Max Weber

Zur Gründung einer National-Sozialen Partei[26] 1

Naumann hat mit scharfer Akzentuierung von der Stellung der Gebildeten zu dieser national-sozialen Bewegung gesprochen und uns – denn ich darf zwar nicht im Namen derer, die er meint, wohl aber als einer von ihnen sprechen – gesagt, wie weit wir mitgehen können. Da müssen wir aber unsererseits zunächst fragen: »Was wollen Sie denn eigentlich?« Will man in einer nationalen Arbeiterpartei die aufsteigenden Klassen der Arbeiter für sich zu gewinnen suchen, so wäre das zweifellos ein Fortschritt. Es würde die geistige Emanzipation der Arbeiter bedeuten: Gedankenfreiheit, die die Sozialdemokratie nicht duldet, indem sie MARX' zerbrochenes System als Dogma in die Köpfe der Masse stempelt, Gewissensfreiheit, die es bei ihr, wie jeder Berliner Stadtmissionar berichten kann, nur dem Worte, nicht der Sache nach gibt. Aber in einer Klassenpartei hätten wir natürlich keinen Platz, und vollends dann nicht, wenn Sie jetzt einen neuen Gewissensdruck ausüben wollen, indem Sie verlangen, daß der christliche Glaube zum öffentlichen Versammlungs-Bekenntnis gemacht werde. –

Was nun aber in dem [jetzigen] Entwurf NAUMANNS geboten wird, ist ein Rückschritt. Seltsam kontrastiert mit dem vermeintlichen[26] Realismus, welcher politische Parteien nur auf wirtschaftlicher In teressenbasis aufbauen zu können meint, die Art, wie hier diese Interessengruppe, die den nationalen Sozialismus tragen soll, umschrieben wird. Denn welches ist sie? Es ist die Partei der Mühseligen und Beladenen, derjenigen, die irgendwo der Schuh drückt, aller derer, die keinen Besitz haben und welchen haben möchten. Ob Professor oder Arbeiter ist gleich; das Kriterium soll sein, ob das Einkommen aus Arbeit oder Rente fließt. Wer kann nun da zu Ihnen kommen und bei Ihnen bleiben? Ein Kellner gehört zu Ihnen. Wird er morgen Oberkellner, wird seine Befähigung zum nationalen Sozialismus schon fraglich. Und ist er ein tüchtiger Mann und bringt es einmal zum Wirt, der selber Kellner und Oberkellner hält, hat er sicherlich bei Ihnen nichts mehr zu suchen. Ein bis zum Hals verschuldeter Gutsbesitzer kann der Ihrige sein; ein Bauer, der aufsteigt und seinen Besitz mehrt, nicht. Nun, das sind Karikaturen, werden Sie sagen, – aber vergegenwärtigen Sie sich, daß eine Partei, die kein anderes Prinzip kennt als: Nieder mit den wirtschaftlich Starken!, die Karikatur einer Partei ist. Alle aufsteigenden Schichten des Volkes, auch die aufsteigenden Schichten der Arbeiterklassen, werden dann damit, daß sie aufsteigen, natürliche Gegner der national-sozialen Bewegung. Nur der Bodensatz der Bevölkerung bleibt bei Ihnen. Eine Partei aber, die nur die Schwächsten zu sich rechnet, wird die politische Macht nie erlangen.

Wollen Sie derartige, an die »ethische Kultur« erinnernde miserabilistische Gesichtspunkte zugrunde legen, so werden Sie nichts anderes [sein] als politische Hampelmänner, Leute, [heißt das,] die – je nachdem, wo ihnen der Anblick irgendeines wirtschaftlichen Elends auf die Nerven fällt – durch unartikulierte Bewegungen bald nach rechts, bald nach links, hier einmal gegen die Agrarier, dort einmal gegen die Börse und [gegen] die Großindustrie, reagieren. Das sind keine politischen Gesichtspunkte. Die einzige klare politische Form, welche das seinerzeit vereinbarte erste Programm, auf Grund dessen allein ich hier erschienen bin, enthielt, die Bewegung gegen die Großgrundbesitzer, ist aus Unklarheit fallen gelassen [worden]. Damit ist die politische Pointe fortgefallen. Denn seien Sie sich [darüber] klar: Sie haben heute einzig und allein die Wahl, welches von den einander bekämpfenden Interessen der heute führenden Klassen Sie stützen wollen: das bürgerliche oder das agrarisch-feudale. Eine Politik, die das nicht berücksichtigt, ist eine Utopie. Jede aufstrebende neue[27] Partei steht vor der Entscheidung, ob sie die bürgerliche Entwicklung fördern oder unbewußt die feudale Reaktion stützen will. Auch, wenn Sie es nicht wollen, [wenn Sie] meinen, ein Drittes tun, eine Politik des vierten Standes treiben zu können, wird das, was Sie wirklich erreichen, doch stets nur und allein die Stützung eines dieser beiden Interessen sein. Zwischen ihnen müssen Sie wählen und, wenn Ihnen die Zukunft der Bewegung am Herzen liegt, die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung wählen. Die Sozialdemokratie hat dadurch, daß sie gegen das Bürgertum vorgegangen ist, der Reaktion die Wege geebnet. –

Wie unpolitisch NAUMANN denkt, ist daraus zu ersehen, daß er dem Parlament die Entscheidung über die Heeresstärke nehmen möchte. Im Gegenteil: die einzig gesunde Lösung ist die Behandlung der Militärfrage als einfache Budgetfrage, also die jährliche Bewilligung. Die neue Partei muß sein eine nationale Partei der bürgerlichen Freiheit; denn nur eine solche fehlt uns: es fehlt eine nationale2 Demokratie, der wir die Leitung Deutschlands durch unsere Wahlstimmen anvertrauen könnten, weil wir der Wahrung der nationalen und wirtschaftlichen Machtinteressen in ihrer Hand sicher sein würden. –

Damit komme ich zu einem Spezialpunkt, dessen Behandlung in Ihrer Presse mir gezeigt hat, daß Sie vorläufig diese Partei nicht sind. Es ist die Art, wie in letzter Zeit die sogenannte »Polenfrage« in der »Zeit« erörtert worden ist3. Über die Einzelmaßnahmen, die da diskutiert wurden, läßt sich streiten, davon spreche ich nicht; sondern von der Art der Behandlung dieser Dinge in einem deutschen Blatte, wie es »Die Zeit« sein will. Die »Zeit« hat diejenigen, die eine energische Stellungnahme gegen die Polen befürworten, in einem hämischen Ton angegriffen, den Deutsche in nationalen Fragen gegeneinander nie anschlagen sollten. Man hat gesprochen von einer Herabdrückung der Polen zu deutschen Staatsbürgern zweiter Klasse. Das Gegenteil ist wahr: wir haben die Polen [erst] zu Menschen gemacht. Auch in der Auffassung der »Polenfrage« tritt bei Ihnen eben jener unpolitische Zug des Miserabilismus hervor. Aber die Politik ist ein hartes Geschäft, und wer die Verantwortung auf sich nehmen will, einzugreifen in die Speichen des Rades der politischen[28] Entwicklung des Vaterlandes, der muß feste Nerven haben und darf nicht zu sentimental sein, um irdische Politik zu treiben. Wer aber irdische Politik treiben will, der muß vor allen Dingen illusionsfrei sein und die eine fundamentale Tatsache: den unabwendbaren ewigen Kampf des Menschen mit dem Menschen auf der Erde, wie er tatsächlich stattfindet, anerkennen. Wenn nicht, dann soll er davon abstehen, eine politische Partei zu gründen. Ich möchte hier, in dieser thüringischen Stadt, Ihnen das alte Thüringerwort entgegenrufen: »Landgraf werde hart!«[29]


Fußnoten

1

Diskussionsrede am ersten Verhandlungstag (23. November 1896) der Erfurter Delegiertenversammlung der nicht der konservativen Partei angehörenden Christlich-Sozialen zu dem Programmentwurf FRIEDRICH NAUMANNS für eine zu gründende national-soziale Partei. Als Ergebnis der dreitägigen Beratungen wurde der »National-Soziale Verein« gegründet, dem MAX WEBER, trotz der Bedenken im Grundsätzlichen, beitrat.

Der Abdruck erfolgt hier nach dem im Verlag der Tageszeitung »Die Zeit« veröffentlichten »Protokoll über die Vertreter-Versammlung aller National-Sozialen in Erfurt vom 23.-25. November 1896«, Berlin 1896, S. 47-49. Siehe zum Text der Rede ferner: MARTIN WENCK, Die Geschichte der Nationalsozialen (1895-1903), Buchverlag der »Hilfe«, Berlin 1905, S. 63 f. Ein abgekürzter Bericht erschien in FRIEDRICH NAUMANNS Wochenschrift »Die Hilfe« [2. Jg. Nr. 49 vom 6. Dezember 1896, Seite 5]. (D.H.)


2 So M. WENCK a.a.O. S. 64. (D.H.)


3 Wie die weiteren Verhandlungen (Protokoll, S. 54) ergaben, war HELLMUTH v. GERLACH der Verfas ser des von MAX WEBER kritisierten Artikels. (D.H.)


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 30.
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