Ausschweiffung

[115] Ausschweiffung. (Schöne Künste)

Eine kurze Unterbrechung der eigentlichen Folge der Begriffe durch Einführung fremder Vorstellungen, welche der Hauptsache nur mittelbar nützlich sind. Die Alten betrachteten die Ausschweiffung, welche bey den griechischen Grammatikern παρεχρασις genennt wird, nur, als einen rhetorischen Kunstgriff. Quintilian sagt deshalb, sie sey die Einmischung fremder, aber der Hauptsache nützlicher Vorstellungen. Alienae rei, sed ad utilitatem causae pertinentis, extra ordinem excurrens tractatio. Dahin rechnet er den Kunstgriff, da der Redner mitten in der Hauptsache etwas einmischt, das der Sache zwar fremd ist, aber den Richter auf eine vortheilhafte Weise für die Hauptsache einnimmt.

Allein die Ausschweiffung erstrekt sich weiter, und wird auch von Dichtern und andern Künstlern gebraucht. So hat Milton im Anfang des IV. B. eine Ausschweiffung angebracht, da er uns von seinem Inhalt auf sein verlohrnes Gesichte bringt.

Jede Ausschweiffung unterbricht den Zusammenhang der Hauptvorstellungen, und muß demnach mit großer Behutsamkeit angebracht werden, wenn sie nicht nur der Hauptsache nicht schaden, sondern Vortheil bringen soll. Sie thut die beste Würkung, wenn man vermuthen kann, daß durch das, was zur Hauptsache gehört, die Vorstellung, die man hat erweken wollen, ganz oder größtentheils bewürkt ist. Alsdenn muß man ihr etwas Zeit lassen, ihre völlige Kraft zu erhalten. Wenn man in diesem Fall nichts mehr zu sagen hat, so kann man durch eine Ausschweiffung den Leser oder Zuhörer in der guten Verfassung, darin man ihn gesetzt hat, unterhalten, und ihr den letzten Nachdruk geben.

So wie die Ueberzeugung nicht allemal aus der Kraft der Beweise entsteht, sondern ofte von einem vortheilhaften Einfluß des Herzens auf die Vorstellungskraft; so kann eine geschikte Ausschweiffung, wodurch das Herz an der rechten Sehne gerühret wird, den Vorstellungen einen großen Nachdruk geben.

In scherzhaften Werken, die blos das Ergötzen zur Absicht haben, kann man am leichtesten ausschweiffen. La Fontaine hat seinen Fabeln und seinen Histörchen die größte Annehmlichkeit durch artige Ausschweiffungen gegeben. In Werken von ernsthafterm Inhalt können die Ausschweiffungen bisweilen auch als Ruhepunkte angesehen werden, in denen die Aufmerksamkeit etwas ausruhet, um nicht ganz ermüdet zu werden.

Bisweilen gehört die Ausschweiffung, als ein charakterisirender Zug, nothwendig zur Sache. Wenn man einen einfältigen gemeinen Menschen in einer Erzählung redend einführt, und ihm Ausschweiffungen in den Mund leget, so dienen sie ungemein zur lebhaften Schilderung desselben. Denn solchen Leuten sind die Ausschweiffungen ganz natürlich.

Eben so natürlich ist die Ausschweiffung einem Menschen, der von einer einzigen Vorstellung stark gerührt, sich derselben ganz überläßt, und dadurch in eine Art von Träumerey geräth, worin keine enge Verbindungen mehr statt haben. Dies ist ofte der Fall der Odendichter. Die plötzlichen Ausweichungen auf sehr entfernte Gegenstände sind eine Art der Ausschweiffung, welche der Ode ganz eigen ist.

In Werken, wo die Vorstellungen sehr gedrängt sind, wie im Trauerspiel, haben die Ausschweiffungen schweerlich statt. Es ist verdrüßlich, wenn man bey interessanten Scenen, wo man in beständiger Erwartung des folgenden ist, durch Ausschweiffungen in der Folge seiner Vorstellungen immer unterbrochen wird.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 115.
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