Max Weber

»Energetische« Kulturtheorien[399] 1

Prof. W. Ostwald in Leipzig ist, von der sachlichen Tragweite seiner Arbeiten ganz abgesehen, in höchstem Maße ausgezeichnet durch eine seltene Darstellungskunst. Dies nicht im Sinne der heute nur allzu üblichen Stil-Aesthetik. Soweit »Stil«-Fragen in Betracht kommen, äußert sich seine Kunst vielmehr gerade umgekehrt in der heute nur allzu seltenen Fähigkeit, mit dem kleinsten Aufwand an derartigen Mitteln in schlichter Knappheit und Klarheit der »Sache« das Wort zu lassen und hinter ihr zurückzutreten. Unter Darstellungskunst ist hier vielmehr die Qualität der gedanklichen Werkzeuge gemeint, welche er und wie er sie zur »Vereinfachung« der Denkobjekte zu verwenden gewußt hat. Auch der vollkommene Laie darf, wenn er die Ausführungen der meist so mageren allgemeinen Teile älterer chemischer Kompendien etwa über Atomgewichte und Verbindungsgewichte und was damit zusammenhängt, über den Begriff von »Lösungen« im Gegensatz zu den »Verbindungen«, über die elektrochemischen Probleme, über die Isomerie usw. gelesen hat, und damit die erstaunliche Kraftersparnis vergleicht, welche das Streben nach Hypothesenfreiheit und die Begrenzung auf das wirklich »Allgemeine« an den chemischen Vorgängen der Ostwaldschen Darstellungsweise eingebracht hat, sich an der ungemeinen Eleganz dieser Kunst erfreuen. Und er wird es, nach der Eigenart dieser Leistung, vollkommen verständlich finden, daß Ostwald, ganz ebenso wie seinem Geistesverwandten Mach der Fehler besonders naheliegt, 1. einerseits – in logischer Hinsicht – bestimmte naturwissenschaftliche Abstraktionsformen zum Maßstab wissenschaftlichen Denkens überhaupt[400] zu verabsolutieren, – daß er 2. demgemäß heterogene Denkformen, welche (in der Sprache Machs zu reden) die »Denkökonomie« bei den Fragestellungen anderer Disziplinen erfordert, als Unvollkommenheiten und Rückständigkeiten empfindet, weil sie das nicht leisten, was sie ihrer Zweckbestimmung nach gar nicht leisten sollen (nicht nur die »Denkökonomie« der Geschichte – im weitesten Sinn –, sondern schon der Biologie, und zwar, wie ausdrücklich betont sei: einerlei, ob sie sich »vitalistisch« oder noch so »mechanistisch« gebärdet, zeigt derartige heterogene Denkhilfsmittel) – und daß er, damit im Zusammenhang, 3. andererseits – in sachlicher Hinsicht – ein möglichstes Maximum alles Geschehens überhaupt zu Spezialfällen »energetischer« Beziehungen einzustampfen trachtet, – daß endlich 4. ihn sein leidenschaftlicher Drang, die Objekte intellektuell durch seine Begriffsmittel zu beherrschen, auch auf das Gebiet des Seinsollenden verfolgt und zur Ableitung rein »ressortpatrioti scher« Wertmaßstäbe aus den Tatsachen seines Arbeitsgebietes verführt. Diese Umstülpung des »Weltbildes« einer Disziplin in eine »Weltanschauung« ist ja heute eine ganz allgemeine Gepflogenheit: in welcher Richtung sie sich bei der Biologie auf darwinistischer Grundlage zu vollziehen pflegt, ist bekannt (bei den wissenschaftlichen Anti-Darwinisten – heute natürlich stets ein relativer Begriff – pflegt sie charakteristischerweise in mehr oder minder extremen Pazifismus umzuschlagen). Bei Mach werden aus der »Unrettbarkeit« des Individuums (diese ist nicht nur faktisch-»thanatistisch«, sondern logisch gemeint) altruistische Imperative abgeleitet. Der Mach und Exner in seinen metaphysischen Ansichten nahestehende Historiker L. M. Hartmann leitet aus bestimmten Ansichten über die Prognose des historischen Prozesses den kategorischen Imperativ ab: Handle so, daß dein Handeln der (sozialen) Vergesellschaftung dient (woraus, beiläufig, folgen würde, daß Jay Gould, Rockefeller, Morgan, deren Leistungen nach jeder konsequenten sozialistischen Entwicklungstheorie in eminentem Sinn als »Vorfrüchte« des Sozialismus zu gelten haben, als ethisch geniale Persönlichkeiten qualifiziert werden müßten) usw. Bei Ostwald sind es, entsprechend der ungeheuren technisch-wirtschaftlichen Bedeutung der Chemie, naturgemäß technologische Ideale, welche in unbekümmerter Souveränität das Wort führen.[401]

Dabei ist nun O. in hohem Maße beeinflußt durch die vom Comtismus und Queteletismus her orientierte (vermeintlich) »exakte« soziologische Methode, für deren Pflege Ernest Solvay in Brüssel sein »Institut de Sociologie (Institut Solvay)« gegründet hat, eine mit Lesezimmern, allem für die soziologische Arbeit erforderlichen Material und sehr bedeutenden Fonds versehene Arbeits- und Publikationsstätte: als Mäzenatenschöpfung ebenso großartig und in ihrer Weise mustergültig – wie die von Solvay in seinen Arbeiten angewendete und von einzelnen seiner Mitarbeiter übernommene »wissenschaftliche« Methode erbärmlich ist. Welche Wechselbälge gezeugt werden, wenn rein naturwissenschaftlich geschulte Technologen die »Soziologie« vergewaltigen, lehrt jeder Blick in eine beliebige Arbeit dieser Art, insbesondere in diejenige Solvays selbst2. Und[402] das Tragikomische dieser Verschleuderung reicher Mittel für[403] rein dilettantische Zwecke tritt wohl in nichts so deutlich zutage[404] als darin, daß das Institut z.B. eine absolut wertlose Arbeit[405] von Ch. Henry3, welche in umfangreichen Rechnungen den sozialen (NB!) Nutzwert der Arbeit und also (wie bei allem »Positivismus« dieser Art, schon bei Comte selbst): die seinsollende Höhe des Arbeitsentgelts durch »energetische Formeln« zu ermitteln sich müht, zwar publiziert, – weil die Nichtpublikation der durch Solvay geschaffenen »Tradition« widersprechen würde, – der gegenwärtige Leiter des Instituts aber, Hr. Prof. Waxweiler, in einem Anhang dazu ganz richtig, nur mit übermäßig höflicher Schonung, auf wenigen Seiten auf die Sinnlosigkeit dieses für jeden Sachkundigen – seit Thünens immerhin wesentlich geistreicherer, vor allem ökonomisch orientierter, Konzeption – erledigten Versuches hinweist. Da das Institut unter Waxweilers Leitung sich wirklich wertvollen Arbeiten zugewendet hat, popularisierenden sowohl wie wissenschaftlichen, darf man wohl hoffen, daß diese »energetischen« Reminiszenzen bald gänzlich in die Ecke geworfen werden, wohin sie gehören.

Die vorliegenden, Ernest Solvay gewidmeten, populären Vorlesungen zeigen die Vorzüge von Ostwalds Denk- und Darstellungsweise, verbunden mit den Konsequenzen der oben hervorgehobenen allgemeinen Neigungen »naturalistischer« Denker und verdienen auch in ihren schwächsten Partien schon als »Typus« Beachtung. Soweit das ökonomische und sozialpolitische Problemgebiet berührt ist, wird darüber von angesehener sozialpolitischer Seite referiert werden. Ich schalte daher die Ausführungen über diese Dinge – die, wie ich nicht verschweigen darf, m. E. zum übelsten gehören, was Ostwald je geschrieben[406] hat – hier aus und beschränke mich auf ein kurzes Resumé der Kapitel, welche die konsequent und z. T. formal sehr hübsch durchgeführte »energetische« Auffassung der Kulturvorgänge sachlich darlegen, und auf einige Bemerkungen teils allgemeiner Art, teils spezieller zu Aufstellungen, die von jenem (ökonomischsozialen) Problemgebiet mehr abseits liegen.

Kap. I (Die Arbeit). Alles, was wir von der Außenwelt wissen, können wir in Energiebeziehungen: räumlichen und zeitlichen Aenderungen der bestehenden Energieverhältnisse, ausdrücken (»Energie« = Arbeit und alle Umwandlungsprodukte derselben). Jeder Kulturumschwung wird durch neue energetische Verhältnisse (insbesondere: Auffindung neuer Energiequellen oder anderweite Verwendung schon bekannter) begründet (folgt die Erörterung der Eigenart der 5 Energiearten unter besonderer Hervorhebung der Bedeutung der chemischen Energie als der aufbewahrungs- und transportfähigsten). – Kap. II (Das Güteverhältnis). »Güteverhältnis« (Grundbegriff der ganzen Erörterung) = Relation der Menge der Nutzenergie B, welche bei einer von uns zu praktischen Zwecken erstrebten Energieumwandlung aus der Rohenergie A gewonnen wird und, infolge des unvermeidlichen Mitentstehens noch andrer Energien neben der Nutzenergie, stets ? 1 ist. Die gesamte Kulturarbeit erstrebt 1. Vermehrung der Rohenergien, 2. Verbesserung des Güteverhältnisses: letzteres ist insbesondere der Sinn der Rechtsordnung (die Beseitigung der im Kampf stattfindenden Energievergeudung ist ganz analog dem Ersatz der Petroleumlampe mit 2% durch die Lampe mit Vergasung und Glühstrumpf mit 10% Güteverhältnis). Da nur »freie«, und das heißt: durch Intensitätsunterschiede innerhalb der vorhandenen Energiemengen in Bewegung zu setzende, Energie nutzbar ist und diese freie Energie, nach dem zweiten Hauptsatz der Energetik, innerhalb jedes gegebenen geschlossenen Körpersystems durch nicht rückgängig zu machende Zerstreuung stetig abnimmt, läßt sich die bewußte Kulturarbeit auch als das »Bestreben zur Erhaltung der freien Energie« kennzeichnen. Von diesem Ideal stetig abzuweichen nötigt uns in der Hauptsache der wertbestimmende Faktor »Zeit«: die Beschleunigung der langsamen (im »Idealfall« unendlich langsamen) Energieumwandlungen ist es ja, welche diese für uns überhaupt erst nutzbar macht, zugleich aber unvermeidlich beschleunigte Vernichtung freier Energie bedeutet.[407] Und zwar so, daß für die erstrebenswerte Relation beider Seiten des Vorgangs zueinander jeweils ein Optimum besteht, bei dessen Ueberschreitung die weitere Beschleunigung unökonomisch wird. Der zweite Hauptsatz der Energetik ist also die Leitlinie der Kulturentwicklung. – Kap. III (Die rohen Energien). »So gut wie alles, was überhaupt auf der Erde geschieht«, geschieht auf Kosten der freien Energie, welche die Sonne durch Strahlung an die Erde abgibt (einzige Ausnahme nach Ostwald: Ebbe und Flut und die von diesen abhängigen Erscheinungen. – Die Behauptung dürfte insofern unsicher sein, als die eigene thermische Energie des Erdinnern, deren praktische Bedeutung O. schlechthin leugnet, zwar die Temperaturverhältnisse der Erdoberfläche generell kaum in praktisch erheblicher Weise beeinflußt, aber vielleicht – da es im absoluten Sinn wasserdichte Gesteinsschichten nicht gibt – die jeweilige endgültige Versickerungsgrenze mitbestimmt und dann für die verfügbare Wassermenge der Oberfläche und alles von dieser abhängige Geschehen mitspräche). Die dauerhafte Wirtschaft muß daher ausschließlich auf der regelmäßigen Benutzung der jährlichen Strahlungsmenge ruhen, deren Nutzbarmachung in ihrem Güteverhältnis noch so ungeheuer steigerungsfähig ist, daß der, allerdings einer sehr starken Durchbrechung jenes Prinzips, einer »Erbschaftsverschleuderung«, gleichkommende rapide Aufbrauch der in den Kohlenvorräten, in chemische Energie umgewandelte, aufgespeicherten Sonnenstrahlungsenergie gänzlich unbedenklich erscheint. Von dem – nach Maßgabe der vorhandenen Vorräte – nur wenig langsameren Aufbrauch der chemischen und Formenergien der Eisenvorräte, der für die Erzeugnisse der Elektrizität so wichtigen Kupfer- und Zinkvorräte usw. spricht Verf. nicht. Eine Erörterung darüber, inwieweit die chemische und Formenergie des praktisch unerschöpflichen und dabei durch rapide fortschreitende Kostenherabsetzung ausgezeichneten Aluminiums die heute unentbehrlichen Funktionen jener praktisch unzweifelhaft erschöpfbaren Metalle restlos zu ersetzen vermag, wäre aber in einer Darstellung, welche sogar den künftigen Aufbau unserer Energiewirtschaft auf konzentrierter, filtrierter und in chemische oder elektrische Energie umgesetzter Energie der Sonnenstrahlung in Betracht zieht, immerhin vielleicht am Platze gewesen. Dies um so mehr, als Ostwald an eine Abnahme der Zufuhr von Energie durch Sonnenstrahlung in Vergangenheit[408] und Zukunft innerhalb geologischer Epochen nicht glaubt, mithin offenbar, vom rein energetischen Standpunkt aus, ein besonderes Maß von Oekonomie mit den von dorther zugeführten Energiemengen unter Zukunftsgesichtspunkten gar nicht dringlich erscheint, während die für die Erzeugung, Leitung und Nutzbarmachung der wichtigsten Nutzenergien unentbehrliche chemische und Formenergie jener Stoffe durch Benutzung ebenso unwiederbringlich zerstreut werden, wie dies bei allen freien Energien nach der Entropielehre der Fall ist, – aber, zum Unterschied von anderen, in historisch absehbaren Zeiträumen: bei weiterer Zunahme der Ausbeute im Tempo der Gegenwart in wenig mehr als einem Jahrtausend. Unerörtert bleibt eben überhaupt bei der ausschließlichen Zuspitzung der Erörterung auf energetische Beziehungen, d.h. 1. Gewinnung von neuen Rohenergien, 2. Verbesserung des Güteverhältnisses bei der Gewinnung von Nutzenergien, die doch immerhin recht wichtige Rolle der zum großen Teil nur in erschöpfbaren Vorräten gegebenen Energieleiter als Objekt der Oekonomie: die Qualitäten, welche ihre Brauchbarkeit hierfür bedingen, lassen sich nur ziemlich gezwungen, jedenfalls nur indirekt, auch ihrerseits unter jene beiden Rubriken unterbringen, obwohl nicht bezweifelt werden soll, daß Ostwalds Terminologie auch dies gelingen könnte. – Wenn nun aber die Aspekte der direkten Nutzbarmachung neuer Energien, speziell der heute fast nur auf dem Wege über lebende oder fossile Pflanzen nutzbar zu machenden Energie der Sonnenstrahlen, für die Zukunft so überaus günstige sind, wie dies Ostwald zuversichtlich annimmt, – so entsteht für die energetische Analyse der Kultur doch die Frage: wie kommt es nun, daß wir, unter diesen Verhältnissen und bei unseren generell abnehmenden Geburtenziffern, überhaupt irgendwelches Gewicht auf das Güteverhältnis legen? Warum wird dieses alsdann nicht zunehmend irrelevant, statt immer bedeutsamer? Eine Antwort auf diese Frage könnte man nur mit ziemlicher Mühe und auch dann unvollständig aus den Ausführungen in Kap. IV (Die Lebewesen), V (Der Mensch), VI (Die Beherrschung fremder Energien) wohl allenfalls entnehmen. Hätte Ostwald sie ausdrücklich gestellt, und beantwortet, so wäre er in einer seinen Ausführungen sicherlich dienlichen Art zu einer Durchdenkung von Problemen geführt worden, wie sie z.B. Sombart in seiner Auseinandersetzung[409] mit dem Reuleauxschen Begriff der Maschine angeschnitten hat. Diese sind S. 82 unten nur kurz und dabei überdies in schiefer Weise berührt: es ist keineswegs richtig, daß »fortschreitende« Kultur (gleichviel welchen der üblichen Maßstäbe des »Fortschrittes« man anlegt) mit absoluter Verminderung der Benutzung menschlicher Energie identisch ist. Das trifft wohl nach der relativen energetischen Bedeutung der letzteren beim Vergleich der gegenwärtigen etwa mit der antiken Kultur zu, aber es ist auch nicht einmal in diesem relativen Sinn für jeden »Kulturfortschritt« richtig, – es sei denn, daß nur das »Kulturfortschritt« heißen sollte, was energetischer »Fortschritt« ist, also Tautologie vorliegt. Jene unterlassenen Erwägungen wären Ostwald auch bei seinem salto mortale auf das Gebiet der ökonomischen Fachdisziplin (Kap. XI) vielleicht zugute gekommen. Es wäre dann ferner der jetzt aus seinen Ausführungen deutlich zu entnehmenden sehr irrtümlichen Vorstellung vorgebeugt worden, als ob wenigstens das, was wir technischen Fortschritt nennen, immer auch auf einer Verbesserung des Güteverhältnisses beruhe. Als ob z.B. beim Uebergang vom Hand- zum mechanischen Webstuhl, wenn man die in den Kohlen aufgespeicherte Sonnenstrahlenenergie den verschiedenen kinetischen, chemischen (außermenschlichen und menschlichen) und sonstigen Energien zurechnet, welche pro rata auf ein mechanisches Textilprodukt (natürlich einschließlich der ungenutzt zerstreuten Energieteile) entfallen, und nun die entsprechende Rechnung für die Handweberei anstellt, das rein energetische Güteverhältnis immer bei mechanischem Betrieb günstiger sei als es beim Handwerk war. Oekonomische »Kosten« sind sehr weit davon entfernt, mit dem »Energie«aufwand im physikalischen Sinn des Wortes einfach parallel zu gehen, und erst recht ist in der Tauschwirtschaft das Verhältnis der für die »Konkurrenzfähigkeit« entscheidenden Kostenpreise weit davon entfernt, gleich demjenigen der verbrauchten Energiequanten zu sein, obwohl diese selbstredend überall, oft sehr »energisch« dabei mitsprechen. O. selbst hat gelegentlich lebensökonomische Momente grundlegender Art, welche bei den meisten »technischen Fortschritten« mitspielen und direkt eine Verschlechterung des energetischen Güteverhältnisses erheischen: das unumgängliche Streben nach Beschleunigung der Energieum wandlung, erwähnt. Dieser Sachverhalt[410] steht nicht etwa vereinzelt da. Gelänge es, wie Ostwald hofft, wirklich, eine Vorrichtung zur direkten Ueberführung von Sonnenstrahlen-Energie z.B. in elektrische Energie einmal zu erfinden, so könnte das energetische »Güteverhältnis« um ein Vielfaches selbst hinter demjenigen der Ausnützung der Kohlenenergie in einer Dampfmaschine zurückbleiben und dennoch die ökonomische Konkurrenzfähigkeit der auf dem neuen Wege gewonnenen Energie vielleicht überwältigend sein. Hat doch gerade das dem Menschen von Natur mitgegebene »primitivste« Werkzeug: der menschliche Muskel, ein weit besseres »Güteverhältnis« in der Ausnützung der durch die biochemischen Oxydationsprozesse freigesetzten Energie als selbst die beste Dynamomaschine je erreichen kann – und doch ist diese in der ökonomischen Konkurrenz überlegen. Ostwald weiß zweifellos sehr wohl, warum. Aber bei gegebener Gelegenheit widerfährt es Ostwald immer wieder, daß er schlechthin »die ganze Kulturentwicklung« auf eine der verschiedenen energetischen Bedingungen: das »Güteverhältnis« zu gründen sucht, obwohl doch er (s. o.) selber anfangs die Erschließung neuer Energien daneben stellte. Selbst das rein technologische Problem ist, energetisch betrachtet, durch O. nicht gefördert. Denn gerade die gegenseitige Beziehung zwischen der Verwertung neuer Energien und den Forderungen des »Güteverhältnisses« wäre das eigentlich Interessante. Darüber aber erfahren wir nichts von Belang. Vollends aber kommt dabei selbst die Eigenart einer so dicht an die Technologie angrenzenden Betrachtungsweise wie der (im fachwissenschaftlichen Sinn) »ökonomischen« natürlich zu kurz.

Zwar hat Ostwald einleitend selbst den Vorbehalt gemacht, daß er sich bewußt sei, nur eine Seite der »Kulturerscheinungen« zu behandeln, und dies ist unbedingt anerkennenswert gegenüber dem »Weltformel«-Bedürfnis mancher anderen naturalistischen Denker. Allein sein Unstern will es, daß er noch an die längst veraltete »Comtesche Hierarchie der Wissenschaften« glaubt und diese dahin interpretiert (S. 113 unten), daß die Begriffe der auf den unteren Staffeln der Pyramide stehenden »allgemeineren« Disziplinen für alle höheren, d.h. »weniger allgemeinen« Wissenschaften zur Geltung gelangen, für diese also »grundlegend« sein müßten. Er wird ungläubig den Kopf schütteln, wenn man ihm sagt, daß für die ökonomische Theorie (den[411] spezifischen Bestandteil der ökonomischen Disziplinen, der sie von den anderen trennt), nicht nur jene Begriffe gar keine, auch nicht die geringste, Rolle spielen, sondern daß für die Nationalökonomie überhaupt gerade die allgemeinsten, d.h. abstraktesten und deshalb sich von der Alltagserfahrung am weitesten entfernenden Theoreme der »allgemeineren« Disziplinen gänzlich belanglos sind. Ob z.B. die Astronomie das kopernikanische oder das ptolemäische System zu akzeptieren hat, ist für sie vollkommen gleichgültig. Ebenso wäre es für die Geltung der ökonomischen Theorie – einen Inbegriff gewisser hypothetischer »idealtypischer« Lehrsätze – völlig belanglos, ob etwa die physikalische Energielehre die grundstürzendsten Aenderungen erleben, ja sogar: ob der Satz von der Erhaltung der Energie seinen heutigen Geltungsumfang (wie zu erwarten) für alle physikalische, chemische und biochemische Erkenntnis behaupten wird oder etwa eines Tages ein »Anti-Rubner« dessen Experimente über den Wärmehaushalt der Organismen umstößt (was selbstredend äußerst unwahrscheinlich ist). Oder, um die Sache gleich an demjenigen Problem zu verdeutlichen, welches solange Zeit hindurch die physikalische Forschung eng mit ökonomischen Interessen verknüpfte: selbst die leibhaftige Existenz eines »perpetuum mobile«, d.h. also einer Energiequelle, welche freie Energie kostenlos in ein gegebenes energetisches System sprudelte, würde 1. jene hypothetischen Sätze der abstrakten Theorie der Oekonomik ganz und gar nicht zu »Unrichtigkeiten« stempeln; es würde ferner 2., mag man sich die technische Tragweite einer solchen utopischen Energiequelle als noch so kolossal ausmalen – und dazu hätte man allen Grund –, dennoch auch der Bereich der praktischen Geltung jener abstrakten und hypothetischen Lehrsätze nur dann auf 0 reduziert, wenn durch jene Energiequelle a) jede beliebige Energie, b) überall, c) jeder Zeit, d) in jedem Zeitdifferenzial in unbegrenzter Quantität und e) beliebiger Wirkungsrichtung zur Verfügung stände. Jede leiseste Beschränkung auch nur einer dieser Bedingungen würde sofort den Grenznutzprinzipien wieder zu einer entsprechenden Partikel von Möglichkeit direkt praktischer Bedeutsamkeit verhelfen. – Es wurde bei diesen Utopien nur deshalb einen Augenblick verweilt, um klarzustellen, was aller modernen Methodenlehre zum Trotz immer wieder vergessen wird: daß die Comtesche Wissenschaftshierarchie das lebensfremde Schema eines[412] grandiosen Pedanten ist, der nicht begriff, daß es Disziplinen mit gänzlich verschiedenen Erkenntniszielen gibt, von denen jede von gewissen unmittelbaren Alltagserfahrungen ausgehend den Inhalt dieser »unwissenschaftlichen« Erkenntnis unter ganz verschiedenen, gänzlich selbständigen Gesichtspunkten sublimieren und bearbeiten muß. Daß sich alsdann irgendwo – und z.B. bei der Nationalökonomie schon beim ersten Schritt aus der »reinen« Theorie heraus – die verschiedenen Disziplinen in ihren Objekten in der mannigfachsten Weise kreuzen und wieder begegnen, versteht sich ja von selbst. Wer aber, wie Ostwald, jenen grundlegenden Sachverhalt nicht durchschaut oder ihm doch nur durch Freihaltung eines Plätzchens für die Wirksamkeit der »psychischen Energie« (S. 70) nach Comteschem Schema gerecht zu werden trachtet, wird zum mindesten der Eigenart der »Kulturwissenschaften« (die O. ja »fundamentieren« will) nicht gerecht4. – Denn daß die reine »Theorie« unserer Disziplin auch[413] nicht das mindeste mit »Psychologie« zu tun hat, weiß jeder an modernen Methoden geschulte Theoretiker (richtiger: sollte es wissen ).

[414] In den drei Kapiteln von den Lebewesen (IV, V, VI) finden wir zunächst (S. 53) die Scheidung der »Anabionten« (= Pflanzen) als Energie-Sammler von »Katabionten« (= Tiere) als, energetisch betrachtet, parasitären Verbrauchern der von jenen gesammelten Sonnenstrahlen, wobei der Mensch (vorläufig noch!) zu den letzteren gehört. Vom Tier unterscheidet er sich energetisch nur durch das gewaltige und stetig steigende Maß der von ihm unter seine Herrschaft gebrachten »äußeren« (außerhalb seiner Epidermis vorhandenen) Energien in Gestalt von Werkzeugen und Maschinen: die Entwickelungsgeschichte der Kultur ist identisch mit der Geschichte der Einbeziehung fremder Energien in den menschlichen Machtbereich (also hier: auch ohne Verbesserung von »Güteverhältnissen«), – worauf dann der (in der Anmerkung kurz besprochene) Vorbehalt folgt, daß man für die Durch führbarkeit dieser Anschauung allerdings »gestatten« müsse, von »psychischer Energie« zu reden. Eingeflochten sind Erörterungen über den energetischen Entwickelungsgang der Kriegswaffen (S. 73 f.), über den energetischen Wert des Friedens gegenüber jeder Art von Kampf, da ein solcher ja immer das (energetische) Güteverhältnis herabsetzt, über die Zähmung der Tiere (S. 85 f.: hier wie bei der Erörterung der Sklaverei fehlt die Kenntnis wichtiger Ergebnisse der Fachforschung), weiterhin eine recht hübsche energetische Analyse der Bedeutung des Feuers, S. 92, über Transport und Aufbewahrung von Energien und das Verhalten der einzelnen Energiearten dabei (Kap. VII). Die Art der Scheidung zwischen »Werkzeug« und »Maschine« (je nachdem dabei menschliche oder außermenschliche – auch tierische – Energie transformiert werde: S. 69) ist ungemein äußerlich und soziologisch so gut wie wertlos. Sodann gelangt der Verf. (Kap. VIII) zur »Vergesellschaftung«. Ihre Bedeutung für die Kultur[415] werde heute, indem »man« (wer?) die ganze Kulturwissenschaft mit der Soziologie gleichsetze, übertrieben, da ja die Erfindung der einfachsten Werkzeuge von Einzelnen ausgegangen und auch ihre Benutzung durch Einzelne möglich sei. Nur soweit die Gesellschaft »Kulturfaktor« sei, das heißt: das »Güteverhältnis« verbessere (S. 112), – welches hier wieder alleiniger Maßstab wird, – komme sie wissenschaftlich in Betracht: energetisch betrachtet tue sie dies insoweit, als sie durch »Ordnung« und Funktionsteilung auf die Nutzrelation einwirkt. Die Energiebilanz, nicht die Mannigfaltigkeit ist nach O. auch das entscheidende Maß der »Vollkommenheit« der Lebewesen, – eine Art der Betrachtungsweise, die, in anderer Wendung, schon K. E. v. Baer in bekannter Weise mit Recht verspottet hatte. Wenn wir übrigens die beherrschten »fremden« Energien beim Menschen, die ja meist nur zu wenigen Prozenten ausgenutzt werden – der Muskel ist, wie schon erwähnt, die beste bekannte Dynamomaschine –, mit einbeziehen, dann ist nach der derzeitigen Technik jedenfalls von einer relativ günstigeren Energiebilanz (Güteverhältnis) des Menschen doch einfach gar keine Rede. Und wie steht es denn sonst mit der »Energiebilanz« der Kultur?

Kunst z.B. (im weitesten Sinne) rechnet, wenn man die Ausführungen S. 112 oben irgend annähernd wörtlich nimmt, O. überhaupt nicht zu den »Kulturfaktoren«, – es sei denn (wie sich beruhigenderweise auf S. 88 f. ergibt), daß sie solche »Mißgriffe«, wie sie noch in Schillers »Göttern Griechenlands« als Paradigmata der »Beschränktheit des Anfängers« zusammengestellt sind, endlich meidet und die Wandlungen und Wanderungen der Energie zum Stoff nimmt, wodurch sie sich in den Dienst der Massenaufklärung stellen und der Energievergeudung entgegenwirken könnte. Man sieht, hier ist Du Bois Reymonds Anathema gegen die Bildung geflügelter Gestalten (weil diese »atypischer« und »paratypischer« Konstitution und, als Säuger mit sechs Extremitäten, anatomisch bedenklich seien) an prinzipientreuem Naturalismus denn doch weit übertroffen. Fragt sich nur, wie die Kunst diesem Programm genügen soll? Das Maximum von Energieumwandlung pro qm Leinwand bringt man auf, wenn man Explosionen oder Seeschlachtenbilder malt. Ziemlich nahe kam alsdann dem Ideal eine eigenhändige (jugendliche) Farbenskizze K. Wilhelms II: zwei Panzerschiffe mit kolossaler Pulverdampfentwicklung, die ich in Privatbesitz einmal[416] sah. Aber was nützt das gegen die Energievergeudung der Zivilisten? Das berühmte Walzwerk A. v. Menzels stellt sich vielleicht im (energetischen!) »Güteverhältnis« noch günstiger, ist aber doch von kaum wesentlich größerer didaktischer Massenwirkung, speziell auf die Hausfrauen, auf die es doch sehr ankäme. Poetisch und künstlerisch illustrierte Kochrezepte dürften unbedingt akzeptabel sein. Aber was sonst? Und vor allem: wie? Das Gesetz von der Erhaltung der Energie und die Entropielehre könnte die Kunst doch wohl nur »symbolisch« darstellen, und da kämen ja alle jene fatalen »Unwirklichkeiten« wieder hinein! Ostwalds Vorgänger auf dem Wege der »rationalen« Definition der Kunstzwecke: – z.B. Comte, Proudhon, Tolstoi, – sind ganz ebenso banausisch wie er, aber doch nicht so blindlings zu Werk gegangen, wie er es tut. In Leipzig scheint das Mißverhältnis obzuwalten, daß z.B. Lamprecht für wissenschaftliche Zwecke erheblich zu viel, Ostwald dagegen – ganz unbeschadet aller seiner Verdienste um die chemische Analyse der Farbstoffe für die Malerei – etwas zu wenig Fühlung mit der Kunst besitzt und daß, einer fatalen Eigenart der »psychischen Energie« entsprechend, der »Ausgleich« dieser Intensitätsdifferenzen trotz der zweifellos häufigen »Berührung« nicht recht zustande kommen will. Auf diese Art ist Ostwald nicht einmal bis zu einer eigentlich »energetischen« Kunstbetrachtung durchgedrungen. Denn wie würde wohl eine solche aussehen? Nach dem »energetischen« Güteverhältnis würde wohl vor allem dem »Luca fa presto« der Kranz zu reichen sein, sehr entgegen der heute »üblichen« Ansicht, – denn nicht irgendein angeblicher absoluter Wert des schließlich erzielten Resultates als solchen, sondern das Resultat, verglichen mit dem »Energieverbrauch«: eben das »Güteverhältnis«, müßte doch wohl entscheiden. Und die Energieersparnis, welche durch die heutigen technischen »Errungenschaften« für die Herstellung von Farben für die Malerei, das Heben von Steinen für einen Monumentalbau, für die Herstellung von Kunstmöbeln usw. erzielt wird, – sie wäre das, was den eigentlichen künstlerischen »Fortschritt« in sich schließen würde, denn nur sie, nicht die Leistung des Architekten, Malers, Kunsttischlers, verbessert das »Güteverhältnis«. Für den sogenannten »Künstler« scheint sich nur, in großartigster Weise, die Predigt der »Einfachheit« in den künstlerischen Mitteln »energetisch« (aus dem Güteverhältnis)[417] begründen zu lassen. Man sieht nicht recht, warum Ostwald, nachdem er einmal sich bis zu den oben analysierten Postulaten verstiegen hatte, nicht resolut auch diese Konsequenzen gezogen hat. Es wäre die höchste Zeit! Denn es ist ja doch wirklich eine »energetisch« unerträgliche Sache zu denken, daß die Herstellung z.B. eines künstlerisch vollendeten Tisches eine Unmasse von kinetischer, chemischer, biochemischer Form- usw. Energie verbraucht hat, die sich niemals aus dem Tische zurückgewinnen läßt, der ja, energetisch gewertet, nicht mehr potentielle Kalorien repräsentiert als ein gleichgroßer Klumpen Holz: – seine spezifische, ihn zum Kunstwerkt stempelnde »Form«-Energie ist für die Energiegewinnung wertlos. Fatal, – daß die »Kunst« gerade da anfängt, wo die »Gesichtspunkte« des Technikers aufhören! Aber vielleicht steht es mit dem, was man »Kultur« nennt, überhaupt und überall so? Dann hätte O. dies erkennen und recht deutlich sagen sollen. So aber bleibt die Beziehung zwischen seinen Gedanken und den »Kulturwissenschaften« gänzlich im Dunklen. –

Doch kehren wir zu ihm zurück. – Die höchste Form der Verbesserung des Güteverhältnisses, welche die »Gesellschaft« ermöglicht, ist offenbar (S. 122) die Bildung der Erfahrungstradition durch Bildung der Allgemeinbegriffe, die, wie in letzter Instanz alle und jede Wissenschaft (S. 169.), im Dienst der Prophezeiung der Zukunft und ihrer Beherrschung durch Erfindung stehen (S. 121/2; übrigens haben – eine bedenkliche »teleologische« Erweiterung – nach S. 162 bereits die Pflanzen »Erfindungen« gemacht): das Werkzeug der Vergesellschaftung in dieser Hinsicht ist die Sprache.

Aber ach! wie kläglich ist es um sie und die Wissenschaft von ihr (Kap. IX) heute noch bestellt! Nachdem der Versuch, Lautgesetze »aufzustellen« (S. 127/128), gescheitert ist (Ostwald erscheint hier nicht ganz orientiert über den Sinn und den derzeitigen Stand dieses Problems), haben die Fachphilologen keinerlei ernstlichen Versuch gemacht, die höchste Stufe jeder Wissenschaft: künstliche Synthese von Sprachen, welche den energetischen Anforderungen (über diese siehe S. 126 unten) genügen, ihrerseits zu erklimmen. Offenbar schwebt die Analogie der Bedeutung der Synthese des Harnsalzes für die organische Chemie vor. Ungeheure Energiemengen gehen daher in direkten Sprachenkämpfen und internationalen Sprachschwierigkeiten verloren,[418] da nun einmal die natürlichen Sprachen sich als zu unvollkommen für diese Aufgabe gezeigt haben. – Das letztere ist durchaus nicht erweislich. O. weiß offenbar nicht, in welchem Sinne er den »Philologen« gegenüber in der Tat »im Rechte« ist: die Erhaltung des Latein als universeller Gelehrtensprache, die es geworden war, ist allerdings durch die Renaissance mit ihrer puristischen Ausrottung der kräftigen Entwicklungsansätze des eben deshalb als »barbarisch« verspotteten scholastischen Latein unmöglich gemacht worden. Das Fehlen einer solchen Gelehrtensprache ist in der Tat der wesentlichste zweifellose Mangel, da der Güterverkehr im Englischen ein hinlängliches Instrument besitzt. Die Ekrasierung der Natursprachen in ihren Folgen liegt nicht ganz so einfach, wie O. annimmt. Allein für die positive schöpferische Bedeutung gerade der oft so lästigen Vieldeutigkeit der naturgewachsenen sprachlichen Gebilde, die nur zum einen Teil größere Armut, zum andern aber größeren Reichtum an potentiellem Gehalt bedeutet als die abstrahierende Begriffsbildung sie erfordert und bedingt, dürfte es nach dem naturwissenschaftlich (im logischen, nicht im sachlichen Sinn) begrenzten Interessenkreis Ostwalds wohl ausgeschlossen sein, bei ihm Verständnis zu finden. – Es folgen die Kapitel über »Recht und Strafe« (X), »Wert und Tausch« (XI), den »Staat und seine Gewalt« (XII), in denen es hoch und zum Teil etwas toll, jedenfalls aber in den zugrunde gelegten Postulaten oft äußerst wenig »energetisch« hergeht und die ich, wie gesagt, meinerseits bis auf ganz wenige Einzelbemerkungen übergehe. Ostwald verkennt, wie überhaupt, so in den Bemerkungen über den Elektrizitäts-»Diebstahl« (S. 12) die Eigenart der juristischen Begriffsbildung: diese fragt (das ist neuerdings am weitaus besten von Jellinek herausgearbeitet worden) nun einmal absolut nicht darnach, ob die »energetischen«, sondern ob die von der Rechtsnorm festgestellten Merkmale (fremde bewegliche »Sache«) zutreffen, und es hat seinen sehr guten praktischen Sinn und hat mit chemischer Ignoranz gar nichts zu schaffen, wenn sie dabei die (in diesem Fall vielleicht übergroße) Neigung zeigt, formal zu verfahren und die Ausdehnung der Rechtsnormen auf »neue« Tatbestände im allgemeinen dem Gesetzgeber, nicht dem Richter, zuweist: »die Form ist die Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit«. Ob aber ein Tatbestand im Rechtssinne »neu« ist, ergibt sich niemals aus naturwissenschaftlichen[419] Erwägungen allein, sondern in erster Linie aus dem Gesamtzusammenhang der jeweils unbestritten geltenden Rechtsnormen, deren Zusammenarbeitung zu einem in sich widerspruchslosen gedanklichen System die eine (elementarste) Arbeit der Jurisprudenz ist und den primären Maßstab abgibt auch für die Entscheidung der »prima facie« (und zuweilen definitiv) in der Art ihrer Normgebundenheit zweifelhaften Fälle, wie auch der Anhänger der »freirechtlichen« Gedanken nicht prinzipiell bestreitet. Inwieweit ihr nun dabei gegebenenfalls auch einmal eine naturwissenschaftliche Anschauungsweise nützen könne, hängt gänzlich vom Einzelfall ab. Entscheidend sind aber gerade bei den nicht »vorgesehenen« Fällen letztlich stets durchaus unnaturwissenschaftliche (Wert-)Erwägungen, mag das nun dem Chemiker als »Rückständigkeit« erscheinen oder nicht. – Die Ausführungen ferner über den Sinn der »Rechtsgleichheit« (S. 142) und über die »Verhältnismäßigkeit« der Strafe (S. 143): – Forderung milderer Freiheitsstrafen gegen sozial Höherstehende, da sie davon relativ härter getroffen werden, – sind schwerlich »energetischen« Charakters, vielmehr dürften die letzteren dem sonst bei den Naturalisten so sehr als veraltet verschrienen »Vergeltungs«-Standpunkt entsprechen. Gewiß, man kann zu verwandten, aber doch im Ergebnis vielfach recht abweichenden, Resultaten auch bei »energetischer« Betrachtung kommen, aber dann müßte man das energetische »Güteverhältnis« zwischen Strafnorm und Straferfolg feststellen. Man würde dann, von Ostwalds Standpunkt aus, etwa den energetischen Aufwand für die Gewinnung der Formenergie der Gefängniswände, ferner die chemische Energie der Gefangennehmung, die biochemischen Energien der Gefängnisverwaltung auf das »Güteverhältnis« hin kritisieren und dann fragen: mit weichem Minimum von Energieaufwand der »energetische« Strafzweck: Erhaltung der Ordnung durch Beseitigung der störenden Elemente, erreicht werden könnte. Energetisch würde sich dann das »Güteverhältnis« in dieser Hinsicht günstiger stellen als bei der von Ostwald für die Träger von Mordinstinkten (warum nur dieser?) empfohlenen Kastration, wenn man sich mit dem sehr geringen Aufwand von kinetischer und Formenergie begnügte, welche die Alternative: Prügelstrafe oder Henken, ergibt. Da Ostwald insbesondere auch auf die Notwendigkeit der Erhaltung der Arbeitsenergie des Verbrechers für[420] die Gesellschaft abhebt, so würde nichts im Wege stehen, »energetisch« nach der Berufsarbeit desselben zu scheiden: Rentner, aber auch Philologen, Historiker und ähnliche Tagediebe, welche das energetische Güteverhältnis nicht verbessern, hänge man auf (und übrigens: warum, angesichts ihrer Nutzlosigkeit, nicht auch schon, ehe sie sich als Verbrecher lästig machen?), für Arbeiter, Techniker, geistig mitarbeitende Unternehmer und vor allem für die das Güteverhältnis höchstgradig verbessernden Menschen: die Chemiker, greife man zur Prügelstrafe. Wenn O. diese Konsequenzen ablehnt, so muß er sich klar sein, daß dafür doch wohl andere als »energetische« Erwägungen – und nur diese wollte doch seine Schrift bieten – maßgebend sind. Ebenso enthalten die Aeußerungen über die »Rechtsgleichheit« keinerlei »energetische«, sondern rein »naturrechtliche« Ideale, während die ebenfalls ganz dem alten physiokratischen »Naturrecht« entsprechenden Bemerkungen über den »Sinn« der Rechtsordnung (S. 26) durch ihre energetische Begründung schwerlich etwas an Ueberzeugungskraft für den gewinnen, der sie nicht ohnehin aus ganz andern Gründen teilt. Die frohe Ueberzeugung (S. 38), daß nur die »Dummheit« der Menschen das allgemeine Durchdringen des Strebens nach dem optimalen Güteverhältnis hindere, wird – leider – das Kopfschütteln der Sozialhistoriker erregen. – Diese Vermengung von Werturteilen und empirischer Wissenschaft tritt eben überall in fatalster Weise hervor. Daß das Verhältnis von Bedürfnis und Kosten nun einmal kein »energetisch« zu definierendes ist, könnte schließlich auch ein Dilettant wie Ostwald einsehen, wenn man ihm auch die ganz wertlosen, mit der Denkweise der Scholastik identischen Erörterungen über den ökonomischen Wertbegriff und das justum pretium (S. 152) gern zugute halten wird, – da hier auch »intra muros« genug pecciert wird. Daß endlich der Satz (S. 55): das »allgemeine Problem der Lebewesen« besteht darin, »sich eine möglichst lange Dauer zu sichern, wobei die Gattung als Gesamtwesen aufzufassen ist« (sic!), nicht energetischer Provenienz ist, wird er sich selbst sagen. Aber dann hätte er sich wohl die Frage vorlegen dürfen, woher alsdann jener kategorische Imperativ des »wobei«-Satzes seine Legitimation nehmen soll? Was schert mich »die Gattung«? Auf diese praktische Frage dürfte eine Naturwissenschaft sich doch wohl überhaupt nicht anmaßen wollen, die maßgebliche Antwort zu erteilen; am allerwenigsten aber ist[421] ersichtlich, wie aus irgendeinem energetischen »Güteverhältnis« irgendeine ethische Pflicht, sich so oder so zur »Gattung« zu verhalten, gefolgert werden könnte.

In den Erörterungen des letzten Kapitels (Die Wissenschaft), welche der Pädagogik gewidmet sind, tritt zunächst in den Behauptungen auf S. 182 eine gewisse Unorientiertheit Ostwalds über den Stand der wissenschaftlichen Pädagogik hervor. Den Bemerkungen über den Religionsunterricht (in der Anmerkung das.) wird jeder nicht durch konfessionelle oder andere autoritäre Interessen Gebundene natürlich beistimmen; dagegen liegt die Frage der Stellung der alten Sprache gerade von seinem eigensten Standpunkt aus durchaus nicht so einfach, wie er annimmt. Mir ist es sehr eindrücklich gewesen, als – freilich im Gegensatz zu der offiziellen katholischen Stellungnahme – ein besonders eifriger Pädagoge streng klerikaler Richtung mir seine Vorliebe für eine möglichst rein naturwissenschaftliche Jugendbildung (neben der religiösen) auseinandersetzte, von der er (m. E., nach dem ganzen Geist des modernen Katholizismus und seiner Anpassungsfähigkeit, mit gutem Grund) keinerlei Schädigung seiner Konfessionsinteressen, wohl aber die Ausrottung der freiheitlich-»subjektivistischen« und ihre Ersetzung durch »organische« Ideale im Sinne des Thomismus erwartete, – während andererseits bekanntlich Gelehrte ersten Ranges, deren leidenschaftliches Interesse für »technischen Fortschritt« auch Ostwald voll genügen würde, in eingehender Begründung aus ihren Seminarerfahrungen mit »gymnasial« und mit »real« vorgebildeten Schülern die fast stets geringere Denkschulung der letzteren – schließlich doch das auch »energetisch« entscheidende Moment – hervorgehoben haben. Ganz einfach liegen also diese Dinge jedenfalls nicht. Wenn man (S. 180) »Charakterbildung« mit »Entwicklung der sozialen Eigenschaften« und diesen vieldeutigen Begriff seinerseits, wie bei Ostwald zweifellos, mit: »energetisch (d.h. technisch) nützlichen Eigenschaften« identifiziert, so hat das Konsequenzen, die leider sehr viel weiter, als Ostwald ahnt, davon entfernt sind, »Freiheit des Denkens und der Gesinnung« zu erzielen, wie sie der Schlußsatz des Buches (S. 184) als Folge der Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse erwartet. Denn ein Apostel der »Ordnung« und der Vermeidung »energievergeudenden« Echauffements für andere als technologische Ideale, wie es Ostwald ist und konsequenterweise[422] sein muß, verbreitet – ob er will oder nicht (und wahrscheinlich geschähe dies sehr gegen Ostwalds Willen) – unvermeidlich eine Gesinnung der Fügsamkeit und Anpassung gegenüber den gegebenen sozialen Machtverhältnissen, wie sie den matter-of-fact-men aller Epochen gleichmäßig eigentümlich war. Freiheit der Gesinnung ist nun einmal sicherlich kein technologisch oder utilitarisch wertvolles Ideal und »energetisch« nicht begründbar. Und ob mit der Unterstellung alles Fortschrittes des wissenschaftlichen Denkens unter den Wertmaßstab: praktische »Beherrschung« der Außenwelt, den Interessen der Wissenschaft – sogar auch im Sinn dieses selben Maßstabes – dauernd gedient wäre, steht nicht fest. Es ist doch nicht ganz zufällig, daß nicht der Erzvater dieses wissenschaftstheoretischen Standpunktes: Bacon, sondern daß darin ganz anders gerichtete Denker es waren, welche die methodischen Grundlagen der modernen exakten Naturwissenschaften schufen. Das, was man heute: »Suchen nach der wissenschaftlichen Wahrheit um ihrer selbst willen« nennt, nannte z.B. Swammerdam in der Sprache der damaligen Zeit: »Nachweis der Weisheit Gottes in der Anatomie einer Laus«; und der liebe Gott hat als heuristisches Prinzip damals gar nicht so übel funktioniert. Andererseits ist selbstredend zuzugeben, daß weiterhin ökonomische Interessen es gewesen sind und noch sind, welche Wissenschaften wie der Chemie (und manchen anderen Naturwissenschaften) den nötigen Dampf gaben und geben. Aber soll man dieses faktisch für die Chemie wichtigste Agens heute ebenso zum »Sinn« der Arbeit der Wissenschaft machen, wie früher den lieben Gott und seinen »Ruhm«? Dann wäre mir der letztere lieber! –

Wenn die vorstehenden Bemerkungen den Anschein erweckt haben sollten, als hielte ich die energetische Betrachtungsweise für gänzlich unfruchtbar für unsere Disziplin, so entspräche dies nicht meiner Ansicht. Es ist durchaus in der Ordnung, daß man sich jeweils auch darüber klar wird, wie sich denn die physikalischen und chemischen Energiebilanzen technischer und ökonomischer Entwicklungsvorgänge gestalten. Ostwald wird mit der Erwähnung, daß Ratzel von solchen Erörterungen mit ihm Nutzen gezogen habe, sicherlich vollkommen recht haben: es wird auch uns anderen so gehen, und gerade seine allgemeine Bemerkung (S. 3), daß es notwendig sei, alle die besonderen Aussagen festzustellen, welche sich aus der Anwendung der Energiegesetze[423] auf die sozialen Erscheinungen ergeben, verdient vorbehaltlose Zustimmung. Aber, wenn er dann (S. 3) sofort hinzufügt: daß es sich dabei um eine »Grundlegung« der Soziologie vom Gesichtspunkt der Energetik aus handle, so ist dies eben eine Folge der verfehlten Comteschen Wissenschaftsschematik. Gerade die konkreten Einzelergebnisse der chemischen, biologischen (usw.) Arbeit sind es, die, wo sie in unsere Betrachtung hineinragen, unser Interesse erregen, – die grundlegenden Theoreme dagegen nur ganz ausnahmsweise und niemals als essentielle »Grundlage«, wie schon oben dargelegt wurde. Dieser Sachverhalt pflegt den Vertretern der Naturwissenschaften stets auffallend schwer begreiflich zu sein, – aber er sollte eigentlich einen auf dem Standpunkt der »Denkökonomie« stehenden Denker nicht überraschen. Es ist ferner durchaus nicht zu leugnen, daß die Terminologie mancher Disziplinen, z.B. der unsrigen in der ökonomischen Produktionslehre, entschieden durch Berücksichtigung der physikalischen und chemischen Begriffsbildung an Eindeutigkeit gewinnen würde. Aber Ostwald überschätzt alle diese Gewinnste denn doch in einer so lächerlichen Weise, daß er vielfach den Spott aller mit den wirklichen Problemen der »Kulturwissenschaften« einigermaßen Vertrauten geradezu herausfordert. Wenn die vorstehende Besprechung hie und da ihrerseits, – angesichts der Behandlungsweise, die unsere Probleme bei Ostwald erfahren, noch in äußerst bescheidenem Umfang, – einen etwas scherzhaften Ton anschlug, so möge man das nicht mißverstehen. Ich habe guten Grund, nicht mit Steinen nach Leuten zu werfen, welche bei Ueberschreitung ihres engsten Fachgebietes einige faux pas machen, denn dieses Experimentieren mit den eigenen Begriffsbildungen auf Grenz- und Nachbargebieten ist heute zunehmend unvermeidlich, so leicht dabei Fehler unterlaufen. Aber angesichts des maßlosen Hochmuts, mit welchem Vertreter der Naturwissenschaften auf die Arbeit anderer (namentlich: historischer) Disziplinen, die andern methodischen Zielen entsprechend andere Wege gehen müssen, zu blicken pflegen, ist es am Platz festzustellen, daß auch für einen so bedeutenden Denker, wie Ostwald es ist, Chwolsons »12. Gebot« zu Recht besteht. Ostwald ist in seinen Informationsquellen sehr schlecht beraten gewesen und hat außerdem, durch Hineinmischung seiner praktischen Lieblingspostulate auf allen möglichen politischen (wirtschafts-, kriminal-,[424] schulpolitischen usw.) Gebieten in die, bei rein wissenschaftlicher Fragestellung, streng sachlich auf die kausale Tragweite der energetischen Beziehungen und die methodische Tragweite der energetischen Begriffe zu beschränkende Untersuchung, seiner eigenen Sache nur geschadet. Jene Postulate sind nun einmal aus »energetischen Tatbeständen« heraus nicht entscheidbar und werden von ihm selbst auch aus ganz anderen Prämissen entschieden.

Das ist, bei allen Meinungsverschiedenheiten, bedauerlich. Unbeschadet der rücksichtslosesten Kritik jener zahllosen grotesken Entgleisungen, die auf 2/3 aller Seiten dieser zum Erbarmen schlechten Schrift passieren (hier sind noch nicht 10% davon zur Darstellung gebracht worden), ist und bleibt eben Ostwald doch ein Geist, dessen erfrischende Begeisterung ebenso wie sein von jeder dogmatischen Erstarrung frei gebliebener Sinn für moderne Probleme es jedem zum Vergnügen machen müßte, auf dem großen Problemgebiet: »Technik und Kultur« mit ihm gemeinsam zu arbeiten. Wenn hier auf diese Schrift so umfänglich eingegangen wurde, so hat dies übrigens nicht allein in der Bedeutung ihres Verfassers, sondern auch darin seinen Grund, daß sie, mit Vorzügen und Schwächen, ein »Typus« ist für die Art, wie der »Naturalismus«, das heißt: der Versuch, Werturteile aus naturwissenschaftlichen Tatbeständen abzuleiten, überhaupt (gröber oder feiner) ein- für allemal verfährt. Aus den Irrtümern sonst bedeutender Gelehrter lernt man oft mehr, als aus den Korrektheiten von Nullen. Wesentlich um ihrer charakteristischen und typischen Irrtümer willen ist die kleine Mißgeburt hier so eingehend behandelt worden. Es kommt keinem Historiker, Nationalökonomen oder anderen Vertreter »kulturwissenschaftlicher« Disziplinen heute die Anmaßung bei, den Chemikern und Technologen vorzuschreiben, was für eine Methode und welche Gesichtspunkte sie anzuwenden hätten. Daß sich die Vertreter dieser Disziplinen nachgerade ebenso zu bescheiden lernen, – dies ist Voraussetzung fruchtbaren Zusammenarbeitens, welches niemand mehr wünschen kann als der Ref. Denn solange ihnen nicht einmal die grundlegende Erkenntnis zum Gemeingut geworden ist: daß gewisse historisch gegebene und historisch wandelbare gesellschaftliche Bedingungen, d.h. Interessenkonstellationen bestimmter Art, es waren und sind, welche die Verwertung [425] technischer »Erfindungen« überhaupt erst möglich gemacht haben, möglich machen und möglich (oder auch: unmöglich) machen werden, – daß mithin von der Entwicklung dieser Interressenkonstellationen und keineswegs von den rein technischen »Möglichkeiten« allein es auch abhängt, wie sich die Zukunft der technischen Entwicklung gestalten wird, – solange ist eine fruchtbare Auseinandersetzung nicht möglich.


Fußnoten

1 Wilhelm Ostwald, Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft (Philosophisch-soziologische Bücherei, red. v. Rud. Eisler, Wien, Band XVI). W. Klinkhardt, Leipzig, 1909, 184 S. kl. 8°.


2 Wir nehmen als Beispiel eine gedrängte Analyse von E. Solvay, Formules d'introduction à l'Énergétique physio- et psycho-sociologique (Institut Solvay, Notes et Mémoires, Fasc. I, 1906): Der jeweilige energetische Ertrag (rendement = R) eines lebenden Organismus ergibt sich aus der Formel: R = E1/Ec = Ec - (Ef + Er)/Ec, wobei Ec die respiratorisch oder durch Nahrung, Belichtung usw. aufgenommenen Rohenergien (E. consommées), Ef die jeweils morphologisch fixierten (E. fixées), Er die als Rückstände unverwerteten (E. rejetées), El (E. liberées) endlich die durch die Oxydationsprozesse des Organismus freigesetzten Energien bezeichnet. Der für das Rendement entscheidende Bruch E1/Ec bessert sich von der Kindheit (wo Ef sehr groß ist) bis zum Vollwachstum auf das Optimum und sinkt mit dem Alter durch Wachstum von Er (wegen wachsender Unfähigkeit zur Verwertung aufgenommener Energien) wieder. Vom »Standpunkt der Soziologie« kommt nun aber für die Berechnung des energetischen Reinertrags eines Organismus, insbesondere des Einzelmenschen nur ein Bruchteil der gesamten freien organischen Energien = E (Energies utilisables) in Betracht: diejenige Quote nämlich, welche für Arbeit verwertbar ist, im Gegensatz zu dem in Wärme umgesetzten Bruchteil Et, welcher unverwertet bleibt wie bei jeder Maschine. Diese »Nutzenergie« des Individuums ist aber ferner nicht durchweg soziale Nutzenergie (E. socioénergétique), da die Individuen ja zunächst ihr »physio-energetisches« Eigeninteresse verfolgen und also nur ein Bruchteil ihrer Nutzenergie sozial nutzbar gemacht wird. Für jede Zeitdauer t ist also durch Multiplikation der individuellen Nutzenergie mit dem je nach dem Grade der sozialen Nutzenergie abgestuften Koeffizienten u die »socio-utilisabilité« des Individuums festzustellen. Es ergibt sich alsdann für die Zeitdauer T des gesamten Lebens eines Individuums die Größe: ɲu Eu t. Durch Addition des einfachen energetischen Rendements aller Individuen einer Gesellschaft in einer Zeiteinheit, Ermittlung des Durchschnittsbruches U, welchen ihre Sozialnutzbarkeit etwa ausmacht, und Division des Produktes von U mit der Summe der energetischen Einzelrendements durch die Summe der von der Gesellschaft während dieser Zeiteinheit konsumierten Energien läßt sich die Formel für Rs (Rendement social = Sozialnutzfähigkeit aller Individuen in dem gegebenen Moment) ermitteln: = U (E - [E + ER + ET])/Ec.

Objekte, welche nicht physio-energetischen Charakters sind, d.h. deren Konsum nicht in Energiezerstörung im Interesse des Organismus besteht, die aber doch das Rendementsverhältnis beeinflussen, können dabei, im Prinzip, dadurch in diese Formel eingefügt werden, daß sie als entsprechende Vermehrungen oder Verminderungen von Ec (der zur Verwendung zur Verfügung stehenden Rohenergien) betrachtet, also der durch Nahrungskonsum (dem eigentlichen Typus energetischen Konsums) verbrauchten Energie gleichgestellt werden. Ja selbst für Bedürfnisse, welche purement d'ordre imaginatif ou moral seien, glaubt S. dies behaupten zu dürfen (S. 12). Und sogar die »mißbräuchlichen«, d.h. von dem als Durchschnitt sich ergebenden Konsum des »homme normal« abweichenden Konsumtionen lassen sich in die Formel aufnehmen. Dann nämlich, wenn man berücksichtigt, daß ein solcher énergétisme excessif einzelner zwar unter Umständen sich als »énergétisme privatif« zuungunsten der Gesamtheit äußern kann, daß er aber unter andern Umständen: wenn es sich nämlich um »hommes capables« handelt, die als Entgelt für ihren Ueberkonsum eine höhere energetische Leistungsquote einbringen, keineswegs antisozial sein, sondern im Effekt das energetische Rendement der Gesellschaft verbessern kann. Also: die energetischen Formeln und die in der Energetik üblichen Maßeinheiten (Kilogrammeter, Kalorien usw.) sind generell anwendbar.

Man hüte sich – um zunächst mit einigen Worten zu diesem Teile der Ausführungen Stellung zu nehmen – vor allem vor dem Glauben, daß die absolute Nichtigkeit von Solvays ganzer Konstruktion etwa darin bestehe, daß seine Formeln der Kompliziertheit der Phänomene nicht genügend Rechnung trügen. Auf einen solchen Einwand würde S. stets mit Recht antworten können, daß durch Einführung immer weiterer Variabler eine Integration schließlich »im Prinzip« für jede noch so verwickelte Konstellation möglich sei. Auch daß man viele seiner Koeffizienten niemals exakt, manche gar nicht, quantitativ messen kann, ist kein »prinzipieller« Fehler. Denn z.B. die Grenznutzlehre benutzt die Fiktion rein quantitativer Meßbarkeit von Bedürfnissen mit vollem methodischem Recht, – warum mit Recht? steht hier nicht zur Erörterung. Sondern die völlige Wertlosigkeit des Ganzen beruht auf dem Aufnehmen von Werturteilen schlechthin subjektiven Charakters in die scheinbar so streng »exakten« Formeln. Der »point de vue social«, die socio-utilisabilité eines Menschen (diese Qualität selbst und natürlich erst recht der Grad derselben) und alles was daran hängt, sind ja lediglich nach den gänzlich subjektiven Idealen bestimmbar, mit denen der einzelne an die Frage nach dem Seinsollen der gesellschaftlichen Zustände herantritt: Unzählige Nuancen der zahlreichen möglichen Wertmaßstäbe und eine noch unendlichere Schar von Kompromissen zwischen den zahllosen möglichen, miteinander konkurrierenden oder als unerwünschtes Mittel zu dem gewünschten Zweck, als ungewollter Nebenerfolg neben dem beabsichtigten Erfolg miteinander direkt kollidierenden Wertmaßstäben kommen dabei in Betracht und sind natürlich untereinander absolut gleichberechtigt, solange nicht einer der beiden vom Positivismus angeblich überwundenen Glaubens-Faktoren: der »theologische« oder der »metaphysische«, durch eine Hintertür wieder eingeführt wird. Denn geschieht dies nicht, so ist die Frage, ob ein Individuum, welches einen énergétisme excessif entwickelt: Gregor VII., Robespierre, Napoleon, August der Starke, Rockefeller, Goethe, Oskar Wilde, Iwan der Schreckliche usw., trotzdem vom »sozio-engergetischen Standpunkt« aus, »rentabel« gewesen sei, und gar die entscheidende weitere Frage: in welchem Grade diese und die zahllosen näheren oder entfernteren Annäherungen an solche Typen »rentabel« oder »unrentabel« seien, natürlich nur durch objektives Werturteil entscheidbar. Es ist eine läppische Spielerei, für dies Werturteil mathematische Symbole zu erfinden – die ja, hätten solche Kunststückchen überhaupt Sinn, für jedes einzelne wertende Subjekt – z.B. sicherlich für Herrn Solvay einerseits, mich andererseits – gänzlich andere Koeffizienten haben müßten! – Und vollends toll ist es alsdann, indem man dies leere Stroh drischt, sich so zu gebärden, als würde etwas »Wissenschaftliches« dargeboten. Daß diese ganze Leistung Solvays keinen Schuß Pulver wert ist, mußte also schon hier konstatiert werden, obwohl erst jetzt (S. 15) diejenigen Partien beginnen, wo S. selbst Schwierigkeiten für die Anwendbarkeit seiner Formeln als vorhanden anerkennt. Es handelt sich nämlich nunmehr um die »phénomènes d'ordre intellectuel«. Sie entsprechen, sagt S. – »considérés en eux mêmes« –, keiner für ihre Charakterisierung spezifischen quantitativen Energieentwicklung, sondern stellen in Wirklichkeit (»essentiellement«) eine Succession von jeweiligen Verteilungszuständen der neuro-muskulären Energie dar. (Die Anschauungsweise ist ein bekanntes Surrogat des strengen »psychophysischen Parallelismus«). Der gleiche quantitative Energieverbrauch kann daher Leistungen von sehr verschiedenem Werte (valeur) repräsentieren. Und dennoch müssen (NB.: par ordre de qui?) sie sich den Formeln einfügen lassen und diese quantitativ meßbar sein, – da sie ja (sic!) in der Soziologie eine so große Rolle spielen (und, wie zur logischen Vollständigkeit dieses Schlusses hinzuzufügen wäre, a priori feststeht, daß die Soziologie mit energetischen Formeln auskommen muß). Und in der Tat ist die Sache ja auch sehr einfach: man kann zwar nicht sie selbst und will nicht die sie (im Sinn des gewöhnlichen psychophysischen Parallelismus) begleitende (concomitante), aber nicht für sie charakteristische Energieentwicklung messen, – aber ihre Wirkung (effet) kann man ja doch messen. Und nun folgt eine Serie der ergötzlichsten Koboldsprünge. Wie mißt man wohl den »effet« z.B. der Madonna Sistina oder eine Produktion der »Rinnsteinkunst«? Da S. sich scheut, sich und andern offen einzubekennen, daß »effet« hier lediglich erschleichungshalber statt des vorher gebrauchten mehrdeutigen Wortes »valeur« steht, so wird folgende Argumentation angestellt: der »normale« Zweck des »effort cérébral« besteht beim »normalen« Individuum und deshalb (NB.!) auch beim (normalen) Kollektivindividuum: der »Gesellschaft«, in der Selbsterhaltung, d.h. dem Schutz gegen physische und »moralische« (sic!) Schädlichkeiten. Also (!) bedeutet der normale Effekt der Gehirnanstrengung stets (NB.!) eine energetische Rendementsverbesserung. Das ist nicht nur bei den technischen Erfindungen und nicht nur beim intelligenten gegenüber dem unintelligenten Arbeiter der Fall, sondern auch außerhalb der intellektuellen Sphäre. Die Musik z.B. ruft Gehirnzustände hervor, welche Modifikationen der Oxydationsprozesse bewirken, die ihrerseits dem Zweck besserer Ausnutzung der freigesetzten organischen Energie dienen (vermutlich also der besseren Verdauung u. dgl., obwohl allerdings früher S. die Wirkung der Ideo-Energie auf die Größe von Err, d.h. die Fäkalien- Ausscheidung für nicht erheblich erklärt hatte). Also ist ihre energetische Bedeutung erwiesen, und sie unterliegt folglich, wie alle ihresgleichen, »im Prinzip« der Meßbarkeit, – und damit sind wir glücklich wieder im schönen Reich der El- und Eu-Formeln angelangt. Freilich: es gibt da viele Koeffizienten, für die noch erst die Maßeinheiten zu finden sein würden: z.B. – nach Solvay – die Zahl der in einer Zeiteinheit möglichen Ideen usw. Auch gibt es Schöpfungen des Intellekts oder der Kunst, bei denen der Gewinn potentiell bleibt und noch andere, die ein Defizit aufweisen, also sozialschädlich sind. (S. denkt hier vielleicht an die Selbstmorde aus Anlaß des Werther, welche dessen energetischen Wert beeinträchtigen.) Aber jedenfalls, so meint er, kann auf Grund der Wertungsnorm (direkte oder indirekte Verbesserung des sozio-energetischen Rendements) jeder Mensch (sic!) »im Prinzip« genau nach dem (natürlich während seines Lebens wechselnden) Maß seines psycho-energetischen – positiven oder negativen – sozialen Wertes kalkuliert (sic: »calquer!«) werden, ganz ebenso wie sein physio-energetischer Wert (s. früher) kalkulierbar ist. Diese »prinzipielle« Möglichkeit aber ist von ungeheurer Wichtigkeit, um so mehr, als natürlich, »im Prinzip«, auch die Kalkulation solcher »Ideoenergien«, die – infolge der Unreife der Zeitgenossen – erst nach Jahrhunderten wirksam geworden sind, möglich ist. Zum Glück für den Autor aber »gehört es nicht in seine Arbeit«, die Methode zu untersuchen, wie denn nun die Bemessung der valeurs physio- et psycho-énergétiques in Angriff genommen werden solle, – jedenfalls umfassen die großen Linien (S. 21), mit deren Zeichnung sich diese wie jede ähnliche naturalistische Selbsttäuschung begnügt, nach seiner Ansicht »tout l'ensemble des recherches sociologiques proprement dites«.

Es folgt die Bemerkung, daß natürlich hinter den heutigen »Preis«-Erscheinungen der Tauschwirtschaft sich als »endgültiger« Wertmesser die Kalorien und Oxydationsprozesse verbergen, welche, direkt oder indirekt, in Gestalt der Tauschgüter dem Organismus zugeführt werden. Daß man den Sauerstoff der Luft, so lange Landüberfluß herrscht, auch nicht einmal indirekt (im Grundwert) kauft und daß andererseits die »Oxydationsprozesse«, auf welche man z.B. beim Ankauf eines »echten« Perserteppichs nach Solvay in Wahrheit spekulieren müßte, in Wirklichkeit ein Vexierwort für gänzlich subjektive Güterschätzungen von Individuen sind – denen, nach seinem eigenen Zugeständnis (s. o.), kein Energiequantum eindeutig entspricht – ganz ebenso wie alle andern »sozialen« Werte Resultate solcher darstellen – dies und alles, was sonst ein Student der Nationalökonomie im ersten Semester zu diesem Unfug zu sagen hätte, stört unsern Autor nicht. Wie wir gleich anfangs von »valeur« – das heißt dort doch wohl: vom ästhetischen Wert – zum »effet« – den Oxydationsfolgen – des Kunstwerkes voltigierten, so führt uns die Betrachtung jetzt zu dem Ergebnis, daß die physio- und psycho-energetische Rendements-Verbesserung des »homme moyen« das entscheidende Mittel zur Besserung des Rendements der Gesellschaft selbst sei. Also haben die Kalkulationen dieses »Produktivismus« dem Gesetzgeber die Wege zu weisen, damit das »rendement normal« erreicht werde, welches seinerseits von dem Bestehen der »humanité normale«, d.h. der Ergänzung von »hommes idéalement sains et sages« abhängt, die nicht mehr tun, als eben zur Erhaltung ihres eigenen persönlichen rendement normal erforderlich ist und dabei das »gesellschaftlich notwendige« Minimum ihrer Energie sozialen Zwecken zur Verfügung stellen.

Da jede soziale Gruppe eine chemische Reaktionseinheit darstellt, und da die Zeit nicht fern ist, wo jeder Vorgang im Universum seine energetische Bewertung (évaluation énergétique) empfangen haben wird, ist nach Solvays Ansicht auch der Tag, wo eine solche normative »positive« Soziologie möglich sein wird, nicht mehr fern, – »im Prinzip«, darf man auch hier wohl hinzusetzen! Von den praktischen Vorschlägen S.s schweigen wir hier. Sein »Produktivismus« und ebenso sein »Komptabilismus« verhält sich an geistigem Gehalt zu den Konzeptionen des klassischen französischen Utopismus, etwa zu den Ideen Proudhons, ungefähr ebenso spießbürgerlich epigonenhaft wie sich zu den Gedankengängen Quetelets und Comtes die »Leistungen« verhalten, die wir vorstehend kennen lernten.

Ostwald selbst bleibt in der hier besprochenen Schrift an Konsequenz stark hinter diesen »Leistungen« zurück, obwohl oder vielmehr: weil er sie an »bon sens« übertrifft. Die Bemerkungen Solvays über das Fehlen eindeutiger Korrelation zwischen »geistigem« Inhalt und quantitativen Energierelationen z.B. finden wir in seiner hier besprochenen Schrift nirgends beachtet.


3 Ch. Henry, Mésure des Capacités intellectuelle et énergétique, Heft 6 der Notes et Mémoires.


4 Ob, beiläufig bemerkt, ein moderner Chemiker von »psychischer Energie« sprechen sollte, wie Ostwald es zu tun pflegt, ist eine Frage für sich. Jedenfalls wird, auch wer auf dem Standpunkt psychophysischer Kausalität steht, also den »Parallelismus« verwirft, das, was Ostwald unter »psychologischen« Vorgängen versteht, nämlich: »Gedanken« kaum als »energetisch« bewertbar verstehen können, wie Ostwald dies teils explicite, teils implicite tut. Ueber Sätze vollends wie den (S. 97 Anm.): – »Gedanken können (sic!) unräumlich aufgefaßt (sic!) werden, doch bestehen (sic!) sie nicht ohne Zeit und Energie und sind (sic!) subjektiv« – wollen wir lieber den Schleier der Liebe decken. Man mag zu der Psychologie von Münsterberg als Ganzem stehen wie immer, – für Ostwald wären immerhin einige ihrer Kapitel eine recht nützliche Lektüre. Der »Energetiker« hat es dem Sinn seiner Methodik nach nur mit »objektiven« Nerven- und Gehirnleistungen, die Quantitäten darstellen, der Hauptsache nach also mit chemischen Energien zu tun und überhaupt nicht mit »Subjektivitäten«. Denn zwischen solchen und quantitativen »energetischen« Relationen kann es kein durch die qualitative Eigenart der ersteren (den »Inhalt« des Gedankens) bestimmtes Unwandlungsmaß geben – wie dies doch zum begrifflichen Wesen jeder »Energie« gehört. Gesetzt, es gelänge z.B., einen Ausschlag in der Energiebilanz für »seelisch« bedingte Vorgänge zu finden und man setzte die »introspektive« Erkenntnis als spezifisches »Sinnesorgan« für die »psychische« Energie und die wechselnden »Inhalte« der »Umwandlungen« derselben (das wäre nach Ostwald S. 98 schon deshalb nötig, weil sonst psychische Vorgänge überhaupt nicht unter den Begriff des Geschehens fielen), – so würde ja doch auch das sinnloseste Geschwätz und Getue eines Paranoikers in bezug auf das energetische Güteverhältnis »innerhalb der Epidermis« in gar nichts von der höchstwertigen geistigen Leistung zu unterscheiden sein und erst recht (diese Selbstverständlichkeit ist immer wieder der entscheidende Punkt) keinerlei »energetisches« Güteverhältnis als Maßstab z.B. für ein »richtiges« und ein »falsches« Urteil gegeben sein. Beide erfordern einen energetischen Aufwand und gar nichts macht es wahrscheinlich, daß sich dieser beim »richtigen« Urteil in bezug auf das biochemische »Güteverhältnis« oder sonstwie von den Verhältnissen beim »unrichtigen« Urteil unterscheidet. Auch kann das »Güteverhältnis« nicht etwa – wie nur der Sicherheit halber, gegenüber einem bekannten Standpunkt, der, wie auch Solvay (s. o. Anm. S. 402) das »Wahre« mit dem »Nützlichen« identifiziert, gleich gesagt sei – durch eine »energetische« Probe in der »Außenwelt« hereingezogen werden. Denn es gibt viele zweifellose Wahrheiten, deren utilitarische Kostenbilanz »energetisch« so gewaltig durch Energievergeudung (chemische Energie: Scheiterhaufen, biochemische und kinetische: Parteiorganisation und Kriege usw.) belastet ist, daß sie dieses Defizit schwerlich je durch Verbesserung irgendeines energetischen Güteverhältnisses einbringen, zumal es unter ihnen auch solche Wahrheiten gibt, die auf dieses »Güteverhältnis« gänzlich ohne Einfluß sind.

Ostwald teilt jene utilitarischen Erkenntnistheorien offenbar nicht, nur hält er alle nur historischen, d.h.: nicht paradigmatischen, Wahrheiten (S. 170) ganz mit Recht für technisch, deshalb aber auch für wissenschaftlich wertlos. Sein eigenes, höchst lesenswertes Buch »Große Männer« behandelt denn auch 1. als solche nur die großen Verbesserer energetischer Güteverhältnisse und 2. diese wesentlich als Paradigma für die praktische Frage: welcher Lehrgang befähigt zum Dienst an der Verbesserung des Güteverhältnisses; sie will also keine historische, sondern eine didaktische Leistung sein (im übrigen wird seine rein »heroistische« Darstellung dem Einfluß der treibenden Kräfte der wissenschaftlichen Entwicklung wenig gerecht: es ist bekanntlich zunehmend die Regel, daß wichtige Entdeckungen von mehreren ganz unabhängig voneinander gemacht werden und immer mehr nur Zufall über die, als einzig in Betracht kommendes Ziel, leidenschaftlich umstrittene »Priorität« entscheidet). Die Historiker und ihresgleichen wird Ostwalds etwas naives Banausentum – denn so werden sie es empfinden müssen – wohl ziemlich kühl lassen, jedenfalls aber hätte z.B. Rickert sich ein besseres Paradigma spezifisch »naturwissenschaftlichen« Denkens (im logischen Sinn) gar nicht wünschen können.

Genug: auch durch Einbeziehung des Psychischen in die Energetik – deren Möglichkeit Ostwald in diesem Buch nur (S. 70) andeutet, während er andrerseits auch wieder betont: die Grenzen seiner Betrachtung lägen eben da, wo »psychologische« Faktoren hineinspielten – wäre wohl verzweifelt wenig für eine »Grundlegung der Kulturwissenschaft« (in Ostwalds Sinn) auszurichten. Und wie soll diese Einbeziehung durchgeführt werden? Wie unendlich kompliziert, »energetisch« betrachtet, das Hineinspielen des »Psychischen« in die Psychophysik der Arbeit sich gestaltet, habe ich anderwärts mir und den Lesern des Archivs für Sozialwissenschaft im Anschluß an Kraepelins und andrer Arbeiten zu vergegenwärtigen gesucht, soweit ein Laie das kann. Aber diese Seiten des psychophysischen Problems meint Ostwald offenbar überhaupt nicht. Sollte ihm etwa die wissenschaftlich erledigte Lehre Wundts von dem »Gesetz der Vermehrung der psychischen Energie« vorschweben, welche die »Steigerung« dessen, was wir den »geistigen Gehalt« eines kulturrelevanten Vorgangs nennen (also eine Wertung), mit den psychischen Seinskategorien konfus ineinander schiebt, so müßte uns der Unfug, den Lamprecht damit angerichtet hat, ein warnendes Beispiel sein. Die S. Freudschen Lehren endlich, wel che in ihren ersten Formulierungen eine Art von »Gesetz der Erhaltung der psychischen (Affekt)-Energie« zu statuieren schienen, sind – welches auch sonst ihr psychopathologischer Wert sein möge – inzwischen von ihrem eigenen Urheber derart umgestaltet worden, daß sie jede Schärfe im »energetischen« Sinn verloren haben, in jedem Fall für den strengen Energetiker mindestens zunächst noch nicht verwertbar sind. Sie würden auch, falls sie dies je werden sollten, ihrer Eigenart entsprechend, natürlich auf keinen Fall eine Legitimation für die Konfiskation aller bisher für die »Energetik« nicht faßbaren Gesichtspunkte der »Kulturwissenschaften« zugunsten irgendeiner »Psychologie« als Generalnenner abgeben. Genug davon. Es kam für uns darauf an, im allgemeinen den methodologischen Ort zu bestimmen, an welchem der Verf. den Geltungsbereich seiner Gesichtspunkte auf theoretischem Gebiet (vom praktischen war schon die Rede) überschreitet.

Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 426.
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