Betrachten

[940] Betrachten, verb. reg. act. genau ansehen, um das Mannigfaltige an einer Sache zu erkennen. 1. Eigentlich, mit den Augen des Körpers. Einen Menschen genau betrachten. Die Größe einer Stadt von weiten betrachten. Eine anmuthige Gegend mit aufmerksamen Augen betrachten. Ein Gemählde[940] betrachten. Den Lauf der Sterne betrachten. 2. Figürlich. 1) Mit den Augen des Geistes, an einer unvollkommen erkannten Sache noch mehr zu erkennen suchen. Wer den Zustand der jetzigen Zeit genau betrachtet, der, u.s.f. Die Folgen einer gefährlichen Unternehmung betrachten. Betrachte, was er gethan hat, an den alten Vätern, 5 Mos. 32, 7. Und er betrachtets vor (zuvor) bey sich selbst, darnach sagt er seinen Rath, Sir. 39, 11. In dieser Bedeutung, die zwar im Hochdeutschen weder selten noch tadelhaft ist, sind doch erwägen, überdenken u.s.f. beynahe üblicher. 2) Mit verschiedenen Nebenbegriffen; betrachten, um ein Urtheil zu fällen. Betrachtet man ihn als einen Bürger, so verdienet er unsern ganzen Beyfall. Als ihr Vater betrachtet, (so ferne du ihr Vater bist) kann dich nichts von der Verbindlichkeit los machen, sie zu ernähren, Dusch. Ich betrachte ihn als einen Menschen, der zu nichts taugt. Ingleichen, betrachten, um seine Handlungen darnach einzurichten, mit Einfluß auf den Willen betrachten. Die Person betrachten. Ich betrachte seine Jugend. Betrachte doch seine Armuth. In welcher Bedeutung aber im Hochdeutschen ansehen üblicher sind. S. auch Betrachtung.

Anm. Schon Ottfried gebraucht drahton und bidrahton für überdenken, gidrahton, für mit dem Verstande begreifen, und Hornegk biträchtig für betrachtend, und Trachter für einen, der eine Sache wohl betrachtet. Wachter leitet dieses Wort von dem Latein. tractare ab. Frisch scheinet es nicht zu trachten zu rechnen, ob er gleich auch keine andere Abstammung angibt. In den Monseeischen Glossen bey dem Pez wird Pitrahtari durch Ponderator gegeben, und dieß führet auf eine gute Erklärung der eigentlichen Bedeutung dieses Zeitwortes. Betrachten ist das Frequentativum von tragen, und bedeutet ursprünglich, eine Sache in der Hand wägen, um ihr Gewicht zu erforschen. Die Beschäftigungen des Geistes sind im Deutschen, so wie in allen Sprachen, von körperlichen Handlungen hergenommen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 1. Leipzig 1793, S. 940-941.
Lizenz:
Faksimiles:
940 | 941
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika