Verworn, Max

[786] Verworn, Max. geb. 1863 in Berlin, Prof. der Physiologie in Göttingen. Herausgeber der »Zeitschr. für allgemeine Physiologie«.

Nach V. heißt Erkennen nichts anderes als »Erfahrungen bilden«. Die einfachste Erfahrung besteht in der sinnlichen Empfindung. Mittels der Empfindungen entstehen die Vorstellungen, welche ihre eigenen Rindensphären außerhalb der reinen Empfindungssphären haben (»Vorstellungsgebiete«). Die Vorstellungsassoziationen unterliegen einer Selektion. »Nur Vorstellungsassoziationen, die durch die sinnliche Erfahrung immer wieder bestätigt werden, halten sich dauernd lebensfähig und werden weiter gezüchtet.« Auf der Übung der durch Selektion gezüchteten Vorstellungsgänge beruht das Gedächtnis. Es werden bestimmte Assoziationswege ausgeschliffen und so entsteht das logische Denken. Die Anschauungsformen Raum und Zeit stammen aus der Erfahrung. Gemäß dem »Konditionalismus« ist die »Ursache« ein mystischer Begriff des primitiven Denkens; es gibt nur funktionelle »Bedingungen« des Geschehens, gesetzmäßige Abhängigkeiten nach dem Schema: wenn a ist, ist b (Positivistische Kausalauffassung; vgl. Mach, Hodgson u.a.). »Sind sämtliche Bedingungen, von denen ein Vorgang oder Zustand abhängig ist, ermittelt, dann ist der Vorgang oder Zustand eindeutig bestimmt, und es bleibt nichts mehr an ihm zu erklären.« Auch das »Ich« ist uns nur als Produkt der Erfahrung bekannt; es ist »der Komplex von Dingen, der immer dabei ist, was auch der Mensch empfindet und denkt, fühlt oder tut«. Das primäre, engere Ich ist ein »Apparat zur Herstellung von Bewußtseinsvorgängen«. Die Dinge existieren außerhalb meines Ich, auch wenn ich sie nicht empfinde; auch mein Ich existiert dann weiter. Das Ich und die Dinge sind in der Welt, ein Teil von ihr. Erkennen ist ein »Inbeziehungsetzen«. Indem ich es zu mir in Beziehung setze, kann ich jegliches Ding erkennen; der Erkenntnisprozeß hat hier keine Grenze. Materie (Atom u. dgl.) kennen wir nur als System von Bedingungen und als Gedankenkonstruktionen. Absolute, unabhängige Atome kann es nicht geben. Es gibt nicht psychische und physische Vorgänge nebeneinander, sondern nur Eines. Was wir bei dem anderen sehen, wenn wir die Vorgänge in seinem. Gehirn analysieren, während er eine Empfindung hat, das ist seine Empfindung; diese ist eindeutig bestimmt durch ihren spezifischen Komplex von Bedingungen. Die Entstehung bestimmter Bewußtseinsvorgänge ist bedingt durch bestimmte Vorgänge in den Bestandteilen der Hirnrinde. V. vertritt einen »Psychomonismus«, nach welchem die Dinge nur als »Inhalt der Psyche« existieren. Die Körper bestehen aus Empfindungen.

Schriften: Psycho-physiologische Protistenstudien, 1889. – Die Bewegung der[786] lebendigen Substanz, 1892. – Allgemeine Physiologie, 1895; 5. A. 1909. – Die Biogenhypothese, 1903. – Naturwissenschaft und Weltanschauung, 1904. – Prinzipienfragen in d. Naturwissenschaft, 1905. – Die Erforschung des Lebens, 1907. – Die Mechanik des Geisteslebens, 1907; 2. A. 1910. – Zur Psychol. d, primitiven Kunst, 1907. – Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis, 1908, u.a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 786-787.
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