[457] Nêhmen, verb. irreg. ich nehme, du nimmst, er nimmt, Conj. ich nehme; Imperf. ich nahm, Conj. ich nähme; Mittelw. genommen; Imperat. nimm. Es ist auf gedoppelte Art üblich.
I. Als ein Neutrum, mit dem Hülfsworte haben, in einen Zustand versetzet werden; in welcher Bedeutung es eine Figur des folgenden Activi ist, aber nur in einigen wenigen Fällen gebraucht wird. Überhand nehmen, sich ausbreiten, das Übergewicht bekommen. Schaden nehmen, einen Schaden, Nachtheil erleiden; besonders in engerer Bedeutung von einer körperlichen Beschädigung oder Verletzung, in welchem Falle man von Personen auch sagt, zu Schaden kommen. Das Kind fiel die Treppe hinunter, nahm aber keinen Schaden, wurde nicht beschädiget. Einen Anfang nehmen, angefangen werden; ein Ende nehmen, aufhören. Wenn wird meine Qual ein Ende nehmen? Die Sache hat eine gute, glückliche, schlechte, unglückliche Wendung genommen, bekommen.
Hierher gehöret auch die unpersönliche oder doch nur in der dritten Person übliche R.A. es nimmt mich Wunder, es wundert mich, die Sache nimmt mich Wunder, wundert mich, welche Frisch als eine Nachahmung des Gebrauches des Zeitwortes capere im Lateinischen ansiehet; quae te dementia cepii, capit me admiratio. Dem sey wie ihm wolle, so ist sie schon alt.
Iuh ne tharf is ne neheia Wunder nehmen, in dem alten Fragmente auf Carln den Großen bey dem Schilter. Des nam die Haiden Wunder, Stryker. Des nam vil dickch wunder vil manigen chomenden gast, Horn. Es nimpt mich wunder,[457] daß u.s.f. Theuerd. Kap. 33. So nimmt michs nicht Wunder, Gell. Das sollte mich sehr Wunder nehmen. Was mich daby sehr Wunder nahm. Dieses hat viele Wunder genommen. Das darf dich nicht Wunder nehmen. Auf eben die Art sagt man dafür auch, es hat mich Wunder, und im Theuerdanke kommt nehmen in diesem Verstande auch persönlich vor: die schifleut darab wunder namen, Kap. 72; auf welche Art es aber im Hochdeutschen veraltet ist.
II. Als ein Activum, wo es in einem sehr weiten Umfange von Bedeutungen üblich ist, und eine Sache sich oder einem Theile seines Körpers nahe bringen bedeutet.
1. Eigentlich, wo es sich weiter erstreckt als fassen, indem dieses eine Hand oder anderes zangenartiges Glied voraus setzet, womit eine Sache gefasset wird, nehmen aber von allen Gliedern und Theilen des Leibes gebraucht werden kann. Man nimmt etwas in die Hand, mit der Hand; man nimmt aber auch etwas auf den Kopf, auf den Rücken, auf die Achsel, u.s.f. wenn gleich keine Hand dabey gebraucht wird. Das Glas von dem Tische, das Geld aus der Tasche nehmen. Jemanden etwas aus der Hand nehmen. Ein Ding in den Mund nehmen. Jemanden bey der Hand nehmen, ihn freundschaftlich und sanft an die Hand fassen; dagegen jemanden bey dem Kopfe nehmen mehr Ungestüm voraus setzt, und auch figürlich für in Verhaft nehmen gebraucht wird. Eine Person in den Arm, ein Kind auf den Arm nehmen. Kein Blatt vor den Mund (im gemeinen Leben vor das Maul) nehmen, freymüthig reden und urtheilen. Ich nehme sie beym Worte, ich halte mich an ihr Wort. Sich viel heraus nehmen, figürlich, sich viele Freyheit anmaßen. Eine Last auf den Rücken nehmen. Eine Sache auf sich nehmen, sich anheischig machen, sie auszuführen, sie zu verantworten. Das nehme ich auf mich. Das will ich schon über mich nehmen, es zu verantworten. Wohin denn eine große Menge ähnlicher Arten der Ausdrücke gehöret, wo nehmen eine Art des nahe bringens und oft auch des zu eigen machens bedeutet, und wo die ganze R.A. bald eigentlich, bald aber auch figürlich genommen werden muß. Speise und Trank zu sich nehmen, gemeßen. Ich habe heute noch nichts zu mir genommen, noch nichts genossen. Arzeney nehmen oder einnehmen. Etwas in Empfang nehmen. Etwas zu sich nehmen, es zu sich stecken. Nehmen sie das Geld zu sich. Vergiß das Obst, das du zu dir genommen, Gell. Jemanden in die Mitte nehmen. Das Werk vor die Hand nehmen. Etwas in die Arbeit nehmen; in der niedrigen Sprechart, es in die Mache nehmen. Einem das Wort aus dem Munde nehmen, eben das sagen, was der andere sagen wollte. Jemanden zu sich in den Wagen nehmen, ihn in seinem Wagen sitzen lassen. Jemanden zu sich in das Haus nehmen, ihn in demselben wohnen, sich aufhalten lassen, im weitesten Verstande, ohne Bestimmung der Zeitdauer oder der Art und Weise. So auch, jemanden zu sich an den Tisch nehmen. Jemanden in seinen Schutz nehmen. Sich Zeit zu etwas nehmen. Sich Bedenkzeit nehmen. Man muß die Gelegenheit nehmen, (nutzen, gebrauchen,) wenn sie da ist. Eine Weise, eine Gewohnheit an sich nehmen. Ein Gut in Pacht nehmen. Sich die Freyheit nehmen. Etwas in Besitz nehmen. Die Post nehmen, mit Extrapost reisen. Wie viel nimmt er des Tages für seine Arbeit? wie viel läßt er sich dafür bezahlen? Einen Eid von jemanden nehmen, ihn solchen ablegen lassen. Seinen Sitz oben an nehmen, die Oberstelle nehmen. Seinen Befehl, einen Entschluß zurück nehmen. Frische Pferde nehmen, sich geben lassen. Ein Gut in Lehen nehmen. Ich wollte nicht viel nehmen, und sie stören, Gell. nicht viel Geld. Nimm dir wieder einen Sprachmeister, Gell.[458] In engerer Bedeutung ist, Geld nehmen, sich bestechen lassen, dagegen man in weiterer von einer Geldsorte, welche nicht gäng und gebe ist, sagt, dieß Geld wird hier nicht genommen.
Man siehet hieraus, daß nehmen ein sehr unbestimmtes Wort ist, welches nur überhaupt ein nahe bringen bezeichnet, die Art und Weise aber völlig unentschieden lässet, welche denn entweder durch Beysätze bestimmt wird, oder auch durch den Gebrauch fest gesetzet worden. Zu der letztern Art gehören noch folgende Fälle. 1. Eine Frau nehmen, einen Mann nehmen, sie oder ihn heirathen; in welcher Bedeutung auch nehmen im gemeinen Leben allein gebraucht wird. Sie will ihn nicht nehmen, hat keine Neigung, ihn zu heirathen. Wenn sie dir gefällt, so nimm sie. Zur Ehe nehmen. 2. Mit dem Nebenbegriffe der Gewalt, auf eine gewaltthätige Art sich nahe bringen, und in weiterer Bedeutung, sich eigen machen. Er läßt sich nichts nehmen. Die Feinde haben ihm alles genommen. Jemanden ein Amt, ihm das Leben nehmen. Der Dieb nimmt, was er findet. Jemanden das Seine nehmen. Jemanden gefangen nehmen. Das nimmt der Sache nichts, schadet ihr nichts.
O sage, wie es immer kam,
Daß man dir deine Freyheit nahm!
Gell.
2. Figürlich, wo es in sehr vielen Fällen gebraucht wird, allerley thätige Veränderungen zu bezeichnen.
1) Überhaupt. Die Flucht nehmen, ergreifen, fliehen. Seine Zuflucht zu jemanden nehmen. Urlaub nehmen, Abschied nehmen, gute Nacht nehmen. Und nahmen höflich gute Nacht, Gell. Sein Nachtlager an einem Orte nehmen. Ein Herz nehmen, im Oberdeutschen, für fassen. Das Maß zu etwas nehmen. Sich die Mühe nehmen. Ich nehme mir die Mühe nicht. Theil, Antheil an etwas nehmen. Ich nehme an eurem Glücke den aufrichtigsten Antheil, Weiße. Den Weg wohin nehmen, sich dahin wenden. Einen großen Umweg nehmen. Nicht Umgang nehmen können, nicht umhin können. Ein Exempel, ein Beyspiel an etwas nehmen, es sich zu einem Beyspiele dienen lassen. Eine Abschrift von etwas nehmen, verfertigen, oder verfertigen lassen. Die Polhöhe, die Sonnenhöhe, die Höhe eines Sternes nehmen, messen. Mit etwas für lieb nehmen, es sich gefallen lassen, S. Lieb. Sich in Acht nehmen, sich hüthen. Etwas in Acht nehmen, es gewahr werden, bemerken. Eine Sache in Acht nehmen, sie vor Schaden, Verlust, Verletzung sorgfältig bewahren. Seine Absicht auf etwas nehmen. Anstand nehmen. Sie nehmen die Sache sehr genau. Mit dir wird es so genau nicht genommen. Cajus nahm hier das Wort, setzte hier die Rede, das Gespräch fort. Und so in vielen andern Fällen mehr, welche aus dem Gebrauche erlernet werden müssen.
2) Besonders (a) Sich betragen; eine nur in einigen Provinzen übliche Bedeutung, welche im Hochdeutschen unbekannt ist. Wer weiß, wie albern sie sich dabey genommen hat! Less. Ich hätte mich noch wohl anders dabey nehmen können, ebend. (b) Oft wird es auch von Empfindungen, ingleichen von verschiedenen Wirkungen des Gemüthes und der Seele gebraucht. α) Etwas zu Ohren nehmen, eine biblische, im Hochdeutschen veraltete R.A. für hören. Höret ihr Himmel, und Erde, nimm zu Ohren, denn der Herr redet, Es. 1, 2. S. Vernehmen, welches noch in diesem Verstande üblich ist. β) Etwas zu Herzen nehmen, davon mit Einfluß auf den Willen gerühret werden. Jemandes klägliche Umstände zu Herzen nehmen. γ) Auslegen, ausbeuten. Etwas übel nehmen, es übel auslegen, mit Empfindung des Unrechtes. Nehmen sie mir es nicht übel. Ein Wort in einem andern Verstande nehmen. Ja wenn wir[459] es so nehmen, so auslegen. Wie mans nehmen will. δ) Dafür halten. Er nimmt seine Gelassenheit für Feigheit.
Nimm für den Dichtertrieb nicht Leichtigkeit zu reimen,
Kästner.
ε) Betrachten; doch nur in einigen Fällen. Ich mag es nehmen wie ich will. Die Sache ist im Ganzen genommen nützlich. Er würde es vielleicht auf einen viel ernsthaftern Fuß nehmen, Schleg. ζ) Daraus kann ich mir nichts nehmen, ich finde darin nichts, welches ich nutzen, auf mich anwenden könnte. Was soll ich mir aus alle dem nehmen?
Anm. Bey dem Kero neman, im Tatian und bey dem Ottfried niman, im Nieders. nemen, im Angels. und bey dem Ulphilas niman, im Isländ. nima, im Schwed. nama, im Lettischen nemu. Das Latein. emere, welches sich bloß durch den Mangel des zufälligen N unterscheidet, (S. N,) bedeutete ehedem auch nehmen, wie im Deutschen nehmen mehrmahls für kaufen gebraucht wird. Daß auch im Griech. ein Zeitwort νεμειν für nehmen üblich gewesen seyn müsse, erhellet aus dem zusammen gesetzten κλƞρονομος, ein Erbnehmer, d.i. Erde, schon bey dem Ulphilas Arbinumja. Wachter leitet es vom Isländ. nefi, die Hand, und neawen, zusammen ziehen, Frisch aber von dem Latein. emere her. Allein, es scheinet mit mehrerm Rechte zu nahe zu gehören, da es sich doch in allen seinen Bedeutungen durch nahe bringen und nahen erklären lässet, zumahl da Wachters neawen auch davon abstammet. Nehmen stehet vermittelst der intensiven Endung men für nahemen, zusammen gezogen nehmen. Unser Hochdeutsches Zeitwort ist aus zwey verschiedenen Mundarten zusammen gesetzt. Im Oberdeutschen sagt man für ich nehme noch ich nimm, und in Schlesien im Imperativo nihm für nimm.
Buchempfehlung
Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.
286 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro