Zurükweichen

[1286] Zurükweichen. (Mahlerey)

Es geschieht ofte, daß in einem Gemählde die entfernten Gegenstände sich nicht hinlänglich entfernen, oder nicht genug zurükweichen, ob gleich der Mahler in Zeichnung und Farben der entfernten Gegenstände alles gethan zu haben glaubet, was die Regeln hierüber fodern.1 Der Fehler liegt insgemein in den Farben und in Licht und Schatten der nächsten Gegenstände, oder des Vorgrundes, und dessen, was darauf steht. In diesem Falle muß das Zurükweichen der entfernten Gegenstände durch nähere Bearbeitung der vorliegenden erhalten werden. Denn, wenn man machen kann, daß das vodere dem Auge näher zu kommen scheinet, so wird auch das hintere blos dadurch zurükweichen. Dieses Hervortreten, oder Herannäheren der vodersten Gegenstände, wodurch das Zurükweichen der hinteren erhalten wird, muß durch dreyerley Mittel bewürkt werden, durch ausführlichere Zeichnung, durch bestimtere Farben und durch stärkeres Licht und Schatten. Dann je näher uns ein Gegenstand ist, je genauer unterscheiden wir jede Kleinigkeit in seiner Zeichnung, je lebhafter und bestimmter unterscheiden wir die Farbe jeder Stelle und jeden Wiederschein und eben so viel heller scheint jedes Licht und dunkeler jeder Schatten.

Diese drey Mittel muß der Mahler versuchen, um das Zurükweichen der entfernten Gegenstände zu erhalten. Findet er aber, daß die genaueste Befolgung der Regeln in Absicht auf diese Punkte die gesuchte Würkung noch nicht hervorbringen; so kann er daraus abnehmen, daß der Fehler in den eigenthümlichen Farben der nähern Gegenstände liege. Es giebt Farben, die ohne Rüksicht auf ihre Stärke und Schwäche, von andern daneben liegenden, weit mehr abstechen, als andere. Da-Vinci hat sehr richtig angemerkt, daß zwey hintereinander liegende Gegenstände, deren eigenthümliche Farben von einerley Art sind, sich weit weniger von einander entfernen, als wenn ihre Farben verschiedenem Ton haben. So ist es z. B weit schweerer, wo grün gegen grün steht, das Zurükweichen zu erhalten, als wo die Farben verschiedener Art sind, wie wenn roth gegen gelb gesezt wird.

Darum muß der Mahler sich befleißigen, die Würkung der Farben besonders in Absicht auf das zurükweichen, genau zu beobachten. Alles andre, was zur Haltung gehört, kann durch Theorie gelernt werden; aber dieser Punkt hängt allein von der Erfahrung ab. Man kann dem Künstler hierüber nichts nüzlicheres sagen, als daß man ihm ein fleißiges und überlegtes Lesen der fürtreflichen Beobachtungen empfiehlt, die da Vinci nach sich gelassen hat. Dadurch wird er nicht nur überhaupt von dem Nuzen, den dergleichen Beobachtungen haben, überzeugt werden, sondern zugleich lernen, sein Aug unaufhörlich darin zu üben, daß ihm von allem, was die Erfahrung in Beobachtung der Natur an die Hand geben kann, nichts entgehe.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1286.
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