Stein, Ludwig

[711] Stein, Ludwig, geb. 1859 in Benye (Ungarn), war lange Prof. in Bern, lebt jetzt in Berlin. Herausgeber der »Arch. f. Geschichte d. Philosophie« und des »Archiv f. systemat. Philos.«, sowie der »Berner Studien zur Philos. u. ihrer Geschichte«.

S. vertritt einen (von Kant, Spencer u.a. beeinflußten) evolutionistischen Kritizismus, mit dem er einen sozialen Aktivismus und Optimismus verbindet (Rechtssozialismus). Soll Kant uns fruchtbar sein, so müssen seine Wahrheiten an denen Darwins gemessen werden. »Der Evolutionismus muß ganz und ohne Rest in den Kritizismus hineingebildet werden.« Die Anschauungsformen und Kategorien sind für das Individuum apriorisch, von der Gattung aber erworben. Die Kategorien sind »ordnende, vereinheitlichende Funktionen«. Der Empirismus gilt für den Naturmenschen, der Nativismus für den Kulturmenschen; dieser hat in sich die Dispositionen zu bestimmten Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen. Die Erkenntnisformen haben auch biologische Bedeutung. »Zeit, Zahl, Raum, Kausalität, wie die Verstandeskategorien überhaupt, sind nichts anderes, als das Alphabet, welches sich die Menschen im Kampfe ums Dasein als Schutzmaßregeln gebildet haben, um erfolgreich im Buche der Natur lesen zu können.« Bezüglich des Wirklichkeitsproblems erklärt S.: »Der Dualismus ist eine psychologische Tatsache, aber der Monismus ist sein zureichender logischer Grund.« Der Einheitstrieb des Denkens ist unaufhebbar. Unsere Ich-Einheit ist das ewige Modell der Einheit des Universums. Gott ist die Energie des Alls (»energetischer Pantheismus«).

Die Aufgabe der »Kulturphilosophie« ist es, die Kulturwerte in ihrem Entstehen zu schildern, in ihrem Werdegang zu verfolgen und in ihrer Wirksamkeit für die Gegenwart zu begreifen. Als Naturwesen sind wir gebunden, als Kulturwesen sind wir frei. In der Geschichte wirken psychische Faktoren, und es besteht hier ein »conatus«, eine immanente Zielstrebigkeit. Nicht kausale, strenge Gesetze, nur Tendenzen erkennen wir in der Geschichte. Die Soziologie ist eine philosophische Wissenschaft mit psychogenetisch-historischer Methode und empirischen Gesetzen (Rhythmen u. dgl.); auch das soziale Sollen hat sie zu normieren. Die Gesellschaft ist kein Organismus, sondern eine Organisation. Ausfluß einer bestimmten Zwecksetzung menschlicher Willensgemeinschaften.

Schriften: Die Willensfreiheit, 1882. – Die Psychologie der Stoa, 1886. – Die Erkenntnistheorie der Stoa, 1888. – Handschriftenfunde in Italien, 1889. – Leibniz und Spinoza, 1889. – Antike Vorläufer des Okkasionalismus, 1889. – Der Humanist Theodor Gaza als Philosoph, 1889. – Leibniz und Spinoza, 1890. – Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren, 1893. – Das Prinzip der Entwicklung [711] in der Geistesgeschichte, 1895. – Die soziale Frage im Lichte der Philosophie, 1897; 2. A. 1903. – Wesen und Aufgabe der Soziologie, 1898. – An der Wende des Jahrhunderts, Versuch einer Kulturphilosophie, 1900. – Der Neo-Idealismus, 1903. – Der Sinn des Daseins, 1904. – Der soziale Optimismus, 1905. – Die Anfänge der menschlichen Kultur, 1906. – Philos. Strömungen der Gegenwart, 1908. Dualismus u. Monismus, 1909. – Das Problem der Geschichte, Arch. f. system. Philos. XIV, 1908. – Der Pragmatismus, l. c. XIV, 1908, u.a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 711-712.
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