Irren

[1395] Irren, verb. reg. welches auf doppelte Art üblich ist.

I. Als ein Neutrum, mit dem Hülfsworte haben. 1. Hin und her gehen, und in engerer Bedeutung ohne bestimmte Absicht, ohne Kenntniß der Gegend, hin und her gehen, oder sich hin und her bewegen. In der Welt herum irren. Ein irrender Ritter, eine Art ehemahliger Ritter, welche die Welt durchstrichen und Abenteuer suchten. Indeß, daß er einsam ins Gras gestreckt mit irrenden Blicken den Himmel durchlief, Geßn. Ernsthaft irren die Herden auf welkem blumenlosen Grase, ebend. Ein klägliches Gewinsel irret um ihn herum, Gleim. Vielleicht irrt noch ihr Blick neugierig an der Sternen Pole, Gell. 2. In noch engerer Bedeutung, ohne Kenntniß des rechten Weges hin und her gehen, in der Irre herum gehen. Wenn du deines Feindes Ochsen und Esel begegnest, daß er irret, 2 Mos. 23, 4. Ihr waret wie die irrende Schafe, 1 Pet. 2, 25. In welcher Bedeutung es im Hochdeutschen wenig mehr gebraucht wird. 3. Des rechten Weges verfehlen, den rechten Weg verlieren, besonders so fern es aus Unkunde der Gegend geschiehet. 1) Eigentlich, wo es in dem eigentlichsten Verstande nur im Infinitive üblich ist. Gehe auf dem Wege fort, du kannst nicht irren. In andern Fällen gebraucht man dafür das zusammen gesetzte sich verirren. In der biblischen Schreibart wird es noch in uneigentlichen R.A. gebraucht. Ich irre nicht von deinem Befehle, Ps. 119, 110. Ein Mensch, der vom Wege der Klugheit irret, Sprichw. 21, 16. Warum lässest du uns irren von deinen Wegen? Es. 63, 17. Von der Wahrheit irren, Jac. 5, 19. 2) Figürlich. (a) * Nicht wissen; eine im Hochdeutschen völlig veraltete Bedeutung, in welcher es noch bey dem Ottfried mit der zweyten Endung der Sache vorkommt: Thoh uuir thera burgi irron, wir wissen die Stadt nicht. (b) Auf eine unvorsetzliche Art ein Ding für das andere nehmen, es geschehe nun aus mangelhafter Beschaffenheit der Sinne, oder aus Übereilung und Unachtsamkeit; als ein Reciprocum. So irret man sich, wenn man ein Ding ergreift, indem man ein anderes ergreifen wollte. Man irret sich, wenn[1395] man eine Person für eine andere hält. In welcher Bedeutung es mit sich versehen gleichbedeutend ist. (c) In engerer und vornehmlich wissenschaftlicher Bedeutung, den Irrthum für die Wahrheit nehmen, unrichtige Vorstellungen haben, so wohl in Ansehung der äußern Sinne, unrichtige Empfindungen haben oder bekommen; als auch in Ansehung des Urtheiles, ein wahres Urtheil für falsch, und ein falsches für wahr halten, besonders aus mangelhafter Erkenntniß von der Wahrheit abweichen, wodurch es sich von fehlen und sich versehen unterscheidet, als welche sich in engerer Bedeutung auf eine Handlung beziehen, so wie irren im engsten Verstande bloß auf die Empfindung und auf das Urtheil gehet. Es stehet so wohl absolute. Ich habe geirret. Wo ich nicht irre. Irren ist menschlich. Ein irrendes Gewissen, welches entweder unrichtige Sätze annimmt, oder auch wahre Sätze unrichtig verbindet. Als auch mit dem Vorworte in. Darin haben sie geirret. Du irrest in der Zeit, in der Person. Ingleichen in Gestalt eines Reciproci, wo es aber eigentlich zu dem folgenden Activo gehöret. Ich habe mich geirret. Du irrest dich in der Zeit, in der Person. Ich irre mich in der Hand dieses Briefes.

II. Als ein Activum, irre machen. 1. Von dem rechten Wege abbringen. 1) * Eigentlich; eine völlig veraltete Bedeutung. 2) Figürlich. (a) * Von dem Wege der Wahrheit abbringen, in Irrthum stürzen; ein gleichfalls veralteter Gebrauch, in welchem verirren noch bey den Schwäbischen Dichtern vorkommt. Das vorhin gedachte Reciprocum sich irren ist noch ein Überbleibsel, davon. (b) * Von dem Wege der Tugend abführen, verführen, bey dem Notker irren, in Schwaben irrzen, bey dem Ulphilas airzgan; eine gleichfalls ungewöhnlich gewordene Bedeutung, in welcher es noch 1 Sam. 14, 29 vorzukommen scheinet: Da sprach Jonathan, mein Vater hat das Land geirret. 2. Hindern. 1) Eigentlich; wo es noch mit der vierten Endung der Person gebraucht wird. Keiner wird den andern irren, sondern ein jeder wird in seiner Ordnung daher fahren, Joel 2, 8. Irre die Spielleute nicht, Sir. 32. Suer da entzwischen danne stet und irret mich, Heinr. von Morunge.


Der Kunig mit der tochter regirt

Manig jar daran in nyemands irt,

Theuerd.


Lassen sie sich nicht irren, in der vertraulichen Sprechart. Aber eine Sache irren, für hindern, ist veraltet. 2) Figürlich. (a) Anstoß, Zweifel, Bedenklichkeit verursachen; in welchem Verstande man nur noch sagt, sich irren lassen, sich durch andere dergleichen beybringen lassen. Laß dichs nicht irren, ob einer reich wird, Ps. 49, 17. Ich lasse mich darin nichts, (besser durch nichts,) irren. Ich lasse mich nicht durch bloße Beschuldigungen in der Liebe irren, Gell. (b) * Bestürzt machen; welche Bedeutung gleichfalls veraltet ist. So sint si alle girrit, Ottfr. S. Irre. (c) * Beschwerlichkeit verursachen; ein veralteter Gebrauch. Du irst mich selten, sagt der Storch zum Fuchse bey dem Boner, d.i. du besuchst mich selten. (d) Ärgern, Mißvergnügen, Ärgerniß verursachen; in welchem Verstande man nur noch im gemeinen Leben sagt: es irret ihn eine Fliege an der Wand. Das Dänische opirre, und Schwed. yra, bedeutet im härtern Verstande zornig machen, zum Zorne reitzen. Es scheinet, daß irren in dieser Bedeutung nicht hierher gehöre, sondern mit irritare, ira, und arg, von dem Laute r! r! abstamme, mit welchem man die Hunde zornig zu machen sucht, wovon man im gemeinen Leben die Zeitwörter nerren, narren, zergen in eben dieser Bedeutung hat.

Daher die Irrung, S. solches hernach besonders.[1396]

Anm. Bey dem Ottfried irron und girron, d.i. geirren, bey dem Willeram irren, im Nieders. erren, im Engl. to err, im Franz. errer, im Latein. errare, woraus zugleich das hohe Alter dieses Wortes erhellet. Unsere Wortforscher begnügen sich damit, daß sie es von dem Latein. abstammen lassen. Allein es scheinet vielmehr ein altes Wort zu seyn, welches wandern, hin und her reisen bedeutet hat. Im Franz. bedeutete oirrer ehedem reisen, im mittlern Lateine iterare, und Oire, Oirre, die Reise. Selbst im Hebräischen ist ארח reisen, und im Griech. ερχομαι ich komme. Yra bedeutet im Schwed. herum gedrehet werden, und Yrsel den Schwindel. S. Werk, Wirren, Wirbel u.s.f. Im Nieders. ist für irren im dritten eigentlichen Verstande auch dwalen, dwaulen, üblich, welches von twalen, wandern, wallen, abstammet, und schon bey dem Notker vorkommt, der feruuallon für verirren gebraucht.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 1395-1397.
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