelang, übten aber diese andererseits auf die Praxis der Verwaltung keine ersichtliche, einschüchternde Wirkung mehr aus: es tobte einfach der chronische Bürgerkrieg in der furchtbarsten Form der Guerilla: Pardon wurde von beiden Seiten nicht gegeben, die Mitvernichtung Unschuldiger nicht beachtet. Jede Bombenexplosion tötete ganz Unbeteiligte mit, – auf einen Schuß oder eine Bombe antworteten die Truppen, wenn sie selbst betroffen oder zufällig in der Nähe waren, ganz regelmäßig mit einer Salve blind in das Gewühl der Passanten hinein. Erst nach den Wahlen, in der Osterzeit, als die Anleihezeichnung beginnen sollte, begann man, des guten Eindrucks wegen, dem schier unerträglichen Platzmangel der Gefängnisse durch zahlreichere Freilassungen von, teilweise 4-5 Monate ohne Zustellung irgendeiner Anklage im Gefängnis steckenden, »Politischen« etwas abzuhelfen. Gegenüber der unbeugsamen Energie der Gefangenen war inzwischen die Schroffheit der Gefängnisverwaltungen bereits wieder soweit erlahmt, daß sie vielfach mit Ausschüssen aus deren Mitte Kompromisse schlossen über das, was jenen erlaubt sein sollte.
Neben diesen mit barbarischer Wildheit, dennoch aber nicht wirklich erfolgreich gemachten Versuchen, der »Kramola« Herr zu werden, im Interesse der Selbsterhaltung sowohl wie in dem der Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit, lief nun das andere Konto: die Versuche, Institutionen zu schaffen, welche im Auslande den äußeren Eindruck einer Durchführung des Manifestes vom 17. Oktober erwecken mußten, ohne doch die Machtstellung der Bürokratie ernstlich zu gefährden. Das Manifest hatte versprochen: 1. die Gewährung der »effektiven« (djejstwitjelnaja) Unantastbarkeit der Person, der Freiheit des Gewissens, des Wortes, der Versammlungen und Vereine; 2. Ausdehnung des Wahlrechtes, wovon wir später zu sprechen haben; 3. Durchführung des Grundsatzes, daß kein Gesetz ohne Genehmigung der Duma in Kraft tritt, und einer »effektiven« Beteiligung der Duma »an der Beaufsichtigung der gesetzlichen Wirksamkeit« der Staatsgewalt.
[Bei Betrachtung der] Ausführung dieser Versprechungen durch das alte Regime zeigt sich immer wieder, daß dasjenige Maß an »Freiheiten«, welches bei Eröffnung der Duma rechtlich verwirklicht war,[73] mit ganz unerheblichen Ausnahmen bereits das Werk des Ancien Régime vor dem Ministerium WITTE war, entstanden in der Angst vor der aufgeregten öffentlichen Meinung, unter dem Eindruck des im Kriege verlorenen Prestiges und in der Hoffnung, irgendwie den Besitz auf die Seite der Bürokratie hinüberziehen zu können, ohne deren unumschränkter Macht für die Zukunft etwas zu vergeben. Nachdem die Errichtung der gesetzgebenden Gewalt im Oktobermanifest versprochen war, hat das Interimsministerium nichts neues in der von jenem versprochenen Richtung mehr getan, es hat mit allen denkbaren juristischen Manipulationen den formal konzedierten »jawotschnyj porjadok« für Presse, Vereine, Versammlungen, Religionszugehörigkeit der administrativen Willkür wieder unterstellt und vor allem zur Beseitigung des gänzlich arbiträren, an keinerlei Rechtsschranken gebundenen Schaltens über die Person des Staatsbürgers nichts getan. Man muß bedenken, was es eigentlich besagen will, wenn an dem gleichen Tage, an welchem der ganze ungeheure Zorn sich in der Duma bei Gelegenheit der Adreßdebatte entlädt und die Forderung der Amnestie der sogenannten politischen Verbrecher beraten wird, wo die Gefängnisverwaltungen nicht hindern können, daß Manifestationen und Begrüßungstelegramme der Inhaftierten an die Duma gelangen, jedes Dorf im weiten Reich auf das entscheidende Wort harrt, wenn an diesem Tage die trockene Nachricht sich in der Zeitung findet, daß aus dem Petersburger Gefängnis ein Transport von 240 Gefangenen, ohne Gericht und Urteil natürlich, zur administrativen Versendung »bereit stehe«. Die Maschinerie arbeitet weiter, als ob nichts passiert wäre. Und dennoch: es waren eben Dinge geschehen, die nicht rückgängig zu machen waren. Gerade die Unaufrichtigkeit, mit welcher die Freiheiten offiziell gegeben, mit der anderen Hand im Augenblick, da man sie gebrauchen will, illusorisch gemacht werden, muß ja die Quelle unablässig sich wiederholender Konflikte und grimmigen Hasses werden, unendlich aufreizender als das alte offene, niederdrückende Repressionssystem. Man kann mit einer Nation und politischen Freiheitsrechten nicht ein Hasch-Haschspiel veranstalten, indem man sie ihr wie einem Kinde einen Ball hinhält und, wenn sie darnach greift, sie hinter den Rücken verschwinden läßt. Und ähnlich verhält es sich mit jener »Konstitution«, die das Manifest vom 17. Oktober, sei es auch in noch so zweideutigen Worten, versprochen hatte. Bevor wir uns der Behandlung dieses Versprechens durch die Bürokratie zuwenden,[74] haben wir uns zu vergegenwärtigen, daß in jenen Oktobertagen der Führer des bürokratischen Rationalismus, WITTE, dem Zaren neben dem zweideutigen Verfassungsmanifest, welches für die Zukunft dunkle Versprechungen gab, noch eine alsbald in Kraft tretende Änderung der konkreten Maschinerie der sogenannten »Selbstherrschaft« abnötigte, welche deren innerstes Wesen endgültig wandelte.
Der eigenartige Charakter des russischen Staatswesens äußerte sich bis zum Oktober 1905 formal in den höchsten Sphären des Staatslebens in zwei äußerlich wahrnehmbaren »Lücken«: 1. dem Fehlen der ministeriellen Kontrasignatur bei kaiserlichen Erlassen und 2. in dem Fehlen eines »Ministerkabinetts« im westeuropäischen Sinn. Die kaiserlichen Erlasse, Ukase, Gesetze waren bis zu dem Grundgesetz vom 23. April 1906, welches die »Sskrjepljenije« verfügte, entweder nur vom Kaiser namentlich unterzeichnet, oder es fand sich an der Spitze die Notiz: »auf dem Original ist Höchsteigenhändig vermerkt: ›so sei es (bytt po ssjemu)‹«, oder endlich, es war dem meist eingehend begründeten, Erwägung und Verfügung nebeneinander enthaltenden Ministerialbericht oder Reichsratsgutachten am Schlusse die Bemerkung zugefügt, daß der Kaiser unter dem und dem Datum den Bericht Allerhöchst genehmigt habe. Die persönlichen Ukase und Manifeste und alle Gesetze pflegten einleitend allerhand schwülstige, angebliche Betrachtungen des Monarchen nach Art der preußischen aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts zum besten zu geben. Dies müßte nun eigentlich ein Ende nehmen. Allein dem ist nicht so. Der erste, nach dem Zusammentritt der Duma sanktionierte Erlaß – vom 8. Juni (Verlängerung des Belagerungszustandes in Moskau) – trug keine Kontrasignatur. Auf die Reklamationen der Presse erfolgte ein Kommuniqué im »Prawit. Wjestnik« (17. Juni), welches besagte, daß der Senat, der ja schon unter dem Ancien Régime die Authentizität der Erlasse vor der Publikation zu prüfen habe, auch die ordnungsmäßige »sskrjepljenije« – der Wortsinn schwankt zwischen »Bestätigung« und »Beglaubigung« – prüfe. Also eine Art Kontrasignatur mit Ausschluß der Öffentlichkeit, um jeden Anklang an »den Westen« zu vermeiden. Überdies ist für »Gesetze« nicht die »sskrjepljenije« des Ministeriums, sondern – da sie nach ihrer Annahme in den beiden Kammern direkt durch den Reichsratspräsidenten dem Zaren präsentiert werden – durch den »Staatssekretär« vorgeschrieben (Art. 65 der definitiven Reichsratsordnung vom 24. April 1906), auch hier also[75] die Intervention des »verantwortlichen« Ministers formell ausgeschaltet. Es handelt sich hier ganz offensichtlich um lauter Rückwärtsrevidierungen des Sinnes des gleich zu erwähnenden Ukas vom 21. Oktober 1905.
Allein trotz dieser kleinen Erschleichungen sind durch diesen Ukas Dinge geschaffen, welche de facto nicht wieder rückgängig zu machen sind, und durch welche schon vor der »Konstitution« die Art des Zustandekommens der Gesetze sich zu ändern wenigstens begonnen und die Art des Ineinandergreifens der höchsten Staatsorgane sich wirklich in weittragendster Art geändert hat. Fast mehr als die Schaffung der Duma durch das Gesetz vom 6. August 1905 und selbst als die Zusage, daß ohne ihre Zustimmung kein Gesetz in Kraft treten solle, fuhr den Slawophilen konservativer Richtung die Umgestaltung des »Ministerrates« seine Annäherung an ein »Kabinett« mit dirigierendem Premierminister, durch den Ukas vom 21. Oktober 1905 in die Glieder. Bis dahin existierten neben dem, aus für Lebenszeit ernannten Mitgliedern, meist Exbeamten, oft abhängigen und gelegentlich halb verblödeten »vergangenen Größen« bestehenden »Reichsrat« dessen Begutachtung alle »Gesetze« zu passieren hatten, die beiden Institutionen: 1. des Ministerkomitees, 2. des Ministerrates. Ersteres bestand nicht nur aus den jeweiligen Ministern, sondern daneben aus verschiedenen anderen Beamten, und sein »Präsident« war ein Sinekurist, der bis in die letzte Zeit gar kein Büro besaß und auch keines solchen bedurfte. Seine Geschäfte waren nicht etwa Entschließungen hochpolitischer Art, sondern umgekehrt: 1. die Erledigung bestimmter laufender inter-departementaler Geschäfte und 2. besondere, ihm durch Gesetz zugewiesene Zuständigkeiten, wie z.B. Konzessionierung von Aktiengesellschaften und dergleichen. Der Ministerrat dagegen war, nach preußischer Terminologie, ein Kronrat, präsidiert vom Monarchen oder, wenn dieser für einen Gegenstand »nähere Beratung in seiner Abwesenheit« wünschte, vom ältesten anwesenden Minister. Einberufen auf kaiserlichen Befehl, zur Beratung von Gesetzesänderungen und anderen politisch besonders wichtigen Verfügungen eines Ressorts, Entschließungen über die Berichte der so beliebten »besonderen Kommissionen« welche konkrete Probleme von allgemeiner politischer Bedeutsamkeit beraten hatten, oder für andere, vom Monarchen bestimmte Angelegenheiten, bestand er aus allen Ressortchefs und anderen, ad hoc vom Monarchen berufenen Personen, unter Teilnahme des Sekretärs des Reichsrates.[76] Im übrigen gab es weder einen Premierminister, der die Vorträge seiner Kollegen beim Monarchen ein für allemal zu kontrollieren das Recht hatte, noch überhaupt geregelte Beratungen eines Staatsministeriums im Sinne z.B. der preußischen Praxis. Die Beziehungen der Ressorts hingen – außer in den Fällen, wo das Gesetz oder das Gebot des Monarchen ein anderes bestimmt vorschrieb – von dem persönlichen Gutbefinden der Chefs und ihren Beziehungen untereinander ab.
Die Folge war jener Zustand, den man in der Tat mit nicht allzu großer Übertreibung dahin charakterisieren konnte, daß das Reich in eine Vielheit von Satrapien zerfiel, deren Gebiete nur nicht regional, sondern nach sachlichen »Ressorts« abgegrenzt und [deren Grenzen] konstant streitig waren, und welche miteinander in einem ständigen Wechsel von Kriegszustand, mühsam hergestelltem Waffenstillstand, Bündnissen und wieder beginnenden Intrigen lebten. Die Bombardements zwischen deren Potentaten im Fall des ausbrechenden Kriegszustandes erfolgten in Gestalt oft dickleibiger, zuweilen Hunderte von Druckseiten füllender Staatsschriften, zu deren Ausarbeitung für das angreifende oder angegriffene Ressort dessen nicht selten in Deutschland geschulte wissenschaftliche Hilfskräfte im Schweiße ihres Angesichts alle denkbare in- und ausländische staatsrechtliche, ökonomische und historische Literatur zu wälzen hatten, und die in den Fällen, wo sich einmal ein Einblick in sie eröffnete, eine höchst ergötzliche, zuweilen sogar eine, wenn auch nicht kurzweilige, so doch sachlich ganz interessante Lektüre bilden. Es ist gar nicht selten von guten Kennern, Russen und anderen, die Frage, ob dabei die Interessen des Landes gut gefahren seien, aus ganz den gleichen Gründen entschieden bejaht worden, aus denen man die Bestechlichkeit und den Schlendrian mancher Schichten der russischen Beamtenschaft als ein positives Gut gewertet hat. Denn ein Versuch, sich in die russische Maschinerie von Reglements inner- und außerhalb der 16 Bände des »Sowod« zu vertiefen, muß den Eindruck erwecken, daß das Unternehmen, diesen Wust ernstlich für effektiv geltendes Recht zu nehmen, das Leben nicht nur für den »modernen« Menschen zur Unmöglichkeit machen, sondern, ähnlich wie es die »technischen Obstruktionen« der Eisenbahner in Italien erfolgreich versuchten, diese ganze Maschinerie selbst ad absurdum führen müßte. Und jedenfalls: ausschließlich vom Standpunkt der inviduellen Bewegungsfreiheit der »bürgerlichen« Kreise aus betrachtet, konnte jede Hemmung, die sich[77] das »System« des selbstherrlichen Regimes selber bereitete, jeder – mit LEROY-BEAULIEU zu sprechen – noch so schmutzige Kanal, durch den ein Entschlüpfen aus den Netzen dieses furchtbaren bürokratischen Rationalismus möglich blieb, für einen Schutz der Menschenwürde der Untertanen gelten: die tiefstgehaßten Beamten waren nicht zufällig die »pedantischen« Deutschen, welche ehrlich an die »Weihe« der »Reglements«, welche dieses »System« aus sich gebar, glaubten, oder unbestechliche zentralistische Rationalisten großen Stils wie PLEHWE. Die alte patriarchale Selbstherrschaft war nur als ein System des möglichst wenig wirklich »regierenden« Schlendrians überhaupt rein technisch durchführbar.
Der Ukas vom 21. Oktober 1905 nun bedeutete das Schwinden des noch vorhandenen Scheins der »Selbstherrschaft« im alten Sinn und die definitive Errichtung der zentralisierten Herrschaft der modernisierten Bürokratie. Zwischen den Monarchen und die Ressortchefs tritt der »Ministerrat« und sein Präsident, der stets selbst Minister, wenn auch evtl. ohne Portefeuille, ist (Nr. 3). Die Teilnahme ad hoc vom Monarchen einberufener Personen, ebenso diejenige des Reichsratssekretärs an den Sitzungen dieses fortan nur aus den Ressortchefs bestehenden Ministerrates fällt fort, nur der Ministerpräsident kann andere sachkundige Personen zur Teilnahme mit beratender Stimme ad hoc einladen (Nr. 9). Der Monarch kann dem Ministerrat präsidieren, aber dies ist als Ausnahme gedacht (Nr. 5). Über die der Allerhöchsten Bestätigung bedürftigen Beschlüsse des Ministerrats hält der Ministerpräsident allein dem Monarchen Vortrag (Nr. 7), ebenso über alle im Ministerrat entstehenden und nicht innerhalb seiner beigelegten Meinungsdifferenzen (Nr. 16). Er hat das Recht, von allen Ressortchefs die ihm notwendig scheinenden Aufklärungen und Berichte zu verlangen, ihm sind alle Berichte der Ressortchefs an den Monarchen vorher zur Kenntnis zu bringen (Nr. 17); er hat auch das Recht, beim Vortrag zugegen zu sein. Er ist berufen, eventuell neben dem Ressortchef jedes Ressort im Reichsrat und in der Duma zu vertreten. Er hat neben dem Ressortminister das Recht, eine Angelegenheit vor den Ministerrat zu ziehen (Nr. 11). Alle vor den Reichsrat und die Duma kommenden Angelegenheiten müssen vor den Ministerrat gebracht werden (Nr. 12), und es darf überhaupt keine, eine »allgemeine Bedeutung« besitzende, Angelegenheit ohne Passierung des Ministerrats vom Ressortchef erledigt werden (Nr. 13); nur bezüglich der Angelegenheiten des Kaiserlichen Hofes und der[78] Apanagen, der Staatsverteidigung und der auswärtigen Politik ist dies auf die Fälle beschränkt, in denen die Ressortchefs es für notwendig halten (Nr. 14). Die Vorschläge für die Besetzung der obersten Stellen in der Zentral- und Provinzialverwaltung haben die Ressorts an den Ministerrat zu bringen, ausgenommen die Ressorts des Kaiserlichen Hofes und der Apanagen, des Heeres und der Flotte sowie der Diplomatie. Das bisherige Minister-»Komitee« wurde Schritt für Schritt aufgelöst und verlor bei Einberufung der Duma den letzten Rest seiner Kompetenzen.
Jeder sieht sofort, was hier geschaffen ist: die definitive bürokratische Rationalisierung der Autokratie auf dem ganzen Gebiete der inneren Politik, welche heute nun einmal den Fachmann, und das heißt, bei mangelnder Selbstverwaltung: ausschließlich den Bürokraten fordert. Der Autokrat – auch eine weniger nichtige Persönlichkeit als der regierende Zar – erhält die innerpolitischen Fragen nur vom Premierminister und Konseil »vorgekaut«; die bürokratischen Interessen sind in dem letzteren Organ zu einem mächtigen Trust vereinigt, er ist, um das für den parlamentarischen Ministerverbrauch Frankreichs aufgekommene Bild zu gebrauchen, auf die Rolle eines Keglers beschränkt, der, wenn er will, jedes Mal »alle Neun« wirft, dann aber auch selbst die Mühewaltung des Kegeljungen auf sich nehmen muß. Die Anträge an die liberalen Politiker, in »sein« Kabinett einzutreten, gingen denn auch ganz in westeuropäischer Art vom Premierminister, Grafen WITTE, aus, und obwohl diese sämtlich ablehnten, wurde doch fast das gesamte Ministerium neu gebildet. Da auch der Reichsrat, wie noch zu erwähnen, in eine parlamentarische, daher zur intimeren Beratung des Zaren nicht fähige Körperschaft verwandelt worden ist, bleibt vor der Hand dem Zaren – mit BISMARCK zu sprechen – als einziges »Bekleidungsstück« nur der Ministerkonseil. Die daraus folgende Wehrlosigkeit des Monarchen gegenüber der Bürokratie wird auch dadurch natürlich nicht gemindert, daß er in noch so vielen Einzelfällen immer einmal wieder rücksichtslos gegen den Konseil durchzugreifen sich entschließen und dies sicherlich eventuell sehr erhebliche politische Folgen haben kann: er ist aus dem Taktschritt des »Dienstes« ausgeschaltet und sein Tun dem Wesen der Sache nach zur Systemlosigkeit verurteilt, während auf der anderen Seite auch hier gilt, daß »die Maschine nicht müde wird«. Seinem faktischen Einfluß kam der Krieg der Ressort-Satrapien zugute; jetzt ist er de facto wesentlich[79] auf eine Vetogewalt beschränkt, soweit der Bereich der Tätigkeit des Konseils sich erstreckt; auch wenn er eine private »Nebenregierung« aus den Großfürsten oder anderen »Vertrauensleuten« bildet, wie es angeblich auch jetzt der Fall ist, ist sein Eingreifen ein entweder durch die Interessen bestimmter Kliquen dirigiertes oder ein ganz zufälliges. Zu ungeheuerlichen Dimensionen würde aber die monopolistische Stellung des Konseils bei einem System des Scheinkonstitutionalismus anschwellen müssen, wo die Minister mit einem von ihrer Verwaltungsmaschinerie fabrizierten, des rechtlich gesicherten Einflusses entkleideten Schattenparlament schalten und walten würden. Ganz anders – und dies wäre, so seltsam es heute manchem klingt, das sicherste Mittel für den Monarchen, faktischer Herr der Bürokratie zu bleiben – könnte sich das Verhältnis entwickeln bei rechtlich voller Durchführung des »konstitutionellen« Systems; denn dann ist eventuell die Bürokratie auf den Monarchen gegenüber dem Parlament angewiesen und steht mit ihm in Interessengemeinschaft.
So wenig sich über diese Dinge, bei denen dem Wesen der Sache gemäß stets »alles im Flusse« ist, generelle Sätze aufstellen lassen, so ist doch aus dieser Möglichkeit heraus die faktisch oft so viel stärkere Position formell-rechtlich strikt konstitutioneller Monarchen (Preußen, Baden) zu erklären. Ja, das rein parlamentarische »kingdom of influence« kann, gerade infolge seiner bewußten Bescheidung, ein Maß von positiver systematischer Arbeit im Dienste seines Landes leisten, welches dem »kingdom of prerogative« nicht erreichbar ist, weil die dynastische Eitelkeit oder die Schwellung des Selbstbewußtseins [des Monarchen], welche durch das rechtlich anerkannte Bestehen seiner Kronprärogative so leicht in Bewegung gesetzt werden, ihn zu persönlichen Ambitionen verleitet, die nun einmal mit der Realität des heutigen Staatslebens, welches mit dem Dilettantismus des Herrschers, wie ihn die Renaissancezeit kannte, nichts anfangen kann, nicht ohne schweren Schaden vereinbar sind. Für das Zarentum darf man – welches auch das weitere Schicksal der »Konstitution« für den Augenblick sein mag – gespannt sein, welche Wege es einschlagen wird.
Der in seiner Wurzel slawophile Vorschlag SCHIPOWS vom April 1906, den Reichsrat lediglich oder doch gänzlich überwiegend aus Vertretern der Semstwos und ähnlicher Korporationen zusammenzusetzen und ihn dann – im Gegensatz zu der bald zu besprechenden, jetzt bestehenden Neuerung – nur als eine den Zaren unmittelbar [80] beratende Körperschaft, unabhängig von der allein an der Legislative zu beteiligenden Duma, bestehen zu lassen, beruht, theoretisch betrachtet, auf einem teilweise richtigen Gedanken: so wie er durch die Gesetze vom 20. Februar 1906 geworden ist, ist der Reichsrat nur eine Bremse für die Duma und nur im Sinne und Interesse der kraft Gesetzes in ihm die absolute Stimmenmehrheit besitzenden Bürokratie. Der Zar seinerseits dagegen hat an einer solchen Körperschaft, die nach parlamentarischer Geschäftsordnung verhandelt und beschließt, für sich nicht die geringste Stütze. Dagegen ein rein beratendes, nicht zu großes Gremium, mit dem er direkt verkehrte, könnte – so nimmt diese Theorie offenbar an – nicht nur für die »positive« Arbeit einflußreicher (im Sinne der darin vertretenen Kreise), sondern auch für Zaren, die es zu gebrauchen verständen, eine starke Stütze gegen die Bürokratie sein. Bei der mangelnden »Intimität« die ein notwendig mindestens 60 bis 80 Mitglieder umfassender Körper bedingt, dürfte der Erfolg immerhin stark bezweifelt werden.
Wie dem nun sei, soviel steht fest, daß die Ordnung, die der Ukas vom 21. Oktober geschaffen hat, die Akme der bürokratischen Machtstellung WITTES bedeutete. Die darin von ihm für sich geschaffene Position des Premierministers wirklich zu behaupten, ist ihm nicht gelungen: wie im »Fall MIQUEL« bei uns, zeigte sich auch hier, daß nur mit, noch so großem, Intellekt und gänzlich ohne das, was man »politischen Charakter« nennt, ein maßlos ehrgeiziger Mann (wie beide Staatsmänner es waren) schließlich doch nur dazu gelangt, dem Besitz des Portefeuilles schlechthin alles zu opfern und ohne Ehre vom Schauplatz abzutreten. Nachdem er für die Börsen lange genug an seinem Platze gestanden hatte und die Anleihe im Hafen war, verschwand er, und nicht einmal die Behauptung des Staatskredits war ihm gelungen in dem Sinne, den sicherlich er selbst damit verband. Anstatt im Januar, wo er noch unentbehrlich war, die Kabinettsfrage gegen DURNOWO zu stellen, fügte er sich diesem Individuum, dem einzig bestechlichen Mitgliede des Konseils, verdammte sich zu absoluter Einflußlosigkeit und gab sich dem Haß und der Verachtung der »Gesellschaft« preis, ohne das Vertrauen des Zaren zu gewinnen; er machte sich so auch als etwaiger künftiger »Retter« unmöglich (oder doch nur sehr schwer möglich). Allein hier ist nicht von WITTE persönlich die Rede. Fest steht, daß, wenn jetzt die Rationalisierung des Bürokratismus in Rußland weiterhin unvermeidlich um[81] sich greift und nach unten fortschreitet, alle slawophilen Ideale an der Wurzel getroffen werden.
Damit aber ist der Krieg der »Gesellschaft« gegen die Bürokratie in Permanenz. Wie »Nowoje Wremja« das meines Wissens einzige große Blatt war, welches dem Grafen WITTE zum Bleiben zuredete, mit der in diesem Falle besonders geschmackvollen Devise: »Noblesse (!) oblige«, so ist die Schicht der modernen großkapitalistischen Unternehmerschaft und der Banken die einzige, außerhalb des Beamtentums stehende Schicht, welche mit einer Herrschaft der Bürokratie in scheinkonstitutionellen Formen und unter der Voraussetzung, daß dem Gelderwerb freie Hand gegeben wird und die staatliche »Subátowschtschina« verschwindet3, sich ganz gern einverstanden erklären würde. Nun hat aber, wie noch zu erzählen sein wird, die Bürokratie bei ihren Wahlgesetzen sich dergestalt in ihre eigenen Netze verstrickt, daß sie diesen ihren Lieblingen nicht helfen konnte: die »Handels- und Industriepartei« – wie wir sehen werden: die Klassenvertretung der Bourgeoisie im strikten Sinne dieses Wortes – hat einen einzigen Abgeordneten durchgebracht. Die ganze übrige russische Gesellschaft steht wie ein Mann gerade gegen die Entwicklung der alten Selbstherrschaft zu einer modernen rationalen Bürokratie, einerlei welche Parteistellung sie sonst einnimmt. Der rote Schrecken scheucht die Besitzenden zeitweilig in ihren Schatten, aber wir werden uns bald zu überzeugen haben – das ist das Interessante der Entwicklung zur Zeit des Interimsministeriums –, daß selbst er nicht imstande ist, der russischen Gesellschaft das in der Konsequenz der Technik der modernen bürokratischen Arbeit liegende System des »aufgeklärten« d.h. bürokratisch rationalisierten, Absolutismus der Aktenstube aufzuerlegen, die Kluft sich vielmehr derart erweitert, daß, nach endgültiger Vernichtung der patriarchalen Ideale der Staatstheorie des Slawophilentums, nur um den Preis des[82] chronischen Bürgerkrieges die rechtliche Einschränkung der Bürokratie vermeidbar wäre: wir sahen schon, daß das Interims-Regime nicht einmal rein äußerlich die Herstellung der »Ruhe« erzwingen konnte.
Als eine Verletzung des »Geistes« des Manifestes vom 17. Oktober erschien – und zwar nicht nur der Demokratie, sondern auch den gemäßigten Slawophilen, wie SCHIPOW – die Einsetzung des Reichsrats, einer bisher rein beratenden Instanz, in die gleichen Rechte mit der Duma. Zwar wurde der Reichsrat durch Mitglieder ergänzt, die vom Adel, der Geistlichkeit, den Semstwos, den Universitäten und von Gewerbe- und Industriekörperschaften zu wählen waren, aber der Kaiser konnte eine ihrer Zahl zusammengenommen gleichkommende Anzahl von Mitgliedern ernennen, und der von ihm ernannte Reichsratspräsident hatte den Stichentscheid. Da die ernannten Reichsratsmitglieder nur auf eigenen Antrag entlaßbar sind, ein Pairsschub durch ein etwaiges, der Duma entnommenes Ministerium also unmöglich ist, bedeutete das formal die Obstruierung des Fortschritts der Gesetzgebung durch die ernannte Reichsratsbürokratie. Die gesamten, der Duma zugewiesenen Befugnisse erweisen sich, bei Licht besehen, in der Tat nur als eine mäßige Änderung des Gesetzes vom 6. August, strikt in dem Sinn, daß der Duma – aber ebenso dem erweiterten Reichsrat – ein Veto gegen neue dauernd gelten wollende »Gesetze« eingeräumt war. Die gesamten Beziehungen zwischen Regierung und Volksvertretung wurden unter der axiomatischen Voraussetzung geordnet, daß die Volksvertretung der natürliche Feind der Staatsgewalt ist und immer bleiben wird. Es ist von vornherein klar, daß darauf die bekannte, mit vieler Entrüstung oft der Demokratie (namentlich der deutschen) vorgeworfene Anschauung: daß die Regierung der natürliche Feind »des Volkes« sei, die einzig mögliche Reflexempfindung gewesen wäre, – wenn sie nicht ohnedies seit Jahrzehnten durch das Verhalten der Bürokratie den Massen beigebracht wäre.
Die Kodifikation der Karikatur eines immerhin heute so mächtigen Rechtsgedankens, wie es der Konstitutionalismus ist, kann auf die Dauer sehr anders wirken, als die Kodifikatoren erhoffen. Mit[83] einer Art von Bauernschlauheit sucht die verschmitzte Mongolentücke dieser – bei aller Tüchtigkeit vieler Einzelner und bei allem Raffinement der Technik – doch politisch unendlich stupiden Bürokratie klüglich alle Maschen des juristischen Netzes zu schließen, auf daß das Parlament sich in ihnen verfange und gefesselt bleibe. Aber wie die »Heuchelei die Verbeugung des Lasters vor der Tugend« ist, so ist die ausdrückliche Kodifikation eines derart tief unwahrhaftigen Scheinkonstitutionalismus eine ebenso tief erniedrigende »Verbeugung der ›Idee‹ der Autokratie vor dem konstitutionellen Prinzip« sie schädigt auf die Dauer nicht die Achtung vor diesem Prinzip, sondern sie schädigt die Autorität der Krone, die so offensichtlich sich zwingen läßt, »Konzessionen« an ein ihrer Eitelkeit und ihrem Herrenkitzel widerliches System zu gewähren, statt offen und ehrlich eine Probe mit ihm zu machen. Wenn eine solche »ehrliche Probe« tatsächlich zur Phrasenherrschaft, Verkennung der durch das Entwicklungsstadium gegebenen »Möglichkeiten« und zu Versuchen einer pseudoparlamentarischen Kli quenherrschaft geführt hätte, dann hätte diese alte Krone mit ihrer – trotz allem – noch immer tief im Bewußtsein der Masse wurzelnden religiösen Weihe neben den Bajonetten auch die Macht »ideeller« Kräfte – und seien diese noch so »illusionistischen« Charakters – auf ihrer Seite gehabt, wenn sie alsdann über das formale Recht hinwegschritt und die »Probe« für mißlungen erklärte: ihr Ansehen wäre auf Kosten ihrer wirklich gefährlichen Gegner auf lange hinaus gestärkt aus dem Kampfe hervorgegangen. Jetzt, wo jede Bewegung des Parlaments auf juristische Stacheldrähte stößt, ist die Sachlage aber offenbar genau die umgekehrte: das Parlament ist in der Lage, die Massen mit der Überzeugung zu erfüllen, daß die Probe, mit der Krone zu regieren, »mißglückt« sei, und, wenn man es auseinanderjagt und mit Gewalt und Trug eine »Landratskammer« erzwingt, so hat die »Idee« des Zarismus die Kosten zu tragen. –
Das BULYGINsche Wahlgesetz (Wahlverordnung vom 6. Aug. 1905) beruhte auf dem Gedanken einer im Anschluß an das bestehende Semstwowahlrecht ziemlich kompliziert konstruierten Klassen- und Ständevertretung. Innerhalb jedes Wahlbezirks – der normalerweise mit dem Umfang eines Gouvernements zusammenfällt – sollten einerseits die Vertreter des privaten Grundbesitzes, die großen persönlich,[84] die kleinen, bis zum Minimalzensus von ein Zehntel desjenigen der großen, durch Bevollmächtigte, andererseits die Vertreter des städtischen Hausbesitzes und mit ihnen zusammen aller anderen Arten »beweglichen« Besitzes: Handels- und Industriekapitalien und desjenigen »beweglichen« Vermögens, welches sich in der Innehabung besonders wertvoller Wohnungen äußert, in zwei gesonderten Sitzungen zur Wahl von Wahlmännern schreiten; als dritte Klasse hatten, wiederum gesondert, die Bauern (im ständischen Sinne des Wortes, also die in die bäuerlichen Steuerlisten Eingetragenen) Wahlmänner zu wählen. Bei der Deputiertenwahl war dann den »Bauern« das Privileg gegeben, in jedem Bezirke Einen aus ihrer Mitte in die Duma zu schicken, alsdann wählten sie mit den Wahlmännern der beiden anderen Klassen zusammen den Rest. Der Zensus in den städtischen und ländlichen Zensusklassen war etwa so bemessen, daß Besitz im Werte von 30000 bis 50000 Rubel oder ein Einkommen in Höhe von mindestens wohl 3000 Rubel dazu gehörte, um denjenigen Bedingungen (Zahlung bestimmter Steuern, Minimalumfang des Grundbesitzes) zu genügen, an die der Besitz einer eigenen Stimme bei der Wahl der Wahlmänner geknüpft war: die kleinen Eigentümer auf dem Lande (nur dort) hatten Kurienwahlrecht. Man schloß also nicht nur das Proletariat (außer dem bäuerlichen), sondern auch den »unteren Mittelstand« (Handwerker, mittlere Beamte), vor allem aber die nicht mit erheblichem Besitz verknüpfte Intelligenz aus, diese noch speziell durch Aufstellung des gegen populäre »Leader« gerichteten Prinzipes der Wahl »aus der Mitte« des (örtlichen) Wahlkörpers selbst, Verbot der Doppelkandidatur und andere Kautelen. So hoffte man die Interessenten des Besitzes auf der einen Seite, die für »autoritär« gehaltenen Bauern auf der anderen mit den Interessen der Bürokratie zu verbinden. Die Wahlmänner des »beweglichen« Besitzes waren dabei überall in die Wahlgemeinschaft mit den beiden anderen Klassen hineingebannt und nur eine Anzahl größerer Städte als selbständige Wahlbezirke konstitutiert. Großgrundbesitz und Bauern sollten sich also in die Macht teilen, daneben die »Bourgeoisie« im spezifischen Sinne des Wortes und die »Hausagrarier« der Städte eine warme Ecke reserviert erhalten.
Das Manifest vom 17. Oktober versprach nun Ausdehnung des Wahlrechts auf die nach diesem System unvertretenen Klassen, – und dies schien alle jene Finessen über den Haufen zu werfen. Die Bürokratie[85] suchte jedoch mit Geschick die Wirkungen der starken Verbreiterung der Wahlrechtsbasis, zu der sie sich genötigt sah, dadurch für sich unschädlich zu machen, daß sie den Strom der neu hinzukommenden Wähler fast ganz in einen einzigen Kanal hineinströmen ließ: in die, gegenüber den beiden Wählerklassen der ländlichen Grundbesitzer und der Bauern, in hoffnungsloser Minderheit befindliche Klasse der den beweglichen Besitz vertretenden Wähler. Die Zahl dieser Wähler verzwanzigfachte sich mindestens, – die Zahl der von ihnen zu ernennenden Wahlmänner blieb die gleiche.
Wäre im Herbst 1904, vor dem Fall Port Arthurs, oder wenigstens statt des dem Zaren offensichtlich abgerungenen und ganz unbestimmt gehaltenen »Reskripts« vom 18. Februar 1905 eine »Konstitution« mit Zensus- oder Klassenwahlrecht oktroyiert und alsbald durch Wahlausschreiben und Einberufung der Volksvertretung in Kraft gesetzt worden, so war eine zu weitestgehendem Entgegenkommen bereite, »dankbare« bürgerliche Duma höchst wahrscheinlich. Dynastische Eitelkeit und die Interessen der Bürokratie ließen den Zeitpunkt verpassen. Hätten nun wenigstens für die Zensusduma des BULYGINschen Entwurfs die Wahlen alsbald Anfang August ausgeschrieben und der Zeitpunkt des Zusammentritts bekannt gegeben werden können, dann war die Möglichkeit immerhin nicht ausgeschlossen, daß man ein Parlament bekommen hätte, mit dem WITTE bei seinem damaligen Nimbus hätte regieren können. So aber kam der Oktoberaufstand dazwischen, und nun lagen nach dem Manifest vom 17. Oktober – einer reinen und offenkundigen, schmählichen persönlichen Niederlage des Zaren – alle Chancen auf Seite der Demokratie. Vom egoistischen Standpunkt der Bürokratie aus war »Abwarten« nunmehr das »taktisch Richtige« wenn man eben den Scheinkonstitutionalismus und nicht eine »ehrlich« konstitutionelle Politik wollte. Als nun aber die Dezembervorgänge und die Bauernunruhen ihre Wirkung getan hatten, wäre der Moment gegeben gewesen. Wäre man damals, Ende Dezember, im Besitz eines Wahlgesetzes und der Wählerlisten und also in der Lage gewesen, jetzt alsbald, und natürlich auf Grund einer politischen Verständigung mit den führenden Kreisen des »Besitzes«, Wahlen abzuhalten, dann ist mit einem sehr hohen Grade von Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß das Ergebnis sehr wesentlich »günstiger« ausgefallen wäre als zwei Monate[86] später. Aber nun schwankte man wieder, ob denn dieser »Kelch« nicht doch vielleicht ganz vorübergehen könne, und dann kam die Technik der Wahlen dazu, um abermals eine Frist von mehreren Monaten bis zum Vollzug der wichtigsten Wahlen zu schaffen. Dieser lange Zwischenraum konterkarierte alles, was man mit dem Gesetz zu erzielen gehofft hatte.
Wenn der Gesetzgeber etwa geglaubt hatte, die Hitze der Wahlagitation oder die exklusive Bedeutung des Parteiwesens herabzusetzen, so wurde er trotz des törichten Boykotts der äußersten Linken gründlich enttäuscht. Nicht nur war gerade bei diesem Wahlverfahren die Prämie auf die Parteidisziplin sehr hoch, sondern überdies mußte gerade die mit der Verzwicktheit des Systems zusammenhängende lange Dauer der Wahlkampagne die Agitation, wo sie nicht überhaupt einfach gänzlich unterdrückt werden konnte – und das zeigte sich schwieriger, als man geglaubt hatte –, schließlich bis zur Siedehitze ansteigen lassen. Tatsächlich ist dies das Eigenartige an der gegenwärtigen russischen Entwicklung, daß alle Erscheinungen der westeuropäischen ökonomischen und staatlichen »Zivilisation« plötzlich und ganz unvermittelt in das – mit Ausnahme der obersten Schicht – noch immer archaistische Milieu dieser Gesellschaft hineintreten.
Ungleich größer als die Zahl der abgehaltenen ist, wenigstens für die Linke, die Zahl der infolge des ganz dem Ermessen der lokalen Behörde (Gouverneur) anheimgegebenen Verbotes – welches übrigens gelegentlich auch Versammlungen der Mittelparteien traf – wieder abgesagten Versammlungen, Vortragsabende und Zyklen. Und diese letzteren waren für die Parteiagitation nicht etwa wertloser als die ersteren, – im Gegenteil. Für die Massen in den Städten und ebenso für die Bauern stand es ja – wen sollte das eigentlich wundern? – völlig fest, daß, was die Bürokratie verbietet, notwendig etwas Vortreffliches sein müsse, das sie »dem Volke« nicht gönnt. Die Behörde übte auf diese Art im Effekt nur eine Art Sanitätspolizei für die Nerven der Agitatoren, besonders unserer russischen Kollegen, deren Leistungsfähigkeit ohnehin die Begriffe eines an eine gewisse Gemächlichkeit gewöhnten deutschen Professors weit hinter sich läßt: neben der rednerischen »Kraftentfaltung« geht die publizistische her, und es ist wiederum unglaublich, welche Flut von jeweils auf den umfassendsten, wenn auch stets einander unvereinbarlich widersprechenden, statistischen Rechnungen beruhenden Artikeln, namentlich[87] über agrarpolitische Fragen, nicht nur zwischen den verschiedenen Parteirichtungen, sondern auch in unausgesetzter Kanonade innerhalb einer und derselben Zeitung zwischen Parteigenossen aus den Universitätskreisen gewechselt worden ist. Ein Versammlungsverbot war für den halbtoten Redner dann eine Wohltat, und überdies verschaffte er der betreffenden Partei die denkbar wirksamste Reklame, sicher oft eine weit bessere, als der Vortrag selbst es hätte tun können, und dabei kostenlos. Und das bedeutet bei diesem Wahlsystem auch etwas. Denn auch die Kosten der Wahlkampagne sind relativ ganz unverhältnismäßig. Schon die Ausgaben der Regierung müssen sehr bedeutende sein. Im Gegensatz zu Frank reich und England und im Einklang mit Deutschland hat man – hier das erste Mal natürlich notgedrungen, aber nach dem Gesetz auch für die Zukunft – das System der Schaffung von Wählerlisten ad hoc, für die einzelne Wahl, adoptiert.
Welche bedeutenden Kosten bei einer so komplizierten Wahltechnik für die Parteien entstehen müssen, liegt auf der Hand. Es ist ja unter anderem auch der Wunsch, die Wahlkampagne zu vereinfachen und mit geringeren Kosten – geistigen sowohl wie materiellen – zu bestreiten, was die Presse und die bestorganisierten Parteien – Sozialisten und Klerikale – des Westens auf den Ersatz der indirekten durch die direkte Wahl drängen läßt. Das Interesse der Massen an der Wahl und damit die Stoßkraft der »Demagogie« ist bei der letzteren Form der Wahl mit weit geringerem Aufwand von Mitteln zu erhöhen als bei der ersteren.
Durch den Formalismus, mit dem die Regierung künstlich die Intelligenz, namentlich das gefürchtete »dritte Element«, von der Wählbarkeit durch die Bauern auszuschließen suchte, und durch ihr Filtriersystem konnte sie zwar den Durchschnitt des geistigen Niveaus der Deputierten herabdrücken, aber die Wahlkandidaturen gerade der ihr gefährlichsten Klasse, der »Bauernintelligenz«, nicht treffen, sondern deren Stellung nur festigen. Soweit sie sich nicht durch den törichten Boykottbeschluß selbst von der Teilnahme an den Wahlen ausschloß, konnte gegen sie – nach den Vorstellungen der Polizeibürokratie – nur Gewalt helfen, und diese wieder wirkte, wo immer sie angewendet wurde, als Reklame. Verhaftete Bauernbevollmächtigte haben aus der Haft heraus der Polizei telegraphisch für die[88] Arbeit gedankt, die sie für ihre Wahl geleistet habe, – und sie hatten, wie sich herausstellte, allen Grund dazu. Die Anwendung polizeilicher Gewalt verletzt das Gerechtigkeitsempfinden des russischen Bauern überall und immer, obwohl und, zum Teil, weil er gewohnt und geneigt ist, sich ihr äußerlich zu fügen, in wahrscheinlich weit stärkerem Maße als in anderen Ländern. Denn er sieht eben darum in ihr schlechterdings nichts »Sittliches« nichts als die rein »zufällige« brutale, sinnlose Faktizität der Macht, die in den Händen von Leuten liegt, die seine geschworenen Feinde sind. Es konnte sich nur das eine fragen, ob jenes trotzig-verschwiegene Gerechtigkeitsgefühl oder die Furcht vor der Polizei bei der Wahl das stärkere Motiv abgeben würde. Die Regierung setzte das letztere voraus, und man wird ihr zugestehen müssen, daß sie wenigstens in dieser Hinsicht »das Ihre« getan hat.
Der gänzliche Mißerfolg bei den Wahlen kam nach solchen Vorkehrungen der Regierung selbst und ihren Gegnern gleich unerwartet und ist auch objektiv betrachtet eine so merkwürdige Erscheinung, daß er in seinen Peripetien wohl der Interpretation wert erscheint.
Die zu plötzlicher mächtiger Blüte gelangten professionellen Verbände, die Träger der radikalen Bewegung, waren aufgelöst und wenn man auch, darin unbefangener als das stupide PUTTKAMERsche Regime bei uns, die eigentlichen Gewerkschaften schonender behandelte, so schuf doch der furchtbare Druck, der auf der Industrie lag, eine unerhört starke Reservearmee von Arbeitslosen, so daß diejenigen Fabriken, in welchen die Arbeit wieder aufgenommen wurde, mit der größten Bequemlichkeit eine gründliche »Filtrierung« der Arbeiterschaft vornehmen konnten, die Stimmung des Proletariats tief sank und es im Begriffe schien, selbst die rein ökonomischen Früchte der Revolution gänzlich wieder einzubüßen. Überall begannen die Fabriken, soweit sie überhaupt arbeiteten – die Schließungen dauerten zum Teil bis zum April –, den Arbeitstag wieder auszudehnen; es schien, als ob nur etwa das »Sie« statt des »Du« in der Anrede an die Arbeiter als Frucht der Revolution übrig bliebe. Allein dieser ökonomische Druck zeitigte nun unter den russischen Verhältnissen eine Frucht, die mit dem Agrarkommunismus eng zusammen hängt. Die Reservearmee der Arbeitslosen blieb nur zu einem, allerdings bedeutenden, Teil in den Städten, zum anderen strömte sie in das[89] heimische Dorf zurück und die von den Fabriken »herausfiltrierten« Agitatoren und Sozialisten wurden nun hier Propagandisten des Radikalismus unter den Bauern. Die Arbeiterbewegung selbst aber erhob trotz der schweren Lage mit einer ganz erstaunlichen, wohl noch nirgends erhörten Elastizität ihr Haupt von neuem, so sehr den Führern die faktische Macht der bestehenden Gewalten in die Glieder gefahren war.
Es ist vielleicht richtig, das Agrarprogramm [der konstitutionelldemokratischen Partei4] und die darüber zutage getretenen Meinungsverschiedenheiten hier wenigstens in gedrängter Skizze zu erörtern, um einen Begriff von den unerhörten Schwierigkeiten zu gewinnen, mit denen der Versuch, zur Zeit in Rußland in dieser wichtigsten Frage überhaupt irgend etwas zu »wollen«, zu rechnen hat.
Fest steht für fast alle Gegenden des Reiches, den äußersten Norden und die Neulandgebiete ausgenommen, das Vorhandensein der zunächst »subjektiven« Erscheinung des akuten »Landhungers« der Bauern, der am stärksten, aber keineswegs nur, in einer Zone besteht, welche die rein oder fast rein agrarischen, und zwar Getreide bauenden, Gebiete der »schwarzen Erde« und der an sie angrenzenden, vom Westufer der Wolga durch das südliche Zentralgebiet bis an und über den Dnjepr, umfaßt. »Objektiv« äußert sich diese drükkende Landnachfrage am deutlichsten darin, daß seit zwei Jahrzehnten trotz beinahe unaufhörlich sinkendem Getreidepreis und – relativ! – stabiler Technik die Pachten und Güterpreise in konstantem, zum Teil geradezu exorbitantem Steigen begriffen sind: die Nachfrage nach Boden ist nicht eine solche zum Zweck der geschäftlichen Verwertung von »Anlagekapital« als Erwerbsmittel, sondern zum Zweck des Besitzes des Landes als gesicherter Gelegenheit zur Verwertung der eigenen persönlichen Arbeitskraft für den eigenen Lebensunterhalt; nicht Profit, sondern Deckung des unmittelbarsten[90] Bedarfs ist ihr Zweck, und daher gibt es eine Obergrenze für den Bodenpreis nur in den jeweiligen, wie immer erworbenen, Geldvorräten der Nachfragenden.
Rechnet man nun mit den heute gegebenen geschäftlichen und ökonomischen Qualitäten der Bauern als mit einer jedenfalls nur höchst allmählich umzugestaltenden, gegebenen Größe, dann allerdings erscheint die Vermehrung ihres Landbesitzes um jeden Preis als die für die Gegenwart schlechthin nicht zu umgehende Voraussetzung alles weiteren, insbesondere auch der Möglichkeit der »Selbsthilfe«.
Diese Vermehrung findet nun heute im Wege des freien oder durch die Bauernlandbank vermittelten Verkehrs zwar in bedeutendem Umfang, aber doch zu Preisen statt, welche die Herauswirtschaftung von »Mehrerträgen« aus dem gekauften oder gepachteten Land generell zweifellos ausschließen, weil 1. die Ertragsergebnisse der bäuerlichen Wirtschaften schon an sich 20% unter denjenigen der Gutswirtschaft stehen, von der sie Land kaufen; der Bauer steht sich vielfach als Arbeiter des Grundherrn besser wie als Pächter oder Käufer, selbst wenn dabei nur der »Ertragswert« des Gutslandes zugrunde gelegt würde, und vor allem weil 2. die ungeheure Konkurrenz der pacht- und kaufbedürftigen Bauern um das Land die Preise weit über den kapitalisierten Ertragswert selbst des Gutslandes, man kann sagen: ohne jede fixierbare Obergrenze, in die Höhe treibt. Überdies aber sind es natürlich keineswegs die Bedürftigsten, die bei diesem rasenden Wettlauf in den Besitz des ihnen nötigen Landes gelangen. Aus dieser Situation ist der Gedanke, die Preise zwangsweise zu fixieren, dem Bodenwucher ein Ende zu machen und den bäuerlichen »Nadjél« der wirklich Landbedürftigen planmäßig auf eine Höhe zu bringen, welche dem Bauern wenigstens den konstanten Druck des Hungers von den Schultern nimmt, der Expropriationsgedanke also, geboren. Sehen wir kurz die Probleme an, in die er sich verstrickt: 1. entsteht die Frage, welche Norm für die – soweit möglich – durch Landzuteilung zu erreichende Größe des bäuerlichen Nadjél gelten soll. An Vorschlägen und Forderungen standen sich gegenüber: a) das Verlangen, der Bodenbesitz jedes Bauern solle so groß sein, daß er seine Arbeitskräfte voll darauf verwerten könne. »Das Land ist Gottes, es muß nur den selbst Arbeitenden überlassen werden, jedem aber so viel, als er bearbeiten kann.« Die Unmöglichkeit, dieses Ziel in Rußland zu erreichen, ist statistisch[91] absolut außer Zweifel gestellt. Es ist so viel Land schlechthin nicht verfügbar; gleichwohl hat nicht nur die sozialrevolutionäre Bauern – und Arbeiterpartei auch in der Duma daran ausdrücklich festgehalten, sondern sind gelegentlich auch bekannte Agrarpolitiker für diese »trudowaja norma« eingetreten. b) das »Bedarfsprinzip« (»potrebitjelnaja norma«): der Bauernwirtschaft ist so viel Land zuzuteilen, als sie für die Deckung der elementaren Lebensbedürfnisse (Essen, Wohnung, Kleidung) bedarf; es versteht sich dabei, daß diese Norm nur unter Berücksichtigung aller konkreten Verhältnisse, also lokal verschieden, feststellbar wäre. Die »trudowaja norma« geht vom »Recht auf Arbeit«, die »potrebitjelnaja norma« vom »Recht auf Existenz« aus. Die erstere setzt, wie das »Recht auf Arbeit« selbst, den Gedanken voraus, daß Zweck der Wirtschaft der Erwerb sei, sie ist ein revolutionäres Kind des Kapitalismus; die letztere behandelt als Zweck der Wirtschaft die Gewinnung des »Bedarfs«, ihre gedankliche Grundlage ist der »Nahrungs«standpunkt. Das Prinzip der »potrebitjelnaja norma« kann nun in der doppelten Formulierung auftreten: α) daß maßgebend sein solle ein Bodenausmaß, welches bei Hebung der Technik des Bauern auf das für ihn normalerweise erreichbare Niveau moderner Bauernwirtschaften ausreicht, oder β) daß die heutige Technik des Bauern, also, da man die Faulen und Dummen nicht direkt begünstigen kann, die in den einzelnen Gegenden »ortsübliche« durchschnittliche Leistungsfähigkeit zugrunde gelegt wird. Endlich c) hat man, da diese Normen, ganz besonders diejenige ad b β, die minutiösesten Erhebungen erfordern würden und der Schein der Willkür unvermeidlich wäre, eine »historische« Norm, und zwar entweder α) die des in den einzelnen Gegenden verschieden bemessenen bäuerlichen Maximallandanteils von 1861 oder β) den heute vorhandenen mittleren Bodenanteil der einzelnen Landesgebiete als Minimal-Nadjél vorgeschlagen. Gegen α wurde geltend gemacht, daß die ungeheuren Umwälzungen der Wirtschaft Rußlands seit 1861 die Anwendung dieser Norm heute zu einer höchst willkürlichen, ganz ungleichartig wirkenden machen müßten. – Das von der Agrarkommission der k.-d. Partei ausgearbeitete Projekt hat das Bedarfsprinzip akzeptiert.
Die Projekte der systematischen Enteignung und Aufteilung des privaten Bodenbesitzes werden zweifellos nicht leicht zur Ruhe kommen.[92] Aber es ist sehr ernstlich zu bezweifeln, ob schließlich irgendeines von ihnen in einer den jetzigen Idealen in den entscheidenden Punkten auch nur annähernd entsprechenden Weise von irgendeiner russischen Regierung durchgeführt werden wird. Selbst das recht maßvolle k.-demokratische Projekt ist der Antrag auf eine Art von Auto-Vivisektion; es macht Vorschläge, deren Ausführung einen »leidenschaftsleeren Raum« voraussetzen würde. Wenn man die furchtbaren Leidenschaften und vor allem das Chaos der Interessenkonflikte innerhalb der Bauernschaft, die jeder Versuch einer systematischen und allgemeinen Landzuteilung hervorrufen würde, sich einen Augenblick vergegenwärtigt, so wird man sagen müssen: dies müßte eine zugleich von streng demokratischen Idealen beseelte und mit eiserner Autorität und Gewalt jeden Widerstand gegen ihre Anordnungen niederzwingende Regierung sein. Die Durchführung der Reformen selbst, ebenso aber die periodische Neuverpachtung so ungeheurer Areale an eine riesige Zahl von Einzelinteressenten ist, soweit wenigstens geschichtliche Erfahrung reicht, nur durch die Hand despotischer Regierungen unter stabilen ökonomischen Verhältnissen möglich. Die Millionen kleiner Staatspächter würden einen Kolonenstand bilden, wie ihn in dieser Art und diesem Umfang nur etwa das alte Ägypten und das Römerreich kannten. – Dem bürokratischen Regiment fehlt jede Möglichkeit, jenen Idealen nachzugehen, überhaupt rücksichtslos gegen den Adel und die Grundbesitzerklasse zu regieren, einem demokratischen Ministerium würde dagegen die undemokratische »eiserne« Autorität und die Rücksichtslosigkeit gegen die Bauern fehlen. Eine Zwangsenteignung ganz großen Stiles also ist jedenfalls nicht sehr wahrscheinlich, was auch weiterhin in Rußland geschehen möge. Freiwilliger Landaufkauf ist, solange die Bauern politisch so unruhig bleiben wie jetzt, zu relativ billigem Preise möglich: die Kosakenwachen kosten die Gutsherren Geld, und ihre Lage ist äußerst unbehaglich, – aber der dazu erforderliche Kredit ist gerade dann für eine ganz große, eine Milliardenaktion, kaum erschwinglich, und die Bauern kaufen nicht. Wenn aber das Land erst wieder »ruhig« ist, so wird der Landpreis bei konstanter Kaufnachfrage des Staates oder der Landbank noch ganz anders als bei uns in der Provinz Posen emporschnellen: eine Verfünf-, gelegentlich eine Verzehnfachung hat schon jetzt in einzelnen Gebieten im Laufe von etwa 15 Jahren (trotz sinkender Produktenpreise) stattgefunden.[93]
Nicht weil die Idee des dopolnitjelnyj nadjél5 etwas in sich besonders »Unmögliches« enthielte – davon ist gar keine Rede! –, sondern weil nach der historisch gegebenen Lage der Dinge die Klippen, an denen ein ernstlicher Versuch, sie zur Tatsache werden zu lassen, scheitern kann, in so ungeheurer und ganz unübersehbarer Zahl sich dem statistisch ins Dunkle steuernden Schiff in den Weg stellen würden, erscheint ihre Verwirklichung – leider! – sehr wenig wahrscheinlich. Denn zu jenen Schwierigkeiten gesellt sich vor allem noch der Umstand, daß die Bauern auch politisch »erwacht« sind und starke revolutionäre Parteien, von den glühendsten Hoffnungen erfüllt, ihre Phantasie mit Beschlag belegen. Eine sachliche und unbefangene Arbeit, wie sie jede wirkliche »Lösung« dieser unerhört komplizierten Frage auf so breiter Basis, wie sie das k.-d. Programm will, erfordert, ist unter dem Temperaturgrad, den heute neben den sozialen auch die rein politischen Leidenschaften erreicht haben, in deren Dienst die Führer der äußersten Linken die Hoffnungen der Bauern stellen, ganz ausgeschlossen: es ist dazu, wie zu so vielem, dank der Politik der letzten 20 Jahre, »zu spät« geworden. Und bei allem Respekt vor den intellektuellen Fähigkeiten der Bauern – von denen auch antidemokratische russische Beobachter einen für sie offenbar überraschenden Eindruck gewonnen haben – wäre es eben doch eine verhängnisvolle Selbsttäuschung, ihnen heute die Fähigkeit zuzutrauen, selbst eine große Agrarreform zu machen. Ein genialer Parvenü wie NAPOLEON oder ein Bürger wie WASHINGTON könnten, im sicheren Besitz der militärischen Gewalt und vom Vertrauen der Nation getragen, vielleicht ein neues Rußland auf kleinbäuerlicher Basis aus dem Boden stampfen, – legitime Monarchien sind dazu ebenso wenig imstande, wie voraussichtlich eine mühsam nach rechts und links um ihre Existenz kämpfende blutjunge parlamentarische Körperschaft.
Würde die Agrarreform in der Art, wie die k.-d. Partei sie vorschlägt, auch nur teilweise durchgeführt, so wäre – wie ich schon an früherer Stelle6 ausführte – eine mächtige Steigerung des auf »kommunistischer« Grundlage ruhenden »naturrechtlichen« Geistes und eine auf längere Zeit hinaus höchst eigenartige, politische, soziale[94] und geistige Physiognomie Rußlands die wahrscheinliche Folge, etwas wirklich »noch nicht Dagewesenes«, – aber was? das scheint unmöglich im voraus zu deuten. Ein starker ökonomischer Kollaps aber auf die Dauer von 1-2 Jahrzehnten, bis dieses »neue« kleinbürgerliche Rußland wieder vom Kapitalismus durchtränkt wäre, scheint ganz sicher: man hat hier zwischen »materiellen« und »ethischen« Zielen zu wählen.
Schon wesentlich anders würde eine Enteignungsaktion unter Beschränkung auf das schon faktisch im Besitz von Bauern befindliche Pachtland wirken, etwa in der Form der obrigkeitlichen Pachtregulierung für das am 1. Januar 1896 verpachtete Land, dann der Pachtablösung und Überweisung an die Gemeinden oder (wie schon jetzt bei der Bauernbank) freigebildete Genossenschaften von Bauern, eine Verbindung also einer »Regulierungsgesetzgebung« mit der Arbeit der Bauernbank. Sie fügte sich ökonomisch durchaus ebenso und noch sehr viel leichter in das Fachwerk der »heutigen Gesellschaftsordnung« ein als etwa die irische Landgesetzgebung; aber sie würde eben – wie das starke Überwiegen des individuellen und frei-genossenschaftlichen Landaufkaufs über den gemeindlichen bei der Bauernbank zeigt – auf »ökonomischer Auslese« ruhen, deshalb dem naturrechtlichethischen, von den Sozialrevolutionären herrührenden Charakter, der – wenn auch verdünnt – auch dem Agrarprogramm der »Kadetten« zugrunde liegt, strikt zuwiderlaufen und daher von ihnen, erst recht aber von der Masse der Bauern und ihren Ideologen in der radikalen Intelligenz abgelehnt werden. Tatsächlich wäre eine solche Agrarpolitik – auch wenn man die skizzierte Maßregel ferner auf alles am 1. Januar 1906 nur mit Bauerninventar bearbeitete Gutsland erstreckte, in Form etwa der gesetzlichen Umgestaltung des Arbeitsverhältnisses zunächst in ein Arbeiterpachtverhältnis mit amtlich fixierten Gebührnissen, welches weiterhin abgelöst werden könnte – ebenso »konservativ« wie der »Kadetten«-Gedanke der systematischen Versorgung der Landlosen und Landarmen als solcher mit Minimalland dem Wesen nach sozialrevolutionär ist (und auch sein will). – Allein vielleicht wird keiner von beiden Wegen beschritten, und der russische Bauer hat seinen Kalvariengang in Qual und Zorn weiter zu gehen, bis teils der moderne Agrarkapitalismus, teils der moderne, an die gewerblichen Märkte sich anschmiegende Kleinbauernbetrieb auf erblich eigener Scholle auch in Rußland endgültig gesiegt hat und damit die letzte Zufluchtsstätte des Kommunismus[95] und des ihm entsteigenden bäuerlichen revolutionären Naturrechts in Europa endgültig verschüttet ist. Die Politik derjenigen jedenfalls, welche heute die physische Macht in Händen haben, bewegt sich in dieser Richtung, trotz starker Konzessionen an die Gedankenkreise des Narodnitschestwo. –
Nicht zu verkennen war die nicht überall straffe Organisation aller rechts von den »Kadetten« stehenden Gruppen, ihre geringere »Technik« in der Wahlagitation und das geringere Maß von agitatorisch begabten und zugleich wissenschaftlich gebildeten, rücksichtslos opferfähigen Kräften. Die geistigen Kosten der Agitation des »Bundes des 17. Oktober« haben zu einem sehr erheblichen Teil Dr. PILJENKO, die der progressiv-ökonomischen Partei Prof. OSEROW allein bestritten, die vornehmen Politiker des »Zentrums«, wie SCHIPOW, hielten sich zurück, und vollends die Handels- und Industriepartei und die Rechtsordnungspartei glaubten, auf die soziale und ökonomische Machtstellung ihrer Mitglieder, die Rechte auf ihre nationalistisch-antisemitische Demagogie sich verlassen zu können. Gleichwohl mußte ihre Lage im Wahlkampf den äußeren Anzeichen nach als günstig gelten gegenüber den endlosen Hemmungen, mit denen die Demokratie zu kämpfen hatte und die so stark waren, daß das Zentralkomitee der »Kadetten« noch unmittelbar vor den Wahlen in Erwägungen darüber eintrat, ob nicht angesichts derselben der Boykott der Duma für sie rätlicher sei.
Schwerer als alle Hemmungen von seiten der Verwaltungsbehörden schien nun aber gegen die Demokratie und zugunsten der Mittelparteien und Konservativen der Umschwung in der Stimmung derjenigen Kreise ins Gewicht fallen zu müssen, welche durch das Wahlgesetz besonders begünstigt waren: der privaten Grundbesitzer.
Nach Niederwerfung des Moskauer Aufstandes und unter dem Eindruck der Bauernunruhen begann die Reaktion, aus der Sphäre der Bürokratie in die »Gesellschaft«, d.h. in erster Linie in die Semstwos einzudringen. Es versteht sich, daß hierbei die Bauernunru hen und die schwere Bedrohung der ökonomischen Unterlagen des privaten Grundbesitzes, dessen Vertreter ja die besten Köpfe des Semstwoliberalismus stellten, die ausschlaggebende Rolle spielten. Der Vorgang ist ein gutes Beispiel für die Bedingungen ideologischer Arbeit seitens einer besitzenden Klasse und für das Maß von Tragfähigkeit[96] humanitärer Ideale gegenüber den ökonomischen Interessen. Solange die ökonomische Unterlage der in den Semstwos herrschenden Grundbesitzer im wesentlichen unerschüttert stand, fügten sie sich der Führung der zahlreichen, aus ihrer Mitte hervorgegangenen politischen und sozialen Ideologen. Nun aber drohte ihr unmittelbar physischer und ökonomischer Untergang, die ganze Wucht der latent gebliebenen Interessengegensätze stürmte auf sie ein, und es konnte nicht ausbleiben, daß, aus ihrem Alltagsdasein herausgerissen und an die materiellen Grundlagen der eigenen Position empfindlich erinnert, sie ihre Stellung nicht unerheblich modifizierten.
Nachdem nun Mitte Januar die Flut im wesentlichen abgelaufen war, zeigte sich die veränderte Stimmung der von ihr Betroffenen: der Wirkungsspielraum für die Ideologen hatte sich bedeutend verengt. Diejenigen Kreise des Adels und der privaten Großgrundbesitzer, welche sich bis dahin entweder der Führung der fortgeschrittenen Liberalen untergeordnet oder sich einfach der politischen Betätigung enthalten hatten, begannen die Semstwoversammlungen des Januar zu überfluten und, während infolge jener Zurückhaltung der »Gemäßigten« die von GUTSCHKOW geführte Minderheit auf dem Oktoberkongreß geradezu verschwindend gewesen war – 15 bis 20 Köpfe –, gingen die materiellen »Klasseninteressen« jetzt auf der ganzen Linie zur Offensive über.
Es hätte »a priori« scheinen müssen, als würde [im Reichsrat] die Einigung der Regierung mit den rechtlich oder faktisch privilegierten Klassen, insbesondere also, da der Adel eine allzu dünne Basis geboten hätte, mit den Kreisen des »gemäßigteren« Semstwo-Konstitutionalismus, für die erstere der gewiesene Weg und auch leicht durchzuführen gewesen sein. Allein dem war keineswegs so. Wie bei den Semstwos – das angeführte Beispiel von Moskau zeigt es – die Furcht vor der Revolution doch durch das Mißtrauen gegen die Regierung im entscheidenden Moment überwogen wurde, ebenso bei der Regierung der Wunsch nach einer Stütze gegen die Revolution durch den alten Haß gegen die Semstwos. Wirklich weitgehende Opfer an ihrer arbiträren administrativen Gewalt zu bringen – das absolute und erste Erfordernis einer Verständigung mit den besitzenden Klassen –, war die Bürokratie eben schlechthin nicht bereit.[97]
Die leidenschaftliche Eifersucht gegen die Semstwos, die sich in der Zeit des Krieges in dem geradezu unglaublichen Verhalten des »Roten Kreuzes« zu den von den Semstwos für dessen Zwecke zur Verfügung gestellten Organisationen zeigte, blieb die alte. Die zugunsten der Hungerbezirke geschaffene, rein karitative gemeinsame Semstwo-Organisation z.B. wurde auch jetzt wieder ganz ebenso kleinlich schikaniert, überwacht, gehindert, wie alle anderen aus Semstwokreisen hervorgehenden karitativen Aktionen, seien es auch bloße Freitische: sie unterlagen trotz der schreienden Not massenhaft dem Verbot. Anstatt dem »Klasseninteresse« der besitzenden Schichten, welches, wie wir sahen, immerhin prompt genug im »staatserhaltenden« Sinn funktionierte, die Repression gegen das »dritte Element« zu überlassen, drängte sich die Verwaltung der Gouverneure und Generalgouverneure more solito überall ein in einer schon durch die brüske Form das Selbstgefühl der Semstwos schwer verletzenden Weise; sie konnte sich eben schlechterdings an den Gedanken, überhaupt etwas von ihrer Allmacht, es sei zu wessen Gunsten immer, preiszugeben, nicht gewöhnen. Die Antwort der Gegenseite blieb nicht aus. Die von WITTE Ende Oktober angebotenen Portefeuilles hatten auch die gemäßigtsten Semstwomitglieder (SCHIPOW) abgelehnt, weil ein Zusammenarbeiten mit TREPOW oder DURNOWO für sie undenkbar war. Im Januar verschickte WITTE ein Rundschreiben an die Semstwos mit der Einladung, ihm zu seiner regelmäßigen Beratung in politischen Fragen geeignete Vertrauensleute aus ihrer Mitte zu senden. Die Semstwos lehnten fast sämtlich ab, und WITTE blieb nichts übrig, als nach einiger Zeit offiziös erklären zu lassen, die beabsichtigten Beratungen hätten sich als »überflüssig« erwiesen. Beide Teile konnten, wie sie waren, nicht zusammenkommen, und da die WITTEsche ökonomisch liberale Bürokratie ihre intimsten Freunde, die Unternehmer-Bourgeoisie, durch die Art der Gestaltung des Wahlrechts und der Vertretung im Reichsrat zur Bedeutungslosigkeit verurteilt, auch ihren charaktervollsten Vertrauensmann im Ministerium, TIMIRJASJEW, in schnödester Weise behandelt hatte und endlich immer wieder sich der Neigung zur »Subátowschtschina« verdächtig machte, so waren für sie auch diese Kreise politisch nicht fruktifizierbar.
Unter solchen Verhältnissen begannen die Dumawahlen. Die ersten Wahlergebnisse liefen vom 21. Februar an ein und zeigten zunächst allgemeine Apathie und anscheinend vollkommen zufällige Resultate.[98] Aber schon mit der ersten und zweiten Märzwoche ergaben zahlreiche Wahlen in den Landstädten Siege der demokratischen Wahlmännerlisten. Mit großer Spannung sah man daher den Wahlmännerwahlen in Petersburg (20. März) und Moskau (26. März) entgegen. In beiden Städten hatte der »Bund des 17. Oktober« sich mit den anderen konstitutionell-monarchischen Parteien geeinigt, auch die Bürokratie trat für seine Liste ein, und man erwartete ihren Sieg mindestens in der Mehrzahl der städtischen Wahldistrikte. Allein zur Überraschung von Freund und Feind siegte in beiden Hauptstädten die konstitutionelle Demokratie in ausnahmslos allen Distrikten, selbst in den von der Bürokratie, den Banken und der reichen Rentnerklasse okkupierten, mit ganz unerwarteten Majoritäten (2/3 bis 3/4) bei einer ebenfalls, angesichts des »Boykottes« unerwartet starken Wahlbeteiligung. Es folgten Kiew, ein Hauptzentrum rücksichtslosester monarchistischer Agitation, und alle selbständig wählenden Städte des europäischen Rußlands (außer Polen) nacheinander. Die Wahlbeteiligung zeigte, daß die Boykottparole der äußersten Linken von der Mehrzahl der als Quartierinhaber wahlberechtigten Arbeiterschaft, auch von den vielfach ausschlaggebenden Juden und dem radikalen Kleinbürgertum, meist einfach nicht befolgt worden war. Daß Massen sozialdemokratischer Wähler für den Demokraten gestimmt hatten, ist nicht nur direkt bezeugt, sondern ergab sich auch, als unter dem Eindruck dieser Wahlergebnisse die Sozialdemokratie den Boykott aufgab und bei den nachher noch stattfindenden Wahlen eigene Kandidaten aufstellte; in Tiflis unterlag alsbald die Demokratie der sozialistischen Liste, die 9/10 aller ihrer Wahlmänner durchsetzte. Es zeigt dies zugleich, daß der demokratische Wahlsieg auf nicht sehr festen Füßen steht: im Fall starker Wahlbeteiligung der äußersten Linken würde in einem sehr großen Teil der großen Städte diese der Demokratie wahrscheinlich so stark Abbruch tun, daß – wie bei uns – die Waagschale nur noch zwischen Sozialisten und bürgerlichen Klassenparteien schwanken, die ideologische Demokratie aber ausgeschaltet werden würde.
Nicht minder zeigte sich sehr bald, daß mit zunehmender Wahlagitation die Boykottparole auch auf dem Lande vollkommen ins Wasser fiel. Denn die vielfach erbärmlich schlechte Wahlbeteiligung der kleinen Privatgrundbesitzer ist nicht auf sie zurückzuführen. Die Bauern aber boykottierten nur ganz vereinzelt, im Beginn der Wahlbewegung. Die Demokratie gewann auch hier in der überwiegenden[99] Mehrheit der groß- und kleinrussischen, baltischen und kaukasischen Gouvernements das entschiedenste Übergewicht, in den Neusiedlungsgebieten des Südostens und in Teilen der schwarzen Erde siegte die äußerste Linke. Fast überall waren es hier die Bauern, welche gegen die »gemäßigten« Kandidaten, entschieden und unerwarteterweise, mit den »Städtern« gemeinsame Sache machten.
So sah sich die Regierung in allen ihren Erwartungen hinsichtlich des Ausfalles der Wahlen und der Haltung der Bauern enttäuscht und – das ließ sich schon Ende März übersehen – einer überwältigenden Mehrheit schlechthin antibürokratischer und sozial wie politisch gleich radikaler Elemente gegenübergestellt. Das erste, was sie unter diesem Eindruck tat, war die schleunige Aufnahme einer »Kriegsanleihe« gegen den »inneren Feind« zu denjenigen Bedingungen, die ihr von den Banken diktiert wurden. Diese hatten nun das Spiel in der Hand. Sie hatten zuerst beharrlich die Einberufung der Duma gefordert, nun, da diese bevorstand, hatten auch sie das dringendste Interesse daran, die Anleihe vor ihrem Zusammentritt unter Dach zu bringen; denn daß die Duma ihnen die Bedingungen, zu denen die hilflos in ihre Hände gegebene Regierung abzuschließen geneigt war, niemals konzedieren würde, stand fest, und ein Zusammenbruch der Bürokratie oder ihre Unterwerfung unter die Duma mußte alle Russenfonds alsbald unabsehbaren Schicksalen aussetzen und das Geschäft gründlich verderben. Die finanzielle Lage der Regierung aber war derart, daß sie sich entweder der Duma oder den Banken unterwerfen mußte und, das letztere vorziehend, auf schlechthin jede Bedingung einging: trotz eines zeitweise 9% betragenden, Ende Januar jeden Augenblick zum Sprung auf 10% bereiten Diskontes sank der Barvorrat der Bank, der Steuerboykott der Bauern war immerhin fühlbar, gewaltige Verschiebungen im Etat – durch Erhöhung der Bezüge der Eisenbahn-und Postbediensteten, Besserung der Armeeverpflegung, Donative an die Kosaken, Umgarnisonierungen, erhöhte Polizeikosten, hohen »Verpflegungs«-Etat gegen die Hungersnot, durch Erlaß der Loskaufgelder, endlich durch die direkten Verluste an Staatseigentum und Steuerkraft – waren teils schon in Gestalt des vorjährigen Defizits verrechnet, teils standen sie noch bevor. Mit kurzfristigen Schatzwechseln war nicht weiter zu wirtschaften. So nahm man denn Bedingungen an, welche[100] in fast groteskem Kontrast zu den Kursen standen, welche – zufolge einer allerdings geradezu bewundernswürdigen Taktik in der Behandlung der Börsen durch die großen Finanzinstitute – die russischen Fonds selbst in den ungünstigsten Augenblicken des japanischen Krieges gehabt hatten, und zu den härtesten gehören, die Rußland oder überhaupt eine bisher »unbescholtene« Großmacht sich je hat gefallen lassen. Immerhin: die Anleihe war »im Hafen« und Graf WITTE daher ein vorerst entbehrlicher Mann, ja, da er das ganze Odium der Wirtschaft des Ministers des Innern mitzutragen hatte, mußte auch den fremden Banken es eher bedenklich scheinen, ihn mit dieser Duma in Berührung kommen zu sehen, und daher genügte der erste Anlaß – welcher Art er war, ist vorerst wohl schwerlich eindeutig feststellbar –, um ihn und sein Kabinett ehr- und ruhmlos verschwinden zu lassen und ein Assortiment von korrekten, auch gegenüber der »Gesellschaft« noch wenig »kompromittierten« konservativen Beamten an die Stelle zu setzen.
Der Tag der [Duma-]Eröffnung kam, und unter dem mit Feierlichkeit überladenen Gepränge des höfischen Aufzuges stieg der Zar »unsicheren Schrittes« (nach Zeitungsangaben) die Stufen zum Thron hinauf und verlas seine gänzlich inhaltsleere »Begrüßung«; die allseitig sicher erwartete »Thronrede« soll angeblich unter »unverantwortlichen« Einflüssen zurückgelegt worden sein, wahrscheinlich aber einfach deswegen, – weil man sich keines Rates wußte und nicht einigen konnte, was sie enthalten solle. Den stärksten – negativen – Effekt erzielte die Ansprache dadurch, daß in ihr mit keinem Wort von der in allen Gefängnissen des Landes und in all jenen Zehntausenden von Dörfern, in denen Verschickungen und Verhaftungen vollzogen worden waren, erwarteten Amnestie als einem Symbol, daß es mit der Praxis der ohne Rechtspruch erfolgenden Bestrafung ein Ende haben werde, die Rede war, – nachdem die Regierung soeben wohl oder übel eine Anzahl Verschickter aus Sibirien und Archangelsk hatte zurücktransportieren lassen müssen, weil sie in die Duma gewählt waren. Ein seinerzeit abgesetzter Professor (MUROMZEW) wurde zum Präsidenten, ein soeben verschickter, aus dem Zwangsdomizil in Archangelsk in die Duma gewählter Professor (GREDESKUL) zum Vizepräsidenten der Duma gewählt. Augenblicklich und außerhalb der Geschäftsordnung rollte einer der Veteranen der Befreiungsbewegung, der gewesene Präsident des »Befreiungsbundes« bei seiner konspirativen Konstituierung im deutschen[101] Schwarzwald, PETRUNKJEWITSCH, unter stürmischen Kundgebungen die Amnestieforderung auf. Und nun begann das eigentümliche Schauspiel: keiner von beiden Teilen glaubte, daß etwas anderes als »Pulver und Blei« das Ende vom Liede sein werde. Der offizielle »Prawitjelstwjennyj Wjestnik« hatte die Begrüßungsansprache des Kaisers gebracht. Aber die Existenz der Duma ignorierte er fortan: er schien im Zweifel zu sein, meinte die Petersburger Presse, ob er sie als eine staatliche Institution oder nicht vielmehr als einen revolutionären Klub anzusehen habe. Ebenso die »Spitzen« des bisherigen Rußland. MUROMZEW war, ehe die Sitzungen begannen, der Vorschrift des Gesetzes gemäß vom Zaren empfangen und brachte »gute Eindrücke« mit zurück. Als nun in der stürmischen Amnestiedebatte sich der ganze aufgespeicherte Zorn – übrigens in maßvollen Formen – entlud und die nach Form und Inhalt scharfe Antwortadresse angenommen worden war, hatte MUROMZEW wiederum zum Geburtstag des Zaren bei Hofe zu erscheinen. Mit ausgesuchter Höflichkeit auf einen Ehrenplatz gesetzt, wurde er von niemandem, der etwas zu sagen gehabt hätte, angesprochen. Die persönliche Entgegennahme der Adresse lehnte der Zar ab und ersuchte, die Adresse an den Hofminister zu senden, – sicherlich ein Vorgang, der im Lande bei den Bauern, welche ja am einmütigsten »direkten Verkehr« ihrer Vertreter mit dem Zaren verlangen, den tiefsten Eindruck machen mußte, – wie denn überhaupt die Zerbröckelung der Zarenromantik bei der Masse der Bauern wohl das bleibendste Ergebnis all dieser Vorgänge bleiben wird.
Aber nicht nur äußerlich blieben die Ministerbänke in der Duma 16 Tage lang leer, sondern bis Ende Mai hatte die Regierung, welche seit Dezember die Hinausschiebung der Einberufung stets u.a. auch mit der Notwendigkeit begründet hatte, ihr »vorbereitet« gegenüberzutreten, noch nicht einen einzigen sachlichen Gesetzentwurf bei ihr eingebracht. Ihre ganze Tätigkeit bestand bis dahin in der Beantwortung der Adresse. Diese Adresse, welche die Duma nach langen Beratungen einstimmig – Graf HEYDEN hatte erklärt, daß er und seine Anhänger, da sie nur mit der Fassung der Adresse nicht einverstanden seien und die Einstimmigkeit nicht zu gefährden wünschten, den Saal verlassen würden – annahm, hatte als Programmpunkte enthalten: die »viergliedrige« Wahlrechtsformel, Beseitigung der den Zaren vom Volk trennenden Willkür der[102] Beamten durch parlamentarische Kontrolle der Exekutive, Verantwortlichkeit der Minister, parlamentarisches Regime, Beseitigung des Reichsrates, Persönlichkeitsgarantien, Freiheit des Wortes, der Presse, der Vereine, Versammlungen und Streiks, Petitionsrecht, Gleichheit aller vor dem Gesetz, Abschaffung der Todesstrafe, Bodenenteignung zur Landausstattung der Bauern, Arbeitergesetzgebung, unentgeltliche Volksschule, Steuerreform, Umgestaltung der Selbstverwaltung »auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts«, Gerechtigkeit und Recht in der Armee, »Kulturselbständigkeit« der Nationalitäten, Amnestie für alle religiösen, politischen und Agrarverbrechen. – Die Antwort sagte zu: Änderung des Wahlrechts, jedoch nicht schon jetzt, wo die Duma eben erst zu arbeiten beginne, Arbeitergesetzgebung, allgemeine Volksschule, gerechtere Steuerverteilung, insbesondere Einkommensteuer und Erbschaftssteuer, Reform der Selbstverwaltung unter Berücksichtigung der Eigenart der Grenzländer, Persönlichkeits- und Freiheitsgarantie, jedoch unter Erhaltung »wirksamer« Mittel gegen »Mißbrauch« der Freiheiten, gerichtliche Verantwortlichkeit der Beamten, Abschaffung der Inlandspässe, Aufhebung der ständischen Sonderstellung der Bauern und Mittel für ihre Landausstattung durch die Bauernbank und ferner aus Staatsdomänen und durch Umsiedlung, jedoch unter Ablehnung jeder Expropriation; – alle anderen Forderungen wurden mehr oder minder bestimmt abgelehnt, insbesondere die Amnestie; es wurde nur »sorgsame Prüfung« der Verhältnisse der noch nicht unter Anklage gestellten Inhaftierten zugesagt.
Auf eine Schilderung der sachlichen Verhandlungen der Duma hier einzugehen, hat keinen Zweck, da sie ja in das Nichts ausgemündet sind. Sie sind – nachdem sie gegenüber der Obstruktion der Regierung endlich beginnen konnten – mit einer Intensität gefördert worden, wie nur in irgendeinem Parlament der Welt. Denn die eigentliche Arbeit ist natürlich auch hier nicht im Plenum, über welches die Presse allein berichtete, sondern in den Kommissionen geleistet worden. Ein Blick in die Wochenzettel der Kommissionssitzungen zeigt, in welchem Grade die Deputierten hier, hinter den Kulissen, in Anspruch genommen waren. Alle von den Dumadeputierten eingebrachten Entwürfe standen Anfang Juli dicht vor der Fertigstellung, das Agrarprojekt war, nachdem im Plenum 14 Tage[103] lang weit über 100 Mitglieder gesprochen, dann die 91gliedrige Kommission mit zahlreichen Subkom missionen 4 Wochen lang gearbeitet hatten, so weit gelangt, daß die Grundlinien, auf welche sich eine große Mehrheit einigen wollte, fast durchweg feststanden: sie entsprachen fast ganz denjenigen des k.-d. Projekts. Nicht daß die Duma zuwenig zustande zu bringen versprach, sondern daß sie zuviel, der Regierung durchweg inhaltlich unbequeme Ergebnisse in Aussicht stellte, war es, woran die Hofkreise Anstoß nahmen. Man versuchte, sie nun in eine schiefe Lage zu manöverieren, indem man ihr das Projekt einer 50-Millionen-Anleihe für die Linderung der schweren in Aussicht stehenden Mißernte vorlegte. Allein die Duma bewilligte 15 Millionen für jetzt und behielt sich weitere Bewilligungen vor, bestimmte aber, daß der Betrag aus Ersparnissen zu gewinnen sei, da das – übrigens beispiellos undurchsichtige – Finanzexposé KOKOWZEWS den Beweis für die Notwendigkeit einer Anleihe nicht geliefert habe. Da die Reichsratsmehrheit unter Führung der »Zentrums«-Gruppe – nachdem charakteristischerweise der Antrag SSAMARINS auf namentliche Abstimmung abgelehnt war – dieser Ansicht beitrat, bedeutete das eine schwere Niederlage des Ministeriums. Seine Lage wurde zunehmend schwieriger: es blieb nur Auflösung oder Unterwerfung.
Taktisch schien nun der Moment zur Auflösung, auf die niemand vorbereitet war, infolge der Spaltung der Duma und der Isolierung der »Kadetten« günstig, und die Regierung griff zu.
Die Auflösung der Duma und die Vertagung des Reichsrats (mit Ausnahme der beiden rein bürokratischen Departements) bis zu ihrem Wiederzusammentritt erfolgte unter unmittelbar nachfolgender Bekanntgabe eines kaiserlichen »Manifestes«, welches als eine selbst für russische Verhältnisse erstaunliche Leistung bezeichnet werden muß. Es wird darin zunächst behauptet, daß die Duma, »anstatt auf dem Gebiete der Gesetzgebung zu schaffen«, sich vom Bereich ihrer Zuständigkeit entfernt habe, indem sie sich mit der Untersuchung der Handlungen der »auf unsere Anweisung eingesetzten Lokalbehörden« und ferner mit der Unvollkommenheit der »nur durch unsern kaiserlichen Willen abänderbaren Grundgesetze« beschäftigte. Die letztere Behauptung steht einfach in der Luft, da die Duma keinerlei Versuch gemacht hat, die dem Kaiser vorbehaltene[104] Initiative an sich zu reißen. Das Recht der Interpellation wegen Ungesetzlichkeiten der Behörden steht ihr verfassungsmäßig zu, und was die schöpferische Arbeit auf dem Gebiete der Gesetzgebung anlangt, so hat, da es nicht auf die Reden im Plenum, sondern auf die Tätigkeit der Kommissionen ankommt, bisher kein Parlament der Welt – das sei nochmals wiederholt – mehr Arbeit geleistet als das russische, – nur eben nicht in einem Sinne, der dem Zaren genehm war. Sehr schwer dürfte es endlich sein, angesichts der verdächtigen und pompösen Wendung: »Wir werden Ungehorsamen unsern kaiserlichen Willen aufzwingen«, einen adäquaten Ausdruck für die Charakterisierung des Schlußpassus zu finden: Der Eingang des »Manifests« bemerkt mit jener unaufrichtigen religiösen Salbung, welche heute die widerliche Zutat aller monarchischen Kundgebungen geworden ist, daß der Kaiser »fest auf die göttliche Gnade vertraut« habe, fügt jedoch alsbald hinzu, daß er »in seinen Erwartungen durch eine grausame Prüfung enttäuscht« worden sei, und der Schluß ergibt, daß er nunmehr sein Vertrauen auf Menschen zu setzen entschlossen ist: »Wir glauben (!), daß Helden des Gedankens und der Tat erscheinen werden und daß, dank ihrer selbstverleugnenden Arbeit, der Ruhm Rußlands erstrahlen wird« Allein selbst wenn ein solches Eingeständnis der eigenen Impotenz jene irgendwo im Hintergrund vermuteten »Helden« soweit erbarmen könnte, daß sie aus ihrer Verborgenheit heraus sich zeigten, – in dem Polizeisystem dieses Regimes wäre für sie ja doch kein Platz, es sei denn, daß Individuen wie der Exminister DURNOWO oder der General TREPOW oder der gleichzeitig mit dieser Kundgebung zum Premierminister avancierte Minister des Innern STOLYPIN, dem Redakteur des Manifests als derartige »Helden« galten. Allein von ihnen gilt doch höchstens das Wort, daß »mit dem Säbel jeder Dummkopf regieren kann«.
Vor der Hand kann – da die Vorbereitungen noch nicht getroffen sind – alles ruhig bleiben, es sei denn, daß die Masse den Führern, wie letzten Spätherbst, aus der Hand gleitet. Der Kurssturz der Anleihen ist nicht sehr stark: die Banken können nur mit dem absoluten Regime »Geschäfte« machen und müssen nunmehr ihre Bestände abstoßen; der Kurs wird dementsprechend »stilisiert« werden. Wer sich dadurch oder durch ein mittels Vergewaltigung und Fälschung erpreßtes, gefügiges Parlament täuschen läßt, – dem ist nicht zu helfen. Es erscheint vor der Hand durchaus ausgeschlossen, daß – dies[105] dürften die Darlegungen dieser Chronik doch wohl erkennen lassen – dieses Regime irgendeinen Weg zu wirklich dauernder »Beruhigung« des Landes findet: es müßte sich selbst am Schopfe aus dem Sumpf ziehen können – und wollen. Und sehen wir von den »taktischen« Fragen einmal ab, so kann der nachhaltige Effekt des Vorgehens der Regierung nur eine weitere Entwertung des Zaren bei der Bauernschaft sein, sollte diese Wirkung vielleicht auch durch die zu erwartende Wahlfälschung für die nächste Zeit daran verhindert werden, sichtbar in die Erscheinung zu treten. –
Hiermit hat diese Chronik abzubrechen. Sie vermochte den intimeren Zusammenhängen der letzten Ereignisse, namentlich den bei Hofe sich bekämpfenden Anschauungen, nur in sehr rohen Umrissen nachzugehen, – auch in Rußland selbst ist man darüber nur unvollkommen unterrichtet. Aber es war hier auch nicht die Absicht, so etwas wie eine »Geschichte« des letzten Halbjahres zu liefern, – hier war es die Aufgabe, die allgemeine gesellschaftliche und politische Situation, in welche der Polizeiabsolutismus der nicht rechtzeitig abgelehnten politischen Erbschaft ALEXANDERS III. und, neuestens, die Arbeit des WITTEschen Interimsministeriums das Land geführt hat und aus der es sich nun zunächst – wer könnte sagen wie? – herauszufinden hat, zu veranschaulichen, soweit dies nach den hier zur Verfügung stehenden Quellen möglich ist. Prophezeiungen, auch nur für die nächsten Monate, scheinen mir ganz unmöglich, auch von seiten der bestinformierten Politiker in Rußland selbst werden sie nicht gewagt. Das läßt sich heute sagen: die fast unvermeidliche Neigung und Nötigung moderner dynastischer Regimes, auf Prestige auch nach innen zu arbeiten, ihr »Gesicht zu wahren«, hatte in Rußland die Regierung dazu geführt, nicht rechtzeitig zu geben, was sie geben mußte, und als dann eine Konzession nach der anderen ertrotzt war, suchte und sucht man das verlorene »Prestige« durch schonungslose Polizeiwillkür wieder herzustellen. Eben dies Bewußtsein aber, daß es der Kitzel dieser Eitelkeit ist, dem die Opfer geschlachtet werden, führte dazu, daß die wilde und wüste Form, in welcher die Linke in der Duma die Minister beschimpfte und von ihren Plätzen jagte, keinen schärferen Widerspruch seitens derjenigen Parteien, die an der »parlamentarischen Lösung« festhielten, hervorrief. Es ist nicht abzusehen, durch welche Konzessionen von seiten der Regierung überhaupt noch der Duma, angesichts ihrer durch das Verhalten der Regierung zu roter Wut gereizten Wähler, hätte ermöglicht werden[106] können, sich auf irgendein Programm hin mit ihr zu einigen. Es ist nicht abzusehen, mit welchen Elementen in dem von der Bürokratie geschaffenen Flugsand überhaupt in zivilisierten Formen regiert werden könnte. Wir haben uns überzeugt, daß die schroffe Zuspitzung der Klassengegensätze jedem Versuch, sich auf den »Besitz« zu stützen, reaktionäres Gepräge geben muß.
Es ist bei uns die lächerliche Sitte in Schwung, bei solchen fürchterlichen Geburtswehen, wie sie Rußland jetzt durchmacht, nach jemandem zu suchen, der »schuld« ist, – und da »natürlich« der Monarch und seine nächsten Diener dafür nicht in Betracht kommen und die – so äußerst billige – »Kritik« des Parlamentarismus Mode ist, so muß es in den Augen des deutschen Philisters ja wohl die Duma sein. Sie sei »politisch unfähig« gewesen und habe nichts »Positives« geleistet, sagt man, und fügt zur Erfrischung des deutschen Lesers hinzu: die russische Nation überhaupt sei nicht »reif« zum konstitutionellen Regime. Nun, – man fragt sich zunächst: wofür denn jene Leute auf und neben dem Thron »reif« sind, welche das Land in diese Lage gebracht haben? –
Neun lange Monate hat das bestehende Regime nichts getan, als mit wahrhaft mongolischer Tücke den »Rechten«, die es gewährte, hinterrücks ein Bein zu stellen. Erst gegen Mitte Juni (alten Stils) kamen die ersten wirklichen bescheidenen Reformvorschläge, sämtlich die Spuren ihrer Herkunft aus den Gedankenkreisen des Semstwoliberalismus an der Stirn tragend: der Gesetzentwurf über die Friedensgerichte war der Annahme, die Agrarentwürfe waren der ernstesten sachlichen Beratung sicher. Aber das Entscheidende hatte die Regierung nicht getan: die Garantie gegen die absolute Polizeiwillkür (Beseitigung der administrativen Inhaftierung und Verschickung, Verantwortlichkeit ausnahmslos aller Beamter vor unabhängigen Gerichten) gewährte sie nicht, und ohne dies fand sie keinerlei Kreise der Bevölkerung, auf die sie sich stützen konnte. Die Auflösung der Duma aber wird nur dann zu einem ihr günstigen Ergebnis führen, wenn sie – wie allerdings wahrscheinlich – entschlossen ist, die Wahlen in aller Form zu fälschen. Sie beruft sich für das wahnwitzige Willkürregiment der Polizei auf die Taten der Terroristen. Allein es läßt sich ja einfach statistisch ersehen, daß die Verhängung des Kriegszustandes, d.h. der Rechtlosigkeit, diese gesteigert und ihnen Sympathie verschafft hat. Wie eine Revolution von unten nicht ohne Mithilfe oder Duldung des Bürgertums, so ist[107] ohne eine Stütze an ihm auch eine Eindämmung der Gewalttaten von oben nicht möglich. An die Regierung wendete sich in diesem Falle der bekannte Spruch: »Que messieurs les assassins commencent!« Statt dessen rechnet sie offenbar lediglich auf die Erfahrung, daß allerdings gemeinhin »die Maschine« – in diesem Falle der bürokratische Mechanismus – »nicht ermüdet«, während dies auch dem wildesten Enthusiasmus irgendwann zu widerfahren pflegt. Aber es steht nicht fest, ob die unbeugsame Energie des russischen Radikalismus, zumal nachdem die Kader der sozialdemokratischen und sozialrevolutionären Organisationen einmal geschaffen sind, gegenüber dem heutigen oder einem ihm gleichartigen Regime jemals für mehr als nur kurze Pausen erschlaffen wird, – und sicher geschieht das nicht vor dem völligen ökonomischen Ruin des Landes. –
Der russische Freiheitskampf zeigt – das ist richtig – für das übliche Urteil wenig »große« unmittelbar zum »Pathos« des unbeteiligten Beschauers sprechen de Züge. Das folgt zunächst aus dem Umstand, daß, mit Ausnahme des schwer verständlichen Agrarprogramms, die Forderungen, um die es sich handelt, zu einem großen Teil für uns im Westen den Reiz des Neuen längst verloren haben: sie scheinen der Originalität zu entbehren, die sie zu CROMWELLS und MIRABEAUS Zeiten hatten, und entbehren ihrer, soweit sie rein politischen Inhalts sind, auch wirklich. Sie sind uns (meist!) trivial, – wie das tägliche Brot es ist. Dazu tritt ein anderes: es fehlen auf beiden Seiten die wirklich »großen Führer«, an die sich ein pathetisches Interesse Fernstehender heften könnte; denn ein noch so ausgezeichneter politischer Publizist oder sozialpolitischer Sachverständiger, an denen wahrlich kein Mangel ist, ist ebensowenig ein politischer »Führer«, wie der mutigste »praktische« Revolutionär ein solcher ist. Das alles erzeugt leicht den Eindruck des Epigonenhaften: alle Gedanken, die hier, von allen verschiedenen beteiligten Seiten, erörtert werden, sind nicht nur der Sache nach, sondern expressis verbis »Kollektivprodukte«. Und das Auge des Zuschauers, zumal dasjenige politisch und ökonomisch »satter« Völker, ist nicht gewohnt und, von der Ferne aus, auch nicht in der Lage, durch den Schleier aller dieser Programme und Kollektivaktionen hindurch bei solchen Massen das mächtige Pathos der Einzelschicksale, den rücksichtslosen Idealismus, die unbeugsame Energie, das Auf und Ab von stürmischer Hoffnung und qualvoller Enttäuschung der Kämpfer zu unterscheiden. Die oft gewaltige Dramatik jener Einzelschicksale flicht sich zu einem für den Außenstehenden[108] undurchsichtigen Gewühl zusammen. Es ist ein unablässiges zähes Ringen, mit wilden Mordtaten und schonungslosen Willkürakten in einer Zahl, daß selbst diese Gräßlichkeiten schließlich zur Gewohnheit geworden sind. Und wie die moderne Schlacht, des romantischen Reizes der alten Reiterkämpfe entkleidet, als ein mechanischer Prozeß zwischen den in Werkzeugen objektivierten Produkten der Gedankenarbeit der Laboratorien und Werkstätten und – der kalten Macht des Geldes sich darstellt, daneben aber ein furchtbares, unausgesetztes Anspannen in erster Linie der, Nervenkraft der Führer wie der geführten Hunderttausende ist, so steht es auch mit der modernen »Revolution« Alles ist – wenigstens für das Auge des Beschauers – »Technik« und Frage der zähen Ausdauer der Nerven. In Rußland, wo die Polizeigewalt – wie diese Schilderung wohl gezeigt hat – ihre Machtstellung mit allen raffiniertesten Mitteln verschmitztester Asiatentücke ausnutzte, mußte der Kampf mit ihr so viele Kräfte in der bloßen »Taktik« verzehren, auf »parteitechnische Erwägungen« so sehr den Nachdruck legen, daß hier eine Rolle für »große führende Persönlichkeiten« überhaupt nicht leicht zu spielen war. Gegen Ungeziefer sind eben »große« Taten nicht zu verrichten. Und auf der Gegenseite fehlen sie vollends: die zahlreichen ausgezeichneten Einzelkräfte in der russischen Beamtenschaft, von deren Vorhandensein denn doch schon ein flüchtiger Blick von außen jeden überzeugen muß, können unter dem bestehenden System alles, nur keine »Staatsmänner« für große Reformen werden. Dafür sorgen schon die dynastischen Ambitionen, – dort wie bei uns7. Auch die Unmasse einer im einzelnen oft erstaunlich sorgsamen Gedankenarbeit, auf die man in den Staatsschriften dieses Regimes stößt, wird aufgebraucht und mündet, wie wir sahen, immer wieder in den Dienst des einen, absolut nicht über sich selbst hinausweisenden Zieles der polizeilichen Selbsterhaltung. Und die fürchterliche, objektive Sinnlosigkeit dieses Zieles, die vollkommene Unmöglichkeit, irgendwelche, und seien es die bescheidensten, »sittlichen« oder »Kulturwerte« als in diesem Regime verkörpert sich vorzutäuschen, verleiht dem Tun und Treiben dieser Machthaber und der »Berufsarbeit« dieser Staatsdiener – gerade der[109] »tüchtigen« unter ihnen – in der Tat etwas von jenem gespenstischen Zug, den LEO TOLSTOJS Apolitismus in seiner »Auferstehung« so unheimlich empfinden zu lassen verstand. Man hat die russische mit der französischen Revolution verglichen. Abgesehen von zahlreichen anderen Unterschieden genügt es, auf dasjenige entscheidende Objekt hinzuweisen, welches, im Gegensatz zu damals, den heutigen, auch den »bürgerlichen«, Vertretern der Freiheitsbewegung nicht mehr als »heilig« gilt und in den Katalogen der von der »Befreiung« erhofften Güter fehlt: das »Eigentum«. Seine »Heiligkeit« verkündet heute – etwas verspätet vom Standpunkt seiner eigenen Interessen aus – der Zar. Das ist, was auch nun geschehen wird, das Ende aller und jeder slawophilen Romantik und überhaupt des »alten« Rußland. Aber es stoßen in Rußland die importierten allermodernsten großkapitalistischen Mächte auf einen Untergrund von archaistischem bäuerlichen Kommunismus und entfesseln ihrerseits innerhalb ihrer Arbeiterschaft so radikal sozialistische Stimmungen, denen sie alsdann so absolut »freiheitsfeindliche« Organisationen allermodernsten Gepräges entgegensetzen, daß man kaum absehen kann, welches Gepräge die russische Entwicklung gewinnen wird, auch wenn – wie ganz überwiegend wahrscheinlich – die »Heiligkeit des Eigentums« gegenüber der sozialrevolutionären Bauernideologie zuletzt das Übergewicht behält. Es sind alle jene Entwicklungsstadien ausgeschaltet, welche im Westen starke ökonomische Interessen besitzender Schichten in den Dienst der bürgerlichen Freiheitsbewegung stellten. Die wenigen Prozente industriellen Proletariates besagen vorläufig äußerst wenig, die Ideale der Bauern aber liegen vorerst, trotz allem, in einer irrealen Welt. – Niemals ist, nach alledem, ein Freiheitskampf unter so schwierigen Verhältnissen geführt worden wie der russische, niemals mit einem solchen Maß von rücksichtsloser Bereitschaft zum Martyrium, für die, scheint mir, der Deutsche, der einen Rest des Idealismus seiner Väter in sich fühlt, tiefe Sympathie besitzen müßte.
Den üblichen deutschen reaktionären »Realpolitikern« aber sei die Frage nahegelegt, ob sie gut tun, Empfindungen gegen sich in Rußland zu wecken, wie sie NAPOLEON III. vor 1870 bei uns gegen sich wachrief. Man braucht die reaktionären und offiziösen russischen Zeitungen nur zu lesen, um zu sehen, mit welcher Geschicklichkeit sie die blöde Demokratenfeindschaft unserer »staatserhaltenden« Preßorgane als Mittel der Ablenkung des Hasses der Massen nach außen –[110] gegen uns – verwerten. Gewiß: das erbärmliche Regiment des Zaren, von jedem Krieg in den Grundfesten gefährdet, scheint ein »bequemer« Nachbar. Ein wirklich konstitutionelles Rußland müßte ein stärkerer und, weil gegen die Instinkte der Massen empfindlicher, ein unruhigerer Nachbar sein. Aber man täusche sich nicht: dies Rußland kommt, so oder so, – und man müßte, rein »realpolitisch«, auf dem Standpunkt stehen: besser jetzt bald, wo wir, auf unsere Stärke gestützt, uns friedlich-schiedlich über das Chaos von Fragen, welches zwischen uns liegt, verständigen können, als daß wir diese Probleme auf unsere Enkel abwälzen und inzwischen alle idealen Mächte dieser aufstrebenden Völker gegen uns in Bewegung setzen.
Die beiden großen Nachbarnationen verstehen sich vorerst wenig. Einerseits ist mir persönlich kein russischer Demokrat begegnet, der für die Eigenart der deutschen Kultur innere Sympathie, die nur aus sicherem Verständnis hervorgehen kann, gehegt hätte. Andererseits erschwert der Druck des zunehmenden Reichtums, verbunden mit der zum System gesteigerten Gewöhnung, »realpolitisch« zu denken, den Deutschen die Möglichkeit, das stürmisch erregte und nervöse Wesen des russischen Radikalismus sympathisch zu empfinden. Aber wir unsererseits sollten, bei aller Notwendigkeit, inmitten einer Welt von Feinden nüchtern zu sein, doch nicht vergessen, daß wir der Welt das Unvergänglichste in jener Epoche gegeben haben, als wir selbst ein blutarmes weltfremdes Volk waren, und daß »satten« Völkern keine Zukunft blüht.[111]
1 Dieser zweite Rußlandbericht MAX WEBERS bildet die Beilage zum 1. Heft des XXIII. Bandes des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Die Darstellung ist in acht Abschnitte gegliedert, deren Bezifferung bei dem vorliegenden auszugsweisen Abdruck entfallen ist, und umfaßt dort die Seiten 165 bis 401. Dieses (zweite) Beiheft erschien im August 1906. Der Abdruck bezieht sich auf die (dortigen) Seiten 170-174, 181-182, 224-233, 236-237, 249-252, 269-272, 274-277, 286-287, 291-296, 311-315, 327-328, 359-363, 377-382, 386-387, 391-399 mit einem Teil der Originalanmerkungen. (D.H.)
2 Für diese wurde – nach berühmtem Muster – ein Revers eingeführt betreffend Nichtzugehörigkeit zu irgendwelchen nicht von der Verwaltung gestatteten Organisationen.
3 Das damals bestehende russische sog. »Streikrecht«. – Gegen die Duma werden die Großkapitalisten natürlich immer zur Bürokratie stehen und sich selbst die weitestgehenden formalen Rechte dieser gefallen lassen. Auch bei uns flehten z.B. vor den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik, Herbst 1905, manche Kartell-Vertreter in förmlich ergötzlicher Weise darum, daß »der Staat« mit ihnen eine Interessengemeinschaft eingehen, sie »erziehen« (sic!) solle usw., – wohl wissend, daß bei dieser so ersehnten Umarmung die Kartelle die Brunhilde sein und der »Staat«, falls er sich zu viel herausnehmen sollte, das Schicksal König Gunthers erfahren würde.
4 Die konstitutionell-demokratische Partei, in der Presse (nach den Anfangsbuchstaben K-D) gewöhnlich die »Kadetten« genannt, hatte auf ihrem zweiten Kongreß (5. bis 11. Januar 1906) das Agrarprogramm eingehend beraten, war jedoch zu keiner Einigung gelangt. Die strittigen Fragen wurden einer Kommission überwiesen, die dem dritten Kongreß ein ausgearbeitetes Programm vorlegte, das in allen wesentlichen Teilen mit dem Gesetzesantrag übereinstimmte, den die Partei später in der Duma einbrachte. Vgl. [2.] Beiheft, S. 284 bis 286; die Darstellung des Agrarproblems insgesamt nimmt dort die Seiten 286 bis 348 ein. (D.H.)
5 Das Postulat des zu vervollständigenden bäuerlichen Landanteils. Siehe oben im Text S. 45. (D.H.)
6 Siehe oben im Text S. 48 f., 50. (D.H.)
7 Überhaupt lassen sich alle Konsequenzen des modernen spezifischen »Monarchismus« – der eben, wie heute die Dinge liegen, unvermeidlich mit einem Monarchen zu rechnen hat, der ungünstigenfalls ein gefährlicher politischer Dilettant, günstigenfalls ein einseitiger militärischer Fachmann wird – an dem Gang der Dinge in Rußland studieren.
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