[70] Taubstumme nennt man diejenigen, die entweder ohne Gehör geboren sind, oder solches in ihrem zarten Alter, ehe sie noch eine Sprache lernten, verloren. Daß ihre Sprechorgane Fehler haben, ist nicht nothwendig. Von ihnen muß man die hörenden Stummen unterscheiden. Ein horender Mensch kann stumm sein: 1) weil ihm entweder die Zunge mangelt, oder eine Lähmung derselben sie zum Sprechen untauglich macht; 2) weil der Zapfen mangelt, die Gurgel erschlafft, der Gaumen zu weit ausgehöhlet ist; 3) kann man durch einen Schlagfluß die Sprache verlieren. Hörend-Stummen der ersteren Art kann man keine Sprache verschaffen; jedoch können sie durch mündliche und schriftliche Unterweisung dahin gebracht werden, daß sie nicht allein durch das Gehör von allen Dingen richtige Begriffe bekommen, sondern auch zugleich in den Stand gesetzt werden, sie andern mitzutheilen. Hörend-Stumme der zweiten Art konnen öfters, die der dritten Art zur völligen Sprachfähigkeit gebracht werden, wenn der letzteren Gedächtnißkraft nicht zu sehr geschwächt und ihre Seele in munterem Zustande ist. Wirklichen Taubstummen kann man keineswegs durch mündlichen Vortrag, oder mit Hülfe der Tonsprache, auf gewöhnliche Weise Unterricht ertheilen und ihren Verstand entwickeln. Denn da Töne die Mittel sind, durch welche der Hörende seine Begriffe empfängt, sie nachahmt und andern wieder mittheilet, ein Taubstummrr aber keine Töne[70] höret, folglich sie auch nicht nachahmen kann; so kann er auch durch den Gehorsinn weder Buchstaben, noch Wörter einer Tonsprache lernen. Gleichwohl ist es nicht unmöglich, durch einen andern Sinn Empfindungen bei ihm zu erregen, und solche für ihn zur Tonsprache zu ordnen. Die vorzüglichsten Mittel, deren man sich seit den frühesten Zeiten des Taubstummen-Unterrichts bediente, sind: 1) Die schon im sechzehnten Jahrhundert bekannte Stabmethode: sie bestand darin, daß man einen hölzernen oder eisernen Stab gebrauchte, dessen eines Ende der Taube, ohne solches mit den Lippen zu berühren, mit den Vorderzähnen festhalten mußte, das entgegengesetzte Ende des Stabes aber der, der mit ihm sprechen wollte, auf eben diese Art mit den Vorderzähnen festhielt und nun gegen den Tauben redete. So wie dieser hierdurch dasjenige, was man zu ihm sprach, vernehmen sollte, so stellte man, um ihm die Töne eines musikalischen Instruments hörbar zu machen, das eine Ende des Stabes an den Resonanzboden des Instruments und ließ den Tauben das andere Ende mit den Zähnen fassen. Allein ob wohl dieses Mittel bei schwer hörenden, auch wohl taub gewordenen erwachsenen Menschen öfters die gewünschte Wirkung hervorbringt, so ist sie doch, nach dem Zeugnisse mehrerer Taubstummenlehrer, bei wirklich Taubstummen völlig unbrauchbar. 2) Bedienten sich einige Taubstummenlehrer, auch in neuern Zeiten, der Schriftzüge oder Schriftsprache. Allein, anderer Schwierigkeiten nicht zu gedenken, ist es einleuchtend, daß sie nur in Ansehung sichtbarer Gegenstände dem Taubstummen von Nutzen sein kann, indem ihm nothwendig ein Gegenstand sichtbar gemacht werden muß, damit er sich von demselben ein Bild in sein Gedächtniß einprägen, und besonders den Gegenstand in dem Gedächtniß festhalten kann. Auch haben mehrere Beispiele bewiesen, daß Taubstumme, die blos durch Schriftsprache Unterricht erhielten, sehr bald in ihre vorherige Unwissenheit zurücksanken. Was von der Schriftsprache gilt, gilt auch zum Theil 3) von der Geberdensprache. Auch hat diese ihre eignen Schwierigkeiten, besonders [71] wenn solche allgemein verständlich sein soll. Da gleichwohl in neueren Zeiten der Unterricht der Taubstummen immer mehr zur Vollkommenheit gebracht worden ist, so daß jetzt gehörig unterrichtete Taubstumme nicht blos jedem sich verständlich machen, sondern sogar selbst Lehrer von Taubstummen werden können, und doch die angegebnen allgemeinen Lehrmethoden zum Theil ganz untauglich, zum Theil nicht hinreichend sind, so ergiebt sich leicht, daß diejenigen Taubstummenlehrer, die wirklich für die menschliche Gesellschaft taugliche Subjecte liefern, bei ihrem Unterrichte allezeit noch eine besondere Methode gebrauchen. Allein sowohl das Gemeinsame, als das Besondere ihrer Lehrarten und welche Lehrart überhaupt die vorzüglichste sei, ist ein Gegenstand, dessen genaue Erörterung erst noch erfolgen muß. Nur so viel weiß man, daß lʼEpée und seine Schüler sich so genannter methodischen Zeichen bedienen, welche Heinike und seine Schüler verwerfen. Was nun