II

[56] Den militärischen Vorgängen stand ich damals weniger nahe als später, glaube aber nicht zu irren, wenn ich annehme, daß für die Truppenbewegungen zur Unterdrückung der Aufstände in der Pfalz und in Baden mehr Cadres und Stämme verwendet wurden,[56] als rathsam und als erforderlich gewesen wäre, wenn man feldmäßig mobile Truppen hätte marschiren lassen. Thatsache ist, daß mir der Kriegsminister zur Zeit der Olmützer Begegnung als einen der zwingenden Gründe für den Frieden oder doch Aufschub des Krieges die Unmöglichkeit angab, den großen Theil der Armee rechtzeitig oder überhaupt zu mobilisiren, dessen Stämme sich in Baden oder sonst außerhalb ihrer Stand- und Mobilmachungs-Bezirke unvollzählig befanden. Wenn wir im Frühjahr 1849 die Möglichkeit einer kriegerischen Lösung im Auge behalten und unsre Mobilmachungsfähigkeit durch Verwendung keiner andern als kriegsbereiter Truppen intakt erhalten hätten, so wäre die militärische Kraft, über welche Friedrich Wilhelm IV. verfügte, ausreichend gewesen, nicht nur jede aufständische Bewegung in und außer Preußen niederzuschlagen, sondern die aufgestellten Streitkräfte hätten zugleich das Mittel gewährt, uns 1850 auf die Lösung der damaligen Hauptfragen in unverdächtiger Weise vorzubereiten, falls dieselben sich zu einer militärischen Machtfrage zuspitzten. Es fehlte dem geistreichen Könige nicht an politischer Voraussicht, aber an Entschluß, und sein im Princip starker Glaube an die eigne Machtvollkommenheit hielt in concreten Fällen wohl gegen politische Rathgeber Stand, aber nicht gegen finanzministerielle Bedenken.

Ich hatte schon damals das Vertrauen, daß die militärische Kraft Preußens genügen werde, um alle Aufstände zu überwältigen, und daß die Ergebnisse der Ueberwältigung zu Gunsten der Monarchie und der nationalen Sache um so erheblicher sein würden, je größer der zu überwindende Widerstand gewesen wäre, und vollständig befriedigend, wenn alle Kräfte, von welchen Widerstand zu erwarten war, in einem und demselben Feldzuge überwunden werden konnten. Während der Aufstände in Baden und der Pfalz war es eine Zeit lang zweifelhaft, wohin ein Theil der bayerischen Armee gravitiren würde. Ich erinnere mich, daß ich dem bayrischen Gesandten, Grafen Lerchenfeld, als er gerade in diesen kritischen Tagen von mir Abschied nahm, um nach München zu reisen, sagte: »Gott gebe, daß auch Ihre Armee, so weit sie unsicher ist, offen abfällt; dann wird der Kampf groß, aber ein entscheidender werden, der das Geschwür heilt. Machen Sie mit dem unsicheren Theil Ihrer Truppen Frieden, so bleibt das Geschwür unterkötig.« Lerchenfeld, besorgt und bestürzt, nannte mich leichtsinnig. Ich schloß das Gespräch mit den Worten: »Seien Sie sicher, wir reißen Ihre und unsre Sache durch, je toller je besser.« Er glaubte mir nicht,[57] aber meine Zuversicht ermuthigte ihn doch, und ich glaube noch heute, daß die Chancen für eine wünschenswerthe Lösung der damaligen Krisis noch besser geworden wären, wenn vorher die badische Revolution durch den damals befürchteten Abfall auch eines Theils der bayrischen und württembergischen Truppen verstärkt worden wäre. Freilich würden sie auch dann vielleicht unbenutzt geblieben sein.

Ich lasse unentschieden, ob an der Halbheit und Schüchternheit der damals den ernsten Gefahren gegenüber ergriffenen Maßregeln nur finanzielle Minister-Aengstlichkeiten oder dynastische Gewissensbedenken und Unentschlossenheit an höchster Stelle Schuld waren oder ob in amtlichen Kreisen eine ähnliche Sorge mitwirkte wie die, welche in den Märztagen bei Bodelschwingh und Andern die richtige Lösung verhinderte, nämlich die Befürchtung, daß der König in dem Maße, in dem er sich wieder mächtig und sorgenfrei fühlen würde, auch eine absolutistische Richtung einschlagen könnte. Ich erinnere mich, diese Besorgniß bei höheren Beamten und in liberalen Hofkreisen wahrgenommen zu haben.

Unbeantwortet ist die Frage geblieben, ob der Einfluß des Generals von Radowitz aus katholisirenden Gründen in einer auf den König wirksamen Gestalt verwendet worden ist, um das evangelische Preußen an der Wahrnehmung der günstigen Gelegenheit zu hindern und den König über dieselbe hinweg zu täuschen. Ich weiß noch heute nicht, ob er ein katholisirender Gegner Preußens war oder nur bestrebt, seine Stellung bei dem Könige zu halten1. Gewiß ist, daß er den geschickten Garderobier der mittelalterlichen Phantasie des Königs machte und dazu beitrug, daß der König über historische Formfragen und reichsgeschichtliche Erinnerungen die Gelegenheiten zu praktischem Eingreifen in die Entwicklung der Gegenwart versäumte. Das tempus utile für Einrichtung des Dreikönigsbundes wurde dilatorisch mit nebensächlichen Formfragen[58] ausgefüllt, bis Oesterreich wieder stark genug war, um Sachsen und Hannover zum Rücktritt zu vermögen, so daß beide Mitbegründer dieses Dreibundes in Erfurt ausfielen. Während des Erfurter Parlaments, in einer von dem General von Pfuel geladenen Gesellschaft, kamen vertrauliche Nachrichten einiger Abgeordneten zur Sprache über die Stärke der österreichischen Armee, die sich in Böhmen sammelte und dem Parlament als Gegengewicht und Korrectiv diente. Es wurden verschiedene Zahlen, 80000 und 130000 Mann, angegeben. Radowitz hörte eine Zeit lang ruhig zu und sagte dann mit dem ihm eignen Ausdruck unwiderleglicher Gewißheit auf seinen regelmäßigen Zügen in entscheidendem Tone: »Oesterreich hat in Böhmen 28254 Mann und 7132 Pferde.« Die Tausende, die er angab, sind mir obiter in Erinnerung, die übrigen Ziffern setze ich nach Gutdünken hinzu, nur um die erdrückende Genauigkeit der Angaben des Generals anschaulich zu machen. Natürlich brachten diese Zahlen aus dem Munde des amtlichen und kompetenten Vertreters der preußischen Regierung einstweilen jede abweichende Meinung zum Schweigen. Wie stark die österreichische Armee im Frühjahr 1850 in Böhmen gewesen ist, wird heute wohl feststehen; daß sie zur Olmützer Zeit erheblich mehr als 100000 Mann betrug, habe ich annehmen müssen nach den vertraulichen Mittheilungen, welche mir der Kriegsminister im November desselben Jahres machte.

Die nähere Berührung, in welche ich in Erfurt mit dem Grafen Brandenburg trat, ließ mich erkennen, daß sein preußischer Patriotismus vorwiegend von den Erinnerungen an 1812 und 1813 zehrte und schon deshalb von deutschem Nationalgefühl durchsetzt war. Entscheidend blieb indeß das dynastische und borussische Gefühl und der Gedanke einer Machtvergrößerung Preußens. Er hatte von dem Könige, der schon damals auf seine Weise an meiner politischen Erziehung arbeitete, den Auftrag erhalten, meinen etwaigen Einfluß in der Fraction der äußersten Rechten für die Erfurter Politik zu gewinnen, und versuchte das, indem er mir auf einem einsamen Spaziergange zwischen der Stadt und dem Steigerwalde sagte: »Was kann bei der ganzen Sache Preußen für Gefahr laufen? Wir nehmen ruhig an, was uns an Verstärkung geboten wird, ›Viel oder Wenig‹, unter einstweiligem Verzichte auf das, was uns nicht geboten wird. Ob wir uns die Verfassungsbestimmungen, die der König mit in den Kauf zu nehmen hat, auf die Dauer gefallen lassen können, das kann nur die Erfahrung lehren. Geht es nicht, ›so ziehen wir den Degen und jagen die Kerls zum Teufel.‹« Ich kann[59] nicht leugnen, daß dieser militärische Schluß seiner Auseinandersetzung mir einen sehr gewinnenden Eindruck machte, hatte aber meine Zweifel, ob die Allerhöchste Entschließung im entscheidenden Augenblicke nicht mehr von andern Einflüssen abhängen würde als von diesem ritterlichen Generale. Und sein tragisches Ende hat meine Zweifel bestätigt.

Auch Herr von Manteuffel war von dem Könige zu dem Versuche veranlaßt worden, die preußische äußerste Rechte für Unterstützung der Regierungspolitik zu gewinnen und in diesem Sinne eine Verständigung zwischen uns und der Gagern'schen Partei anzubahnen. Er that das in der Weise, daß er Gagern und mich allein zu Tisch einlud und uns beide, während wir noch bei der Flasche saßen, allein ließ, ohne uns eine vermittelnde oder einleitende Andeutung zu hinterlassen. Gagern wiederholte mir, nur minder genau und verständlich, was uns als Programm seiner Partei und etwas abgemindert als Regierungsvorlage bekannt war. Er sprach, ohne mich anzublicken, schräg weg gegen den Himmel sehend. Auf meine Aeußerung, wir royalistische Preußen befürchteten in erster Linie, daß mit dieser Verfassung die monarchische Gewalt nicht stark genug bleiben werde, versank er nach der langen und deklamatorischen Darlegung in ein geringschätziges Schweigen, was den Eindruck machte, den man mit Roma locuta est übersetzen kann. Als Manteuffel wieder eintrat, hatten wir mehrere Minuten schweigend gesessen, ich, weil ich Gagern's Erwiderung erwartete, er, weil er in der Erinnerung an seine Frankfurter Stellung es unter seiner Würde hielt, mit einem preußischen Landjunker anders als maßgebend zu verhandeln: er war eben mehr zum parlamentarischen Redner und Präsidenten als zum politischen Geschäftsmann veranlagt und hatte sich in das Bewußtsein eines Jupiter tonans hineingelebt. Nachdem er sich entfernt hatte, fragte Manteuffel mich, was er gesagt habe. »Er hat mir eine Rede gehalten, als ob ich eine Volksversammlung wäre,« antwortete ich.

Es ist merkwürdig, daß in den beiden Familien, welche damals in Deutschland und in Preußen den nationalen Liberalismus vertraten, Gagern und Auerswald, je drei Brüder vorhanden waren, unter denen je ein General, daß diese beiden Generale die praktischeren Politiker unter ihren Brüdern waren und beide in Folge der revolutionären Bewegungen ermordet wurden, deren Entwicklung Jeder von ihnen in seinem Wirkungskreise in gutem patriotischen Glauben gefördert hatte. Der General von Auerswald, der im September 1848 bei Frankfurt ermordet wurde, wie man sagt, weil er[60] für Radowitz gehalten wurde, hatte sich zur Zeit des Ersten Vereinigten Landtages gerühmt, daß er als Oberst eines Kavallerieregiments hunderte Meilen zu Pferde zurückgelegt habe, um oppositionelle Wahlen der Bauern zu fördern.

Im November 1850 wurde ich gleichzeitig als Landwehr-Offizier zu meinem Regimente und als Abgeordneter zu der bevorstehenden Kammersession einberufen (inser. Schulz-Stranzke: wo steit de Franzos). Auf dem Wege über Berlin zu dem Marschquartier des Regiments meldete ich mich bei dem Kriegsminister von Stockhausen, der mir persönlich befreundet und für kleine persönliche Dienste dankbar war. Nachdem ich den Widerstand des alten Portiers überwunden und vorgelassen war, gab ich meiner durch die Einberufung und den Ton der Oesterreicher etwas erregten kriegerischen Stimmung Ausdruck. Der Minister, ein alter, schneidiger Soldat, dessen moralischer und physischer Tapferkeit ich sicher war, sagte mir in der Hauptsache Folgendes:

Wir müssen für den Augenblick den Bruch nach Möglichkeit vermeiden. Wir haben keine Macht, welche hinreichte, die Oesterreicher, auch wenn sie ohne sächsische Unterstützung bei uns einbrechen, aufzuhalten. Wir müssen ihnen Berlin preisgeben und in zwei Zentren außerhalb der Hauptstadt, etwa in Danzig und in Westfalen, mobilisiren; vorwärts Berlin können wir erst in 14 Tagen etwa 75000 Mann haben, und auch die würden nicht reichen gegen die Streitkräfte, die Oesterreich jetzt schon gegen uns in Bereitschaft hat. Es sei, fuhr er fort, vor allem nöthig, wenn wir schlagen wollten, Zeit zu gewinnen, und sei deshalb zu wünschen, daß die bevorstehenden Verhandlungen im Abgeordnetenhause nicht den Bruch beschleunigten durch Erörterungen und Beschlüsse, wie man sich deren nach den herrschenden Stimmen in der Presse versehen müsse. Er bäte mich daher, in Berlin zu bleiben und auf die bereits anwesenden und nächstens eintreffenden befreundeten Abgeordneten vertraulich im Sinne der Mäßigung einzuwirken. Er klagte über die Verzettelung der Stämme, welche in ihrer Friedensformation ausgerückt und verwendet wären und sich nun fern von ihren Ersatzbezirken und Zeughäusern befänden, theils im Inlande, zum großen Theil aber im Südwesten Deutschlands, also in Oertlichkeiten, wo eine schleunige Mobilmachung auf Kriegsfuß sich schwer ausführen lasse.

Die badischen Truppen hatte man damals auf wenig gangbaren Wegen mit Benutzung des braunschweigischen Weserdistrikts nach Preußen kommen lassen – ein Beweis von der Aengstlichkeit,[61] mit welcher man damals die Gebietsgrenzen der Bundesfürsten respektirte, während sonstige Attribute ihrer Landeshoheit in den Verfassungsentwürfen für das Reich und den Dreikönigsbund mit Leichtigkeit ignorirt oder abgeschafft wurden: man ging in den Entwürfen bis nahe an die Mediatisirung, aber man wagte nicht, ein Marschquartier außerhalb der vertragsmäßig vorhandenen Etappenstraßen zu beanspruchen. Erst bei Ausbruch des dänischen Krieges 1864 wurde in Schwartau mit dieser schüchternen Tradition gebrochen und der niedergelassene oldenburgische Schlagbaum von den preußischen Truppen beseitigt.

Die Erwägungen eines sachkundigen und ehrliebenden Generals wie Stockhausen konnte ich einer Kritik nicht unterziehen und vermag das auch heute noch nicht. Die Schuld an unsrer militärischen Gebundenheit, die er mir schilderte, lag nicht an ihm, sondern an der Planlosigkeit, mit welcher unsre Politik auf militärischem Gebiete sowohl wie auf diplomatischem in und seit den Märztagen mit einer Mischung von Leichtfertigkeit und Knauserei geleitet worden war. Auf militärischem namentlich war sie von der Art, daß man nach den getroffenen Maßregeln voraussetzen muß, daß eine kriegerische oder auch nur militärische Lösung der schwebenden Fragen in letzter Instanz in Berlin überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurde. Man war zu sehr mit öffentlicher Meinung, Reden, Zeitungen und Verfassungsmacherei präoccupirt, um auf dem Gebiete der auswärtigen, selbst nur der außerpreußischen Politik zu festen Absichten und praktischen Zielen gelangen zu können. Stockhausen war nicht im Stande, die Unterlassungssünden und die Planlosigkeit unsrer Politik durch plötzliche militärische Leistungen wieder gut zu machen, und gerieth so in eine Situation, der selbst der politische Leiter des Ministeriums, Graf Brandenburg, nicht für möglich gehalten hatte. Denn derselbe erlag der Enttäuschung, welche sein hohes patriotisches Ehrgefühl in den letzten Tagen seines Lebens erlitten hatte. Es ist Unrecht, Stockhausen der Kleinmüthigkeit anzuklagen, und ich habe Grund zu glauben, daß auch König Wilhelm I. zu der Zeit, da ich sein Minister wurde, meine Auffassung bezüglich der militärischen Situation im November 1850 theilte. Wie dem auch sei, mir fehlte damals jede Unterlage zu einer Kritik, die ich als conservativer Abgeordneter einem Minister auf militärischem Gebiete, als Land wehr-Lieutenant dem General gegenüber hätte ausüben können.

Stockhausen übernahm es, mein in der Lausitz liegendes Regiment zu benachrichtigen, daß er dem Lieutenant von Bismarck befohlen[62] habe, in Berlin zu bleiben. Ich begab mich zunächst zu meinem Landtagscollegen Justizrat Geppert, welcher damals an der Spitze zwar nicht meiner Fraction, aber doch derjenigen Zahlreichen stand, welche man das rechte Centrum hätte nennen können, und welche zur Unterstützung der Regierung geneigt war, aber die energische Wahrnehmung der nationalen Aufgabe Preußens nicht nur principiell, sondern auch durch sofortige militärische Bethätigung für angezeigt hielt. Ich stieß bei ihm in erster Linie auf parlamentarische Ansichten, die mit dem Programme des Kriegsministers nicht übereinstimmten, mußte mich also bemühen, ihn von einer Auffassung abzubringen, die ich selbst vor meiner Unterredung mit Stockhausen in der Hauptsache getheilt hatte und die man als natürliches Erzeugnis eines verletzten nationalen respective preußisch-militärischen Ehrgefühls bezeichnen kann. Ich erinnere mich, daß unsre Besprechungen von langer Dauer waren und wiederholt werden mußten. Die Wirkung derselben auf die Fraktionen der Rechten läßt sich aus der Adreßdebatte entnehmen. Ich selbst habe am 3. December meine damalige Ueberzeugung in einer Rede ausgesprochen, der die nachstehenden Sätze entnommen sind:

Das preußische Volk hat sich, wie uns Allen bekannt ist, auf den Ruf seines Königs einmüthig erhoben, es hat sich in vertrauensvollem Gehorsam erhoben, es hat sich erhoben, um gleich seinen Vätern die Schlachten der Könige von Preußen zu schlagen, ehe es wußte, und, meine Herren, merken Sie das wohl, ehe es wußte, was in diesen Schlachten erkämpft werden sollte; das wußte vielleicht Niemand, der zur Landwehr abging.

Ich hatte gehofft, daß ich dieses Gefühl der Einmüthigkeit und des Vertrauens wiederfinden würde in den Kreisen der Landesvertretung, in den engeren Kreisen, in denen die Zügel der Regierung auslaufen. Ein kurzer Aufenthalt in Berlin, ein flüchtiger Blick in das hiesige Treiben hat mir gezeigt, daß ich mich geirrt habe. Der Adreßentwurf nennt diese Zeit eine große; ich habe hier nichts Großes gefunden als persönliche Ehrsucht, nichts Großes als Mißtrauen, nichts Großes als Parteihaß. Das sind drei Größen, die in meinem Urtheile diese Zeit zu einer kleinlichen stempeln und den Vaterlandsfreunden einen trüben Blick in unsre Zukunft gewähren. Der Mangel an Einigkeit in den Kreisen, die ich andeute, wird in dem Adreßentwurfe locker verdeckt durch große Worte, bei denen sich Jeder das Seine denkt. Von dem Vertrauen, das das Land beseelt, von dem hingebenden Vertrauen, gegründet auf die Anhänglichkeit an Seine Majestät den König, gegründet auf die Erfahrung,[63] daß das Land mit dem Ministerium, welches ihm zwei Jahre lang vorsteht, gut gefahren ist, habe ich in der Adresse und in ihren Amendements nichts gespürt. Ich hätte dies um so nöthiger gefunden, als es mir Bedürfniß schien, daß der Eindruck, den die einmüthige Erhebung des Landes in Europa gemacht hat, gehoben und gekräftigt werde durch die Einheit derer, die nicht der Wehrkraft angehören, in dem Augenblicke, wo uns unsre Nachbarn mit Waffen gegenüberstehen, wo wir in Waffen nach unsern Grenzen eilen, in einem Augenblicke, wo ein Geist des Vertrauens selbst in solchen herrscht, denen er sonst nicht angebracht schien; in einem Augenblicke, wo jede Frage der Adresse, welche die auswärtige Politik berührt, Krieg oder Frieden in ihrem Schoße birgt; und, meine Herren, welchen Krieg? Keinen Feldzug einzelner Regimenter nach Schleswig oder Baden, keine militärische Promenade durch unruhige Provinzen, sondern einen Krieg in großem Maßstabe gegen zwei unter den großen Kontinentalmächten, während die dritte beutelustig an unsern Grenzen rüstet und sehr wohl weiß, daß im Dome zu Köln das Kleinod zu finden ist, welches geeignet wäre, die französische Revolution zu schließen und die dortigen Machthaber zu festigen, nämlich die französische Kaiserkrone.

Es ist leicht für einen Staatsmann, sei es in dem Cabinete sei es in der Kammer, mit dem populären Winde in die Kriegstrompete zu stoßen und sich dabei an seinem Kaminfeuer zu wärmen oder von dieser Tribüne donnernde Reden zu halten und es dem Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlassen, ob sein System Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht. Es ist nichts leichter als das, aber wehe dem Staatsmann, der sich in dieser Zeit nicht nach einem Grunde zu Kriegen umsieht, der auch nach dem Kriege noch stichhaltig ist.

Die preußische Ehre besteht nach meiner Ueberzeugung nicht darin, daß Preußen überall in Deutschland den Don Quixote spiele für gekränkte Kammer-Celebritäten, welche ihre locale Verfassung für gefährdet halten. Ich suche die preußische Ehre darin, daß Preußen vor Allem sich von jeder schmachvollen Verbindung mit der Demokratie entfernt halte, daß Preußen in der vorliegenden wie in allen andern Fragen nicht zugebe, daß in Deutschland etwas geschehe ohne Preußens Einwilligung, daß dasjenige, was Preußen und Oesterreich nach gemeinschaftlicher unabhängiger Erwägung für vernünftig und politisch richtig halten, durch die beiden gleichberechtigten Schutzmächte Deutschlands gemeinschaftlich ausgeführt werde.[64]

Die Hauptfrage, die Krieg und Frieden birgt, die Gestaltung Deutschlands, die Regelung der Verhältnisse zwischen Preußen und Oesterreich und die Verhältnisse von Preußen und Oesterreich zu den kleineren Staaten, soll in wenigen Tagen der Gegenstand der freien Conferenzen werden, kann also jetzt nicht Gegenstand eines Krieges sein. Wer den Krieg durchaus will, den vertröste ich darauf, daß er in den freien Conferenzen jederzeit zu finden ist: in vier oder sechs Wochen, wenn man ihn haben will. Ich bin weit davon entfernt, in einem so wichtigen Augenblicke, wie dieser ist, die Handlungsweise der Regierung durch Rathgeben hemmen zu wollen. Wenn ich dem Ministerium gegenüber einen Wunsch aussprechen wollte, so wäre es der, daß wir nicht eher entwaffnen, als bis die freien Conferenzen ein positives Resultat gegeben haben; dann bleibt es noch immer Zeit, einen Krieg zu führen, wenn wir ihn wirklich mit Ehren nicht vermeiden können oder nicht vermeiden wollen.

»Wie in der Union die deutsche Einheit gesucht werden soll, vermag ich nicht zu verstehen; es ist eine sonderbare Einheit, die von Hause aus verlangt, im Interesse dieses Sonderbundes einstweilen unsre deutschen Landsleute im Süden zu erschießen und zu erstechen; die die deutsche Ehre darin findet, daß der Schwerpunkt aller deutschen Fragen nothwendig nach Warschau und Paris fällt. Denken Sie sich zwei Theile Deutschlands einander in Waffen gegenüber, deren Machtverschiedenheit nicht in dem Grade bedeutend ist, daß nicht eine Parteinahme auf einer Seite auch von einer geringeren Macht als Rußland und Frankreich ein entscheidendes Gewicht in die Wagschale legen könnte, und ich begreife nicht, mit welchem Recht Jemand, der ein solches Verhältniß selbst herbeiführen will, sich darüber beklagen darf, daß der Schwerpunkt der Entscheidung unter solchen Umständen nach dem Auslande fällt.«

Mein leitender Gedanke bei meiner Rede war, im Sinne der Ueberzeugung des Kriegsministers für den Aufschub des Krieges zu wirken, bis wir gerüstet sein würden. In seiner Klarheit konnte ich aber den Gedanken nicht öffentlich aussprechen, ich konnte ihn nur andeuten. Es wäre kein übermäßiger Anspruch an die Geschicklichkeit unsrer Diplomatie gewesen, von ihr zu verlangen, daß sie den Krieg nach Bedürfniß verschieben, verhüten oder zum Ausbruch bringen solle.

Zu jener Zeit, November 1850, war die russische Auffassung der revolutionären Bewegung in Deutschland schon eine viel ruhigere als bei dem ersten Ausbruche im März 1848. Ich war befreundet mit dem russischen Militär-Attaché Grafen Benckendorf und erhielt[65] 1850 im vertrauten Gespräche mit ihm den Eindruck, daß die deutsche einschließlich der polnischen Bewegung im Petersburger Cabinete nicht mehr in demselben Maße wie bei ihrem Ausbruche in Petersburg beunruhigte und als eine militärische Gefahr im Kriegsfalle aufgefaßt wurde. Im März 1848 erschien den Russen die Entwicklung der Revolution in Deutschland und Polen noch als etwas Unberechenbares und Gefährliches. Der erste russische Diplomat, der in Petersburg durch seine Berichte eine andre Ansicht vertrat, war der damalige Geschäftsträger in Frankfurt am Main, spätere Botschafter in Berlin, Baron von Budberg. Seine Berichte über die Verhandlungen und die Bedeutung der Paulskirche waren von Hause aus satirisch gefärbt, und die Geringschätzung, mit welcher dieser junge Diplomat von den Reden der deutschen Professoren und von der Machtstellung des Reichtstags in seinen Berichten sprach, hatte den Kaiser Nicolaus dergestalt befriedigt, daß Budberg's Carrière dadurch gemacht und derselbe sehr schnell zum Gesandten und Botschafter befördert wurde. Er hatte in ihnen vom antideutschen Standpunkte eine analoge politische Schätzung zum Ausdruck gebracht, wie sie in den altpreußischen Kreisen in Berlin, in denen er früher gelebt hatte, in landsmannschaftlicher und besorgter Weise herrschend war, und man kann sagen, daß die Auffassung, als deren erster Erfinder er in Petersburg Carrière machte, dem Berliner »Casino« entsprungen war. Seitdem hatte man in Rußland nicht nur die militärische Stellung an der Weichsel wesentlich verstärkt, sondern auch einen geringeren Eindruck von der damaligen militärischen Leistungsfähigkeit der Revolution sowohl wie der deutschen Regierungen gewonnen, und die Sprache, welche ich im November 1850 bei dem mir befreundeten russischen Gesandten Baron Meyendorff und seinen Landsleuten hörte, war eine im russischen Sinne vollkommen zuversichtliche, von einer persönlich wohlwollenden, aber für mich verletzenden Theilnahme für die Zukunft des befreundeten Preußens durchsetzt. Sie machte mir den Eindruck, daß man Oesterreich für den stärkeren und zuverlässigeren Theil und Rußland selbst für stark genug hielt, um die Entscheidung zwischen beiden in die Hand zu nehmen.

1

Der General von Gerlach hat im August 1850 niedergeschrieben: »Die Verehrung des Königs für Radowitz beruht auf zwei Dingen: 1) seinem scheinbar scharf logisch-mathematischen Raisonnement, bei dem seine gedankenlose Indifferenz es ihm möglich macht, jeden Widerspruch mit dem Könige zu vermeiden. Nun sieht der König in dieser seinem Ideengange ganz entgegengesetzten Denkart die Probe für das Exempel, was er sich zusammengerechnet, und hält sich so seiner Sache gewiß. 2) Der König hält seine Minister und auch mich für Rindvieh, schon darum, weil jene mit ihm kurrente und praktische Geschäfte abmachen müssen, welche nie seinen Ideen entsprechen. Er traut sich nicht die Fähigkeit zu, diese Minister sich folgsam zu machen, auch nicht die, andre zu finden, er gibt also diesen Weg auf und glaubt, in Radowitz einen gefunden zu haben, von Deutschland aus Preußen zu restauriren, wie das Radowitz in ›Deutschland und Friedrich Wilhelm IV.‹ geradezu eingesteht.«

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 66.
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