II

[126] Das Mißvergnügen über meinen Verkehr mit Napoleon entsprang aus dem Begriffe oder genauer gesprochen dem Worte Legitimität, das in dem modernen Sinne von Talleyrand geprägt und 1814 und 1815 mit großem Erfolge und zum Vortheil der Bourbonen als eine täuschende Zauberformel benutzt worden ist.

Ich schalte hier ein Schreiben von mir an Gerlach ein, das etwas später fällt, dessen Anlaß aber schon in den oben mitgetheilten Bruchstücken seiner Briefe zu erkennen ist


»Frankfurt, den 2. Mai 1857


So einstimmig wir in Betreff der innern Politik sind, so wenig kann ich mich in Ihre Auffassung der äußern hineinleben, der ich im Allgemeinen den Vorwurf mache, daß sie die Realitäten ignorirt. Sie gehen davon aus, daß ich einem vereinzelten Manne, der mir imponire, das Princip opfere. Ich lehne mich gegen Vorder- und Nachsatz auf, der Mann imponirt mir durchaus nicht; die Fähigkeit, Menschen zu bewundern, ist in mir nur mäßig ausgebildet, und es ist vielmehr ein Fehler meines Auges, daß es schärfer für die Schwächen als für die Vorzüge ist. Wenn mein letzter Brief etwa ein lebhafteres Colorit hat, so war das ein rhetorisches Hülfsmittel, um auf Sie zu wirken. Was aber das geopferte Princip betrifft, so kann ich mir das, was Sie damit meinen, concret nicht recht formulieren und bitte Sie, diesen Punkt in einer Antwort wieder aufzunehmen. Meinen Sie damit ein auf Frankreich und seine Legitimität anzuwendendes Princip, so gestehe ich, daß ich dies einem specifisch preußischen Patriotismus vollständig unterordne. Frankreich mit seinen Herrschern interessirt mich nur insoweit, als es auf die Lage meines Vaterlandes reagirt, und wir können Politik nur mit dem Frankreich treiben, welches vorhanden ist, dieses aber aus den Combinationen nicht ausschließen. Ein legitimer Monarch wie Ludwig der XIV. ist ein ebenso feindseliges Element für uns wie Napoleon I. und wenn dessen jetziger Nachfolger heute auf den Gedanken käme, zu abdiciren, so würde er uns damit gar keinen Gefallen thun, und Heinrich V. würde nicht sein Nachfolger sein; auch wenn man ihn auf den vacanten Thron[126] hinaufsetzte, würde er sich nicht darauf behaupten. Ich kann als Romantiker eine Thräne für sein Geschick haben, als Diplomat würde ich sein Diener sein, wenn ich Franzose wäre, so aber zählt mir Frankreich, ohne Rücksicht auf die jeweilige Spitze, nur als ein Stein und zwar ein unvermeidlicher in dem Schachspiel der Politik, einem Spiele, in welchem ich nur meinem Könige und meinem Lande zu dienen den Beruf habe. Sympathien und Antipathien in Betreff auswärtiger Mächte und Personen vermag ich vor meinem Pflichtgefühl im auswärtigen Dienste meines Landes nicht zu rechtfertigen, weder an mir noch an Andern; es ist darin der Embryo der Untreue gegen den Herrn oder das Land, dem man dient. Wenn man seine stehenden diplomatischen Beziehungen und die Unterhaltung des Einvernehmens im Frieden danach zuschneiden will, so hört man auf, Politik zu treiben und handelt nach persönlicher Willkür. Die Interessen des Vaterlandes dem eignen Gefühle von Liebe oder Haß gegen Fremde unterzuordnen, dazu hat meiner Ansicht nach selbst der König nicht das Recht, hat es aber vor Gott und nicht vor mir zu verantworten, wenn er es thut, und darum schweige ich über diesen Punkt.

Oder finden Sie das Princip, welches ich geopfert, in der Formel, daß ein Preuße stets ein Gegner Frankreichs sein müsse? Aus dem Obigen geht schon hervor, daß ich den Maßstab für mein Verhalten gegen fremde Regierungen nicht aus stagnirenden Antipathien, sondern nur aus der Schädlichkeit oder Nützlichkeit für Preußen entnehme. In der Gefühlspolitik ist gar keine Reciprocität, sie ist eine ausschließlich preußische Eigenthümlichkeit; jede andre Regierung nimmt lediglich ihre Interessen zum Maßstab ihrer Handlungen, wie sie dieselben auch mit rechtlichen oder gefühlvollen Deductionen drapiren mag. Man acceptirt unsre Gefühle, beutet sie aus, rechnet darauf, daß sie uns nicht gestatten, uns dieser Ausbeutung zu entziehen, und behandelt uns danach, d.h. man dankt uns nicht einmal dafür und respectirt uns nur als brauchbare dupe.

Ich glaube, Sie werden mir Recht geben, wenn ich behaupte, daß unser Ansehen in Europa heute nicht dasselbe ist wie vor 1848; ich meine sogar, es war größer zu jeder Zeit zwischen 1763 und 1848, mit Ausnahme natürlich der Zeit von 1807 bis 1813. Ich räume ein, daß unser Machtverhältniß zu andern Großmächten, namentlich aggressiv, vor 1806 ein stärkeres war als jetzt, von 1815 bis 1848 aber nicht; damals waren ziemlich Alle, was sie jetzt noch sind, und doch müssen wir sagen wie der Schäfer in Goethe's Gedicht: ›Ich bin heruntergekommen und weiß doch selber nicht[127] wie.‹ Ich will auch nicht behaupten, daß ich es weiß, aber viel liegt ohne Zweifel in dem Umstande, daß wir keine Bündnisse haben und keine auswärtige Politik treiben, das heißt, keine active, sondern uns darauf beschränken, die Steine, die in unsern Garten fallen, aufzusammeln und den Schmutz, der uns anfliegt, abzubürsten, wie wir können. Wenn ich von Bündnissen rede, so meine ich damit keine Schutz- und Trutzbündnisse, denn der Friede ist noch nicht bedroht; aber alle die Nuancen von Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Absicht, für den Fall eines Krieges dieses oder jenes Bündniß schließen, zu dieser oder jener Gruppe gehören zu können, bleiben doch die Basis des Einflusses, den ein Staat heut zu Tage üben kann. Wer sich in der für den Kriegsfall schwächeren Combination befindet, ist nachgiebiger gestimmt; wer sich ganz isoliert, verzichtet auf Einfluß, besonders wenn es die schwächste unter den Großmächten thut. Bündnisse sind der Ausdruck gemeinsamer Interessen und Absichten. Ob wir Absichten und bewußte Ziele unsrer Politik überhaupt jetzt haben, weiß ich nicht; aber daß wir Interessen haben, daran werden uns Andre schon erinnern. Die Wahrscheinlichkeit eines Bündnisses haben wir bisher nur mit denen, deren Interessen sich mit den unsrigen am mannigfachsten kreuzen und ihnen widersprechen, nämlich mit den deutschen Staaten und Oesterreich. Wollen wir unsre auswärtige Politik damit als abgeschlossen betrachten, so müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, in Friedenszeiten unsern europäischen Einfluß auf ein Siebzehntel der Stimmen des engern Rathes im Bunde reducirt zu sehen und im Kriegsfalle mit der Bundesverfassung in der Hand allein im Taxis'schen Palais übrig zu bleiben. Ich frage Sie, ob es in Europa ein Cabinet gibt, welches mehr als das Wiener ein geborenes und natürliches Interesse daran hat, Preußen nicht stärker werden zu lassen, sondern seinen Einfluß in Deutschland zu mindern; ob es ein Cabinet gibt, welches diesen Zweck eifriger und geschickter verfolgt, welches überhaupt kühner und cynischer nur seine eignen Interessen zur Richtschnur seiner Politik nimmt und welches uns, den Russen und den Westmächten zahlreichere und schlagendere Beweise von Perfidie und Unzuverlässigkeit für Bundesgenossen gegeben hat. Genirt sich denn Oesterreich etwa mit dem Auslande jede seinem Vortheil entsprechende Verbindung einzugehen und sogar die Theilnehmer des Deutschen Bundes vermöge solcher Verbindungen offen zu bedrohen? Halten Sie die österreichische für eine aufopfernde, hingebende Politik überhaupt und insbesondere gegenüber außer-österreichischen[128] Interessen? Finden Sie zwischen der Buol-Bach'schen Regierungsweise und der Napoleonischen vom Standpunkt des ›Princips‹ einen Unterschied? Der Träger der letzteren sagte mir in Paris, es sei für ihn ›qui fais tous les efforts pour sortir de ce système de centralisation trop tendue qui en dernier lieu a pour pivot un gendarme secrétaire et que je considère comme une des causes principales des malheurs de la France‹ sehr merkwürdig zu sehen, wie Oesterreich die stärkste Anstrengungen mache, um in dies System hinein zu gerathen. Ich frage noch weiter und bitte Sie, mich nicht mit einer ausweichenden Wendung abzufinden: gibt es nächst Oesterreich Regierungen, die weniger den Beruf fühlen, etwas für Preußen zu thun als die deutschen Mittelstaaten? Im Frieden haben sie das Bedürfniß, am Bunde und im Zollverein Rollen zu spielen, ihre Souveränetät an unsern Grenzen geltend zu machen, sich mit von der Heydt zu zanken, und im Kriege wird ihr Verhalten durch Furcht oder Mißtrauen für oder gegen uns bedingt. Das Mißtrauen wird ihnen kein Engel ausreden können, so lange es noch Landkarten gibt, auf die sie einen Blick werfen können. Und nun noch eine Frage: Glauben Sie denn und glaubt Se. Majestät der König wirklich noch an den Deutschen Bund und an seine Armee für den Kriegsfall? Ich meine nicht für den Fall eines französischen Revolutionskrieges gegen Deutschland im Bunde mit Rußland, sondern in einem Interessenkriege, bei dem Deutschland mit Preußen und Oesterreich auf ihren alleinigen Füßen zu stehen angewiesen wären. Was könnte Sie berechtigen, daran zu glauben, daß die Großherzöge von Baden und Darmstadt, die Könige von Württemberg und Bayern sich für Preußen und Oesterreich opfern werden, wenn die Macht nicht auf deren Seite ist und wenn Niemand an Einheit und Vertrauen zwischen Preußen und Oesterreich auch nur den mäßigsten Grund hat zu glauben? – Schwerlich wird der König Max in Fontainebleau dem Napoleon sagen, daß er nur über seine Leiche die Grenze Preußens passiren werde.

Ganz erstaunt bin ich, in Ihrem Briefe zu lesen, daß die Oesterreicher behaupten, sie hätten uns in Neuenburg mehr verschafft als die Franzosen. Wenn sie gewollt hätten, so hätten sie es nicht gekonnt und mit Frankreich und England wahrlich keine Händel unsretwillen angefangen. Sie haben im Gegentheil uns in der Durchmarschfrage genirt, uns verleumdet und Baden abwendig gemacht und jetzt in Paris sind sie mit England unsre Gegner gewesen. Ich weiß von den Franzosen und von Kisselef, daß in allen Besprechungen,[129] wo Hübner ohne Hatzfeldt gewesen ist, er stets der Erste war, sich dem englischen Widerspruch gegen uns anzuschließen; dann ist Frankreich gefolgt, dann Rußland. Warum sollte aber überhaupt Jemand etwas für uns thun und sich für unsre Interessen einsetzen? Hatte denn Jemand von uns etwas dafür zu hoffen oder zu fürchten, wenn er uns den Gefallen that oder nicht? Daß man in der Politik aus Gefälligkeit oder aus allgemeinem Rechtsgefühl handelt, das dürfen Andre von uns, wir aber nicht von ihnen erwarten.

Wollen wir so isoliert, unbeachtet, gelegentlich schlecht behandelt weiter leben, so habe ich freilich keine Macht, es zu ändern; wollen wir aber wieder zu Ansehn gelangen, so erreichen wir das unmöglich damit, daß wir unser Fundament lediglich auf den Sand des Deutschen Bundes bauen und den Einsturz in Ruhe abwarten. So lange Jeder von uns die Ueberzeugung hat, daß ein Theil des europäischen Schachbrettes uns nach unsrem eignen Willen verschlossen bleibt oder daß wir uns einen Arm principiell festbinden, während jeder Andre beide zu unsrem Nachtheil benutzt, wird man diese unsre Gemüthlichkeit ohne Dank und Furcht benutzen. Ich verlange garnicht, daß wir mit Frankreich ein Bündniß schließen und gegen Deutschland conspiriren sollen; aber ist es nicht vernünftiger, mit den Franzosen, so lange sie uns in Ruhe lassen, auf freundlichem Fuße zu stehen? Ich will nichts weiter, als andern Leuten den Glauben benehmen, sie könnten sich verbrüdern, mit wem sie wollten, aber wir würden eher Riemen aus unsrer Haut schneiden lassen, als dieselbe mit französischer Hülfe vertheidigen. Höflichkeit ist eine wohlfeile Münze; wenn sie auch nur dahin führt, daß die Andern nicht mehr glauben, sie seien Frankreichs gegen uns immer sicher und wir jeder Zeit hülfsbedürftig gegen Frankreich, so ist das für die Friedensdiplomatie ein großer Gewinn. Wenn wir diese Hülfsmittel verschmähen, sogar das Gegentheil thun, so weiß ich nicht, warum wir nicht lieber die Kosten der Diplomatie sparen und reduciren, denn diese Kaste vermag mit allen Arbeiten nicht zu Wege zu bringen, was der König mit geringer Mühe kann, nämlich Preußen eine angesehene Stellung im Frieden durch den Anschein von freundlichen Beziehungen und möglichen Verbindungen wiederzugeben. Nicht minder vermag Se. Majestät durch ein Zurschautragen kühler Verhältnisse leicht alle Arbeit der Diplomatie zu lähmen; denn was soll ich hier oder einer unsrer Gesandten anderwärts durchsetzen, wenn wir den Eindruck machen, ohne Freunde zu sein oder lediglich auf[130] Oesterreichs Freundschaft zu rechnen. Man muß nach Berlin kommen, um nicht ausgelacht zu werden, wenn man von Oesterreichs Unterstützung in irgend einer für uns erheblichen Frage sprechen will, und selbst in Berlin kenne ich auch nur einen sehr kleinen Kreis, in dem das Gefühl der Bitterkeit nicht durchbräche, sobald von unsrer auswärtigen Politik die Rede ist. Unser Recept für alle Uebel ist, uns an die Brust des Grafen Buol zu werfen und ihm unser brüderliches Herz auszuschütten. Ich erlebte in Paris, daß ein Graf X. gegen seine Frau auf Scheidung klagte, nachdem er sie, eine ehemalige Kunstreiterin, zum zweiten [24.] Male in flagrantem Ehebruch betroffen hatte; er wurde als ein Muster von galantem und nachsichtigem Ehemann von seinem Advocaten vor Gericht gerühmt, aber gegen unsern Edelmuth mit Oesterreich kann er sich doch nicht messen.

Unsre innern Verhältnisse leiden unter ihren eignen Fehlern kaum mehr als unter dem peinlichen und allgemeinen Gefühl unsres Verlustes an Ansehn im Auslande und der gänzlich passiven Rolle unsrer Politik. Wir sind eine eitle Nation und es ist uns schon empfindlich, wenn wir nicht renommiren können; einer Regierung, die uns nach außen hin Bedeutung gibt, halten wir vieles zu Gute und lassen uns von ihr viel dafür gefallen, selbst im Beutel. Aber wenn wir uns im Innern sagen müssen, daß wir mehr durch unsre guten Säfte die Krankheiten ausstoßen, welche unsre ministeriellen Aerzte uns einimpfen, als daß wir von ihnen geheilt und zu gesunder Diät geleitet werden, so sucht man im Auswärtigen vergebens nach einem Troste dafür. Sie sind doch au fait unserer Politik; können Sie mir nun ein Ziel nennen, welches dieselbe sich etwa gesteckt hat, auch nur einen Plan auf einige Monate hinaus? Weiß man gerade rebus sic stantibus, was man eigentlich will? Weiß das irgend Jemand in Berlin und glauben Sie, daß bei den Leitern eines andern Staates dieselbe Leere an positiven Zwecken und Ideen vorhanden ist? Können Sie mir ferner einen Verbündeten nennen, auf welchen Preußen zählen könnte, wenn es heute zum Kriege käme, oder der für uns spräche bei einem Anliegen, wie etwa das Neuenburger, oder der irgend etwas thäte, weil er auf unsern Beistand rechnet oder unsre Feindschaft fürchtet? Wir sind die gutmüthigsten, ungefährlichsten Politiker, und doch traut uns eigentlich Niemand; wir gelten für unsichere Genossen und ungefährliche Feinde, ganz als hätten wir uns im Aeußern so betragen und wären so krank wie Oesterreich. Oder können Sie mir eine Absicht nennen, die wir seit dem Radowitz'schen Dreikönigsbündniß[131] in auswärtiger Politik gehabt haben? Doch, den Jahdebusen; der bleibt aber bisher ein todtes Wasserloch, und den Zollverein werden wir uns von Oesterreich ganz freundlich ausziehen lassen, weil wir nicht den Entschluß haben, einfach Nein zu sagen. Ich wundere mich, wenn es bei uns noch Diplomaten gibt, denen der Muth, einen Gedanken zu haben, denen die sachliche Ambition, etwas leisten zu wollen, nicht schon erstorben ist, und ich werde mich ebenso gut wie meine Collegen darin finden, einfältig meine Instruction zu vollziehen, den Sitzungen beizuwohnen und mich der Theilnahme für den allgemeinen Gang der Politik zu entschlagen; man bleibt gesünder dabei und verbraucht weniger Tinte.

Sie werden wahrscheinlich sagen, daß ich aus dépit, weil Sie nicht meiner Meinung sind, schwarz sehe und raisonnire; aber ich würde wahrlich ebensogern meine Bemühungen an die Durchführung fremder Ideen setzen, wenn ich solche nur fände. So weiter zu vegetiern, dazu bedürfen wir eigentlich des ganzen Apparats unsrer Diplomatie nicht. Die Tauben, die uns gebraten anfliegen, entgehen uns ohnehin schwerlich. Mein Streben geht nur dahin, daß wir solche Dinge zulassen und nicht von uns weisen, welche geeignet sind, bei den Cabineten in Friedenszeit den Eindruck zu machen, daß wir uns mit Frankreich nicht schlecht stehen, damit man auf unsre Beistandsbedürftigkeit gegen Frankreich nicht zählen und uns deshalb drücken dürfe und daß uns, wenn man unwürdig mit uns umgehen will, alle Bündnisse offen stehen. Wenn ich nun melde, daß diese Vortheile gegen Höflichkeit und gegen den Schein der Reciprocität zu haben sind, so erwarte ich, daß man mir entweder nachweist, es seien das keine Vortheile, es entspreche vielmehr unsern Interessen besser, wenn fremde und deutsche Höfe berechtigt sind, von der Annahme auszugehen, daß wir gegen Westen unter allen Umständen feindlich sein müssen und Bündnisse, eventuell Hülfe, dagegen brauchen, und wenn sie diese Annahme als Basis ihrer gegen uns gerichteten Operationen ausbeuten. Oder ich erwarte, daß man andre Pläne und Absichten hat, in deren Combination der Anschein eines guten Vernehmens mit Frankreich nicht paßt. Ich weiß nicht, ob die Regierung einen Plan hat und glaube es nicht; wenn man aber diplomatische Annäherungen einer großen Macht nur deshalb von sich abhält und die politischen Beziehungen zweier großen Mächte nur danach regelt, ob man Antipathien oder Sympathien für Zustände und Personen hat, die man nicht ändern kann und will, so drücke ich mich mit Zurückhaltung aus, indem ich sage: ›Ich habe dafür kein Verständnis als[132] Diplomat und finde mit der Annahme eines solchen Systems in auswärtigen Beziehungen das ganze Gewerbe der Diplomatie bis auf das Consulatswesen überflüssig und cassirt‹. Sie sagen mir, ›der Mann ist unser natürlicher Feind, und daß er es ist und bleiben wird, wird sich bald zeigen‹; ich könnte das bestreiten und mit demselben Rechte sagen: ›Oesterreich und England sind unsre Feinde, und daß sie es sind, zeigt sich schon längst, bei Oesterreich natürlicher, bei England unnatürlicher Weise‹. Aber ich will das auf sich beruhen lassen und annehmen, Ihr Satz wäre richtig, so kann ich es doch nicht für richtig halten, unsre Befürchtungen schon im Frieden von Frankreich und von Andern erkennen zu lassen, sondern finde es, bis der von Ihnen vorhergesehene Bruch wirklich eintritt, immer noch nützlich, die Leute glauben zu lassen, daß ein Krieg gegen Frankreich uns nicht nothwendig über kurz oder lang bevorsteht, daß er wenigstens nichts von Preußens Lage Unzertrennliches, daß die Spannung gegen Frankreich nicht ein organischer Fehler, eine angeborene schwache Seite unsrer Natur ist, auf die jeder Andre mit Sicherheit speculieren kann. Sobald man uns für kühl mit Frankreich hält, wird auch der Bundescollege hier kühl für mich.

v.B.«


Gerlach antwortete wie folgt:


»Berlin, 6. Mai 1857


Ihr Brief vom 2. hat auf der einen Seite mir eine große Freude gemacht, da ich daraus sehe, daß es Ihnen am Herzen liegt, mit mir in Einigkeit zu bleiben oder zu kommen, woraus sich die meisten Menschen wenig machen, auf der andern Seite aber auch zum Widerspruch und zur eignen Rechtfertigung aufgefordert.

Zunächst bilde ich mir ein, doch immer noch im innersten Grunde mit Ihnen einig zu sein. Wäre das nicht der Fall, so würde ich mich auf eine gründliche Widerlegung nicht einlassen, indem eine solche doch zu nichts führen könnte. Haben Sie das Bedürfniß, mit mir principiell nicht auseinander zu gehen, so liegt es uns doch zunächst ob, dieses Princip aufzusuchen und sich nicht an Negationen zu halten, wie z.B. ›Ignoriren von Realitäten‹, ›Ausschließen von Frankreich aus den politischen Combinationen‹. Ebensowenig dürften wir das gemeinschaftliche Princip in dem ›preußischen Patriotismus‹, ›in der Schädlichkeit und Nützlichkeit für Preußen‹, ›in dem ausschließlichen Dienst des Königs und des Landes‹ finden, denn das sind Dinge, die sich von selbst verstehen und bei denen[133] Sie doch auf die Antwort gefaßt sein müssen, daß ich diese Dinge in meiner Politik noch besser und mehr als in der Ihrigen und in jeder andern zu finden glaube. Mir ist aber das Aufsuchen des Princips gerade deshalb von der größten Wichtigkeit, weil ich, ohne ein solches gefunden zu haben, alle politischen Combinationen für fehlerhaft, unsicher und in hohem Grade gefährlich halte, wovon ich mich in den letzten zehn Jahren und gerade durch den Erfolg überzeugt habe.

Jetzt muß ich etwas weit ausholen und zwar bis zu Karl dem Großen, also über 1000 Jahre. Damals war das Princip der europäischen Politik die Ausbreitung der christlichen Kirche. Karl der Große huldigte demselben in seinen Kriegen mit den Sarazenen, Sachsen, Avaren u.s.w., und seine Politik war wahrlich nicht unpraktisch. Seine Nachfolger stritten sich principienlos unter einander, und wieder waren es die großen Fürsten des Mittelalters, welche dem alten Princip treu blieben. Die preußische Macht wurde gegründet durch die Kämpfe der brandenburgischen Markgrafen und des deutschen Ordens gegen diejenigen Völker, welche sich dem Kaiser, dem Vicarius der Kirche, nicht unterwerfen wollten, und das dauerte, bis daß der Verfall der Kirche zu dem Territorialismus, zum Verfall des Reiches, zur Spaltung in der Kirche führte. Seitdem war nicht mehr ein allgemeines Princip in der Christenheit. Von dem ursprünglichen Princip war noch allein der Widerstand gegen die gefährliche Macht der Türken übrig, und Oesterreich sowie später Rußland waren wahrlich nicht unpraktisch, als sie diesem Principe gemäß die Türken bekämpften. Die Türkenkriege begründeten die Macht dieser Reiche, und wäre man diesem Princip, das türkische Reich zu bekämpfen, treu geblieben: Europa oder die Christenheit wären nach menschlichen Begriffen dem Orient gegenüber in einer besseren Lage als jetzt, wo uns von dort die größten Gefahren drohen. Vor der französischen Revolution, dem schroffen und sehr praktischen Abfall von der Kirche Christi zunächst in der Politik, war eine Politik ›der Interessen‹ des sogenannten Patriotismus, und wohin diese führte, haben wir gesehen. Etwas Elenderes als die Politik Preußens von 1778 bis zur französischen Revolution hat es nie gegeben; ich erinnere an die Subsidien, die Friedrich II. an Rußland zahlte, die einem Tribut gleichkamen, an den Haß gegen England. Bei Holland hielt 1787 noch das alte Ansehen Friedrichs II.; die Reichenbacher Convention war aber schon eine durch Abweichung von dem Princip veranlaßte Blamage. Die Kriege des Großen Kurfürsten[134] waren im protestantischen Interesse, und die Kriege Friedrich Wilhelms III. gegen Frankreich waren recht eigentlich Kriege gegen die Revolution. Den protestantischen Charakter hatten wesentlich auch die drei schlesischen Kriege 1740 bis 1763, wenn auch bei allem diesen die Interessen des Territorialismus und das Gleichgewicht mitspielten.

Das Princip, was durch die Revolution, welche die Tour durch Europa machte, der europäischen Politik gegeben wurde, ist das nach meiner Meinung bis heute gültige. Es war wahrlich nicht unpraktisch, dieser Auffassung treu zu bleiben. England, was dem Kampfe gegen die Revolution bis 1815 treu blieb und sich durch den alten Bonaparte nicht beirren ließ, stieg zur höchsten Macht; Oesterreich kam nach vielen unglücklichen Kriegen dennoch gut aus der Fechtschule; Preußen hat schwer an den Folgen des Baseler Friedens gelitten und nur durch 1813–1815 sich rehabilitirt, noch viel mehr Spanien, was daran zu Grunde gegangen; und nach Ihrer eignen Ansicht sind die deutschen Mittelstaaten leider im Wiener Congreß aus Halbheit und Eifersucht octoyirte [protegirte] und geschützte Produkte der Revolution und des ihr folgenden Bonapartismus, der [die] Materia peccans, in Deutschland. Hätte man principienmäßig in Wien Belgien an Oesterreich und die fränkischen Fürstenthümer an Preußen zurückgegeben: Deutschland wäre in einer andern Lage als jetzt, besonders wenn man gleichzeitig die Mißgeburten Bayern, Württemberg, [Baden,] Darmstadt auf ihre natürliche Größe zurückgeführt hätte; damals aber zog man Arrondirung u.s.w., lauter mechanische Interessen dem Principe vor.

Sie haben sich aber gewiß bei meiner weitläuftigen Deduction schon gelangweilt, ich will daher der neuesten Zeit entgegengehen. Finden Sie es denn eine glückliche Lage der Dinge, daß jetzt, wo Preußen und Oesterreich sich feindlich entgegenstehen, Bonaparte bis Dessau hin regirt und Nichts in Deutschland geschieht, ohne bei ihm anzufragen? Kann uns ein Bündniß mit Frankreich den Zustand der Dinge ersetzen, welcher von 1815–1848 bestanden hat, wo sich keine fremde Macht in die deutschen Angelegenheiten mischte? Daß Oesterreich und die deutschen Mittelstaaten nichts für uns thun werden, davon bin ich wie Sie überzeugt. Ich glaube nur außerdem noch, daß Frankreich, das heißt Bonaparte, auch nichts für uns thun wird. Daß man unfreundlich und unhöflich gegen ihn ist, billige ich so wenig als Sie, daß man Frankreich aus den politischen Combinationen ausschließt, ist Wahnsinn. Daraus[135] folgt aber noch nicht, daß man Bonapartes Ursprung vergißt, ihn nach Berlin einladet und dadurch im In- und Auslande alle Begriffe verwirrt. In der Neufchâteler Sache hat er sich insofern gut benommen, daß er den Krieg verhindert und offen gesagt hat, daß er nicht mehr thun würde. Ob es aber nicht besser um diese Angelegenheit stände, wenn wir uns nicht von einer ›Gefühlspolitik‹ hätten leiten lassen, sondern die Sache an die europäischen Mächte, die das Londoner Protokoll unterzeichnet, gebracht hätten, ohne uns vorher unter die Flügel Bonaparte's geduckt zu haben, das ist doch noch sehr fraglich, und das hatte [hat] Oesterreich denn doch wirklich gewollt. Den Gefangenen, für die man sich verwenden konnte, wäre doch kein Leid geschehen.

Dann klagen Sie unsre Politik der Isolirtheit an. Dieselbe Anklage erhob der Freimaurer Usedom, als er uns in den Vertrag vom 2. December hineintreiben wollte, und Manteuffel, jetzt Usedom's entschiedener Feind, war sehr von diesem Gedanken imponirt, Sie damals aber Gott sei Dank nicht. Oesterreich schloß damals den Decembervertrag mit, was hat es ihm genutzt? Es taumelt umher nach Bündnissen. Eine Quasi-Allianz schloß es gleich nach dem Pariser Frieden, jetzt soll es eine geheime mit England geschlossen haben. Ich sehe dabei keinen Gewinn, sondern nur Verlegenheiten. Letztere Allianz kann nur für den Fall gültig werden, daß die französisch-englische auseinandergeht, und auch nur bis dahin wird Palmerston sich nicht abhalten lassen, mit Sardinien und Italien zu coquettiren.

Mein politisches Princip ist und bleibt der Kampf gegen die Revolution. Sie werden Bonaparte nicht davon überzeugen, daß er nicht auf der Seite der Revolution steht. Er will auch nirgends anders stehen, denn er hat davon seine entschiedenen Vortheile. Es ist hier also weder von Sympathie noch von Antipathie die Rede. Diese Stellung Bonaparte's ist eine ›Realität‹, die Sie nicht ›ignoriren‹ können. Daraus folgt aber keineswegs, daß man nicht höflich und nachgiebig, anerkennend und rücksichtsvoll gegen ihn sein, nicht, daß man sich zu bestimmten Dingen mit ihm verbinden kann. Wenn aber mein Princip wie das des Gegensatzes gegen die Revolution ein richtiges ist, und ich glaube, daß Sie es auch als ein solches anerkennen, so muß man es auch in der Praxis stets festhalten, damit, wenn die Zeit kommt, wo es praktisch wird, und diese Zeit muß kommen, wenn das Princip richtig ist, diejenigen, die wie vielleicht bald Oesterreich und auch England es anerkennen müssen, dann wissen, was sie von uns zu halten haben. Sie sagen[136] selbst, daß man sich auf uns nicht verlassen kann, und es ist doch nicht zu verkennen, daß nur der zuverlässig ist, welcher nach bestimmten Grundsätzen und nicht nach schwankenden Begriffen von Interessen u.s.w. handelt. England und in seiner Art auch Oesterreich waren von 1793 bis 1813 völlig zuverlässig und fanden daher immer Verbündete trotz aller Niederlagen, welche die Franzosen ihnen beibrachten.

Was nun unsre deutsche Politik anbetrifft, so glaube ich, daß es doch unser Beruf ist, den kleinen Staaten die preußische Ueberlegenheit zu zeigen und sich nicht Alles gefallen zu lassen, so in den Zollvereins-Verhältnissen und bei vielen andern Gelegenheiten, bis zu den Jagdeinladungen, bis zu den Prinzen, die in unsre Dienste treten u.s.w. Hier, d.h. in Deutschland, ist auch der Ort, wo man Oesterreich, wie es mir scheint, entgegentreten muß; gleichzeitig wäre aber auch jede Blöße gegen Oesterreich zu vermeiden. Dies wäre meine Erwiderung auf Ihren Brief.

Wenn ich aber noch über unsre außerdeutsche Politik reden soll, so kann ich es nicht auffallend und auch nicht ängstlich finden, wenn wir da in einer Zeit isolirt stehen, wo alle Verhältnisse auf den Kopf gestellt sind. England und Frankreich für jetzt noch so eng verbunden sind, daß Frankreich nicht den Muth hat, an Sicherheiten gegen die schweizer Radikalen zu denken, weil England es übel nehmen könnte, unterdessen aber dasselbe England in Furcht mit seinen Landungsvorbereitungen setzt und entschiedene Schritte zu einer russischen Allianz macht; Oesterreich in einem Bunde mit England, was dennoch fortwährend Italien aufwiegelt u.s.w. Wohin sollen wir uns da wenden nach Ihrer Ansicht, etwa wie es der hier anwesende Plonplon angedeutet haben soll, zu einer Allianz mit Frankreich und Rußland gegen Oesterreich und England? Aus einer solchen Allianz folgt aber unmittelbar ein überwiegender Einfluß Frankreichs in Italien, die gänzliche Revolutionirung dieses Landes und ebenfalls ein überwiegender Einfluß von Bonaparte in Deutschland. An diesem Einfluß würde man uns in den untergeordneten Sphären einigen Antheil lassen, aber keinen großen und keinen langen. Wir haben ja schon einmal Deutschland unter russisch-französischem Einflusse gesehen 1801 bis 1803, wo die Bisthümer säcularisirt und nach Pariser und Petersburger Vorschriften vertheilt wurden; Preußen, was sich damals gut mit den beiden Staaten und schlecht mit Oesterreich und England stand, erhielt auch etwas ab bei der Theilung, aber nicht viel, und sein Einfluß war geringer als je.

L.v.G.«
[137]

Von meiner Erwiderung ist das nachstehende Concept vorhanden, das in der Reinschrift einige Zusätze erhalten zu haben scheint.


»Frankfurt, Mai 1857


Bei Beantwortung Ihrer beiden letzten Briefe (von denen nur der eine erhalten ist) leide ich unter dem Gefühl der Unvollkommenheit des menschlichen Ausdrucks, besonders des schriftlichen; jeder Versuch, sich klar zu machen, ist der Vater neuer Mißverständnisse; es ist uns nicht gegeben, den ganzen innern Menschen zu Papier oder über die Zunge zu bringen, und die Bruchstücke, die wir zu Tage fördern, sind wir nicht im Stande den Andern so wahrnehmbar zu machen, wie wir sie selbst empfangen, theils wegen der Inferiorität der Sprache gegen den Gedanken, theils weil die äußern Thatsachen, die wir in Bezug nehmen, sich selten zweien Personen unter demselben Lichte darstellen, sobald der Eine nicht die Anschauung des Andern auf Glauben annimmt, sondern selbst urtheilt.

Ich schicke dies als Erklärung meines Zögerns mit der Antwort voraus. Den Abhaltungen, die in andern Geschäften, Besuchen, schönem Wetter und Kinderkrankheit lagen, kam jenes Gefühl zu Hülfe und entmuthigte mich, Ihrer negierenden Kritik mit neuen Argumenten gegenüber zu treten, von denen jedes ohne Zweifel seine Blößen und Halbheiten an sich tragen wird.

Das Princip des Kampfes gegen die Revolution erkenne auch ich als das meinige an, aber ich halte es nicht für richtig, Louis Napoleon als den alleinigen oder auch κατ᾽ ἐξοχήν als den Repräsentanten der Revolution anzusehen, und sehe nicht die Möglichkeit ein, das Princip in der Politik als ein solches durchzuführen, daß die entferntesten Consequenzen desselben immer noch jede andre Rücksicht durchbrechen, es gewissermaßen als den einzigen Trumpf im Spiele an zusehen, von dem die niedrigste Karte die höchste jeder andern Farbe sticht.

Wie viele Existenzen gibt es noch in der heutigen politischen Welt, die nicht auf revolutionärem Fundamente stehen? Ich will nicht von Spanien, Portugal, Brasilien, den amerikanischen Republiken, Belgien, Holland, der Schweiz, Griechenland, Schweden, und dem noch heute mit Bewußtsein in der Gloriarevolution von 1688 fußenden England reden; selbst für das Terrain, welches die heutigen deutschen Fürsten theils dem Kaiser und dem Reiche, theils ihren Mitständen, den Standesherrn, theils ihren eignen Landständen[138] abgenommen, läßt sich kein vollständig legitimer Besitztitel nachweisen, und in unsrem eignen staatlichen Leben können wir der Berührung mit der Revolution, der Benutzung revolutionärer Unterlagen an keinem Tage entgehen. Viele der angedeuteten Zustände sind eingealtert, und wir haben uns daran gewöhnt; es geht uns damit wie mit allen den Wundern, die uns täglich 24 Stunden lang umgeben und uns deshalb nicht mehr als Wunder erscheinen, und Niemanden abhalten, den Begriff des ›Wunders‹ auf Erscheinungen einzuschränken, welche durchaus nicht wunderbarer sind als die eigne Geburt und das tägliche Leben der Menschen.

Wenn ich ein Princip als allgemein durchgreifend anerkennen soll, so muß es auch zu allen Zeiten wahr sein und der Grundsatz quod ab initio non valet tractu [lapsu] temporis convalescere nequit bleibt der Doctrin gegenüber richtig. Aber selbst, wenn die revolutionären Erscheinungen der Vergangenheit noch nicht den Grad von Verjährung hatten, daß man von ihnen sagen konnte, wie die Hexe im Faust von ihrem Höllentrank: ›Hier habe ich eine Flasche, aus der ich selbst zuweilen nasche, die auch nicht mehr im mindesten stinkt‹, hat man nicht immer die Keuschheit, sich liebender Berührungen zu enthalten; Cromwell wurde von sehr antirevolutionären Potentaten Herr Bruder genannt und seine Freundschaft gesucht, wenn sie nützlich erschien. Mit den Generalstaaten waren sehr ehrbare Fürsten im Bündniß, bevor sie von Spanien anerkannt wurden. Wilhelm von Oranien und seine Nachfolger galten, auch während die Stuarts noch prätendirten, unsern Vorfahren für durchaus koscher und den Nordamerikanischen Freistaaten haben wir schon in dem Haager Vertrage von 1785 ihren revolutionären Ursprung verziehen. Der König von Portugal hat uns in Berlin besucht, und mit dem Hause Bernadotte hätten wir uns verschwägert, wenn nicht zufällig Hindernisse eintraten. Wann und nach welchen Kennzeichen haben alle diese Mächte aufgehört revolutionär zu sein? Es scheint, daß man ihnen die illegitime Geburt verzeiht, sobald man keine Gefahr von ihnen besorgt, und daß man sich alsdann auch nicht daran stößt, wenn sie sich fortwährend ohne Buße, ja mit Rühmen zu ihrer Wurzel im Unrecht bekennen.

Ich sehe nicht, daß vor der französischen Revolution ein Staatsmann, auch der gewissenhafteste, auf den Gedanken gekommen wäre, sein gesammtes politisches Streben, sein Verhalten im Innern und nach Außen dem Princip des ›Kampfes gegen die Revolution‹[139] unterzuordnen und die Beziehungen seines Landes zu andern an diesem Probirstein allein zu prüfen; und doch waren die Grundsätze der Amerikanischen Revolution und der Englischen von 1648, abgesehen von dem nach dem Nationalcharakter verschiedenen äußerlichen Unfug mit der Religion, ziemlich dieselben wie die, welche die Unterbrechung der Continuität des Rechtes in Frankreich herbeiführten. Ich kann nicht annehmen, daß es nicht vor 1789 einige ebenso christliche und conservative Politiker, ebenso richtige Erkenner des Bösen gegeben hätte, wie wir es sind, und daß die Wahrheit eines von uns als Grundlage aller Politik hinzustellenden Princips ihnen entgangen sein sollte. Ich finde auch nicht, daß wir auf alle revolutionäre Erscheinungen seit 1789 das Prinzip ebenso rigoros anwenden wie auf Frankreich. Die analogen Rechtszustände in Oesterreich, das Prosperiren der Revolution in Portugal, Spanien, Belgien und in dem durchaus revolutionären heutigen Dänemark halten uns nicht ab, die persönlichen Beziehungen unsres Königs zu den Monarchen dieser Länder milder zu beurtheilen als die zu Napoleon III. Was steckt aber in dem letzteren Besonderes? Die Familie Bonaparte hat weder die Revolution in die Welt gebracht, noch würde die Revolution damit beseitigt oder auch nur eingedeicht sein, wenn man jene Familie vertilgte; die Revolution ist viel älter und viel breiter in der Grundlage als die Bonapartes und Frankreich; will man ihr einen irdischen Ursprung anweisen, so wäre der nicht einmal in letzterem Lande zu suchen, sondern in England, wenn nicht noch früher in Deutschland oder in Rom, je nachdem man die Auswüchse der Reformation oder die der Römischen Kirche und die Einführung des Römischen Rechtes in die Germanische Welt als schuldig ansehen will. Der erste Napoleon hat damit begonnen, die Revolution in Frankreich für seinen Ehrgeiz richtig zu benutzen und dann mit falschen Mitteln bekämpft; gefördert wenigstens hat er sie nicht in dem Grade, wie die drei Louis vor ihm durch die Einführung des Absolutismus unter Ludwig XIV., durch die Unwürdigkeiten der Regentschaft unter Ludwig XV., durch die Schwäche Ludwigs XVI., der am 14. September 1791 mit Annahme der Verfassung die Revolution für beendigt erklärte. Das Haus Bourbon hat mehr für die Revolution gethan als alle Bonapartes. Der Bonapartismus ist nicht der Vater der Revolution, er ist nur wie jeder Absolutismus ein fruchtbares Feld für die Saat derselben; ich will ihn mit diesem Raisonnement keineswegs außerhalb des Gebietes der revolutionären Erscheinungen stellen, sondern ihn nur frei von den[140] Zuthaten zur Anschauung bringen, die seinem Wesen nicht nothwendig eigen sind. So sehe ich auch in ungerechten Kriegen und Eroberungen kein eigenthümliches Attribut der Familie Bonaparte. Der Trieb zum Erobern ist England, Nordamerika, Rußland und Andern nicht minder eigen wie dem napoleonischen Frankreich, findet bei den legitimsten Monarchien seine Schranke schwerlich in der eigenen Bescheidenheit und Gerechtigkeitsliebe. Bei Napoleon III. scheint er nicht als Instinct zu dominiren; er ist kein Feldherr, und im großen Kriege an seiner Grenze würde es nicht fehlen, daß die Blicke der französischen Armee, der Trägerin seiner Herrschaft, sich mehr auf einen glücklichen General lenkten als auf den Kaiser. Er wird den Krieg nur dann suchen, wenn er sich durch innere Gefahren dazu genöthigt glaubt; diese Nöthigung würde für einen legitimen König, der jetzt zur Regierung käme, aber von Hause aus vorhanden sein.

Weder die Erinnerung an die Eroberungssucht des Onkels noch die Thatsache des ungerechten Ursprungs seiner Macht berechtigt mich also, den gegenwärtigen Kaiser der Franzosen als den ausschließlichen Repräsentanten der Revolution, als vorzugsweises Object des Kampfes gegen dieselbe zu betrachten. Den zweiten Makel theilt er mit vielen bestehenden Gewalten, des ersteren ist er bisher nicht verdächtiger als Andre. Sie, verehrter Freund, werfen ihm vor, daß er sich nicht halten könne, wenn nicht ringsum alles so sei wie bei ihm. Auch das kann ich nicht unterschreiben. Der Bonapartismus unterscheidet sich dadurch von der Republik, daß er nicht das Bedürfniß hat, seine Regierungsgrundsätze gewaltsam zu propagiren. Selbst der erste Napoleon hat den Ländern, die nicht direct oder indirect zu Frankreich geschlagen wurden, seine Regierungsform nicht aufgedrängt; man ahmte sie im Wetteifer freiwillig nach. Fremde Staaten mit Hülfe der Revolution zu bedrohen, ist seit einer ziemlichen Reihe von Jahren das Gewerbe Englands, nicht Bonapartes. Letzterer würde durch Ausbreitung revolutionärer Institutionen bei seinen Nachbarn Gefahren für sich selbst schaffen und wird vielmehr im Interesse der Erhaltung seiner Herrschaft und Dynastie bemüht sein, festere Grundlagen als die der Revolution für sich zu gewinnen. Ob er das kann, ist freilich eine andre Frage. Gewiß ist mir, daß er gegen die Fehler des bonapartistischen Regierungssystems nicht blind ist, denn er spricht über sie und beklagt sie. Indessen die jetzige Regierungsform ist für Frankreich nichts Willkürliches, was Louis Napoleon ein richten oder ändern könnte; sie war für ihn Gegebenes und ist wahrscheinlich[141] die einzige Methode, nach der Frankreich lange Zeit regiert werden kann; für alles Andre fehlt die Unterlage entweder von Hause aus im französischen Charakter, oder sie ist zerschlagen und verloren gegangen; und wenn Heinrich V. jetzt auf den Thron gelangt, er würde, wenn überhaupt, auch nicht anders regieren können. Louis Napoleon hat die revolutionären Zustände des Landes nicht geschaffen, hat auch die Herrschaft nicht in Auflehnung gegen eine rechtmäßig bestehende Autorität gewonnen, sondern sie wie ein herrenloses Gut aus dem Strudel der Anarchie herausgefischt. Wenn er sie jetzt niederlegen wollte, so würde er Europa in Verlegenheit setzen und man würde ihn ziemlich einstimmig bitten, zu bleiben; und wenn er sie an den Herzog von Bordeaux cedirte, so würde dieser sie ebensowenig erhalten können, als er sie zu erwerben vermochte. Wenn Louis Napoleon sich den élu de sept millions nennt, so erwähnt er damit eine Thatsache, die er nicht wegleugnen kann; er vermag sich keinen andern Ursprung zu geben, als er hat; daß er aber, nachdem er einmal im Besitz der Herrschaft ist, dem Princip der Volkssouveränität praktisch huldigte und von dem Willen der Massen das Gesetz empfinge, wie es jetzt in England mehr und mehr geschieht, das kann man von ihm nicht sagen.

Es ist natürlich, daß die brutale Unterdrückung, die schändliche Behandlung unsres Landes durch den ersten Napoleon in Allen, die es erlebt haben, einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat und daß in deren Augen das böse Princip, welches wir heut in Gestalt der Revolution bekämpfen, sich mit der Person und dem Geschlechte dessen identificirt, den man l'heureux soldat héritier de la révolution nannte. Aber Ludwig XIV. hat nach seinen Kräften nicht weniger heidnisch in Deutschland gewirthschaftet und mit nicht weniger Recht den Haß aller rechtschaffenen Leute auf sich gezogen als Napoleon, und Letzterer, wenn er mit seinen Anlagen und Neigungen als Sohn Ludwigs XVI. geboren wäre, hätte uns vermuthlich auch das Leben sauer genug gemacht. Ich glaube, Sie bürden dem jetzigen Napoleon zu viel auf, wenn Sie gerade in ihm und nur in ihm die zu bekämpfende Revolution personificiren und aus diesem Grunde eine Art von Proscription über ihn aussprechen, so daß es wider die Ehre sei, mit ihm umzugehen. Jedes Kennzeichen der Revolution, welches er an sich trägt, finden Sie auch an andern Stellen wieder, ohne daß Sie ihren Haß mit derselben Strenge der Doctrin auch dahin richteten. Das bonapartistische Regiment im Innern mit seiner Centralisation, seiner Vernichtung[142] der Selbständigkeiten, seinem gleichmachenden Druck, seiner Nichtachtung von Recht und Freiheit, seiner officiellen Lüge, seiner Corruption, seinen gefügigen und überzeugungslosen Schreibern blüht in dem von Ihnen mit unverdienter Vorliebe betrachteten Oesterreich ebenso wie in Frankreich und wird an der Donau aus freier Machtvollkommenheit mit Bewußtsein in's Leben gerufen, während Louis Napoleon es in Frankreich als vorhandene und, wie er selbst sagt, ihm selbst unwillkommene, aber nicht leicht zu ändernde Thatsache vorfand.

Ich finde das ›Besondere‹, welches uns heutzutage gerade die französische Revolution vorzugsweise als Revolution bezeichnen läßt, hiernach auch nicht in der Familie Bonaparte, sondern in der örtlichen und zeitlichen Nähe der Ereignisse und der Größe und Macht des Landes, in welchem sie sich zugetragen. Deshalb sind sie gefährlicher, aber ich finde es deshalb noch nicht schlechter, mit Louis Napoleon in Beziehung zu sein als mit andern von der Revolution erzeugten Existenzen, welche obenein für Ausbreitung derselben noch heute thätig sind. Mit diesem allen will ich keine Apologie von Personen und Zuständen in Frankreich geben; ich habe für die Ersteren keine Vorliebe und halte die Letzteren für ein Unglück des Landes; ich will nur erklären, warum es mir nach meiner Auffassung der Verhältnisse weder sündlich noch ehrenrührig scheint, mit Louis Napoleon als dem von uns anerkannten Souverän eines wichtigen Landes in nähere Verbindung zu treten, wenn es die Politik so mit sich bringt. Daß diese Verbindung an sich etwas Wünschenswerthes sei, habe ich nicht behauptet, sondern nur, daß alle andern Chancen schlechter sind, und daß wir, um sie zu bessern, durch die Wirklichkeit oder den Schein intimer Beziehung zu Frankreich hindurch müssen. Nur durch dieses Mittel können wir meines Erachtens Oesterreich so weit zur Vernunft und von seinem überspannten Schwarzenberg'schen Ehrgeiz zurückbringen, daß es die Verständigung mit uns statt unsrer Uebervortheilung erstrebt, und nur durch dieses Mittel können wir die Wiederbelebung directer Beziehungen der Rheinbundstaaten zu Frankreich hemmen, und England wird anfangen zu erkennen, wie wichtig ihm die Allianz Preußens ist, wenn es zu fürchten beginnt, daß es sie an Frankreich verliert.

Also auch wenn ich auf Ihr Programm einer österreichisch-englischen Verbindung eingehe, müssen wir die Vorbereitung dazu bei Frankreich anfangen, um jene Mächte erst zur Erkenntniß zu bringen.[143]

Sie sehen voraus, verehrter Freund, daß wir eine geringe Rolle in einer preußisch-russisch-französischen Allianz spielen werden; ich habe eine solche Allianz nie als etwas Wünschenswerthes hingestellt, sondern als eine Thatsache, die wahrscheinlich früher oder später eintreten wird, ohne daß wir sie hindern können, mit der man also rechnen, über deren Wirkung man sich klar werden muß; ich habe hinzugefügt, daß wir sie, nachdem Frankreich um unsre Freundschaft wirbt, durch scheinbares oder wirkliches Eingehen auf diese Werbung vielleicht hindern, abschwächen, jedenfalls vermeiden können, als der ›Dritte‹ in dieselbe zu treten. Verhältnißmäßig schwach werden wir in jeder Verbindung mit den übrigen Goßmächten erscheinen, solange wir eben nicht stärker sind als wir sind. Oesterreich und England werden, wenn wir in ihrem Bunde figuriren, ihre Ueberlegenheit auch nicht gerade in unsrem Interesse benutzen, das haben wir auf dem Wiener Congreß erleben können. Oesterreich kann uns keine Bedeutung in Deutschland gönnen und England keine Chance maritimer Entwicklung.

Sie parallelisieren mich mit Haugwitz und der damaligen Defensivpolitik. Die Verhältnisse damals waren aber andre. Frankreich war schon im Besitz der drohendsten Uebermacht und an seiner Spitze ein notorisch gefährlicher Eroberer; dabei war auf England zu rechnen. Ich habe den Muth, den Baseler Frieden durchaus nicht zu tadeln; mit dem damaligen Oesterreich und seinen Thugut, Lehrbach und Cobenzl war ebensowenig etwas zu machen wie mit dem heutigen. Daß wir 1815 verhältnißmäßig schlecht davonkamen, kann ich nicht dem Baseler Frieden zuschreiben, sondern den uns entgegenstehenden Interessen von Oesterreich und England und unsrer physischen Schwäche im Vergleich mit den andern großen Mächten. Die Rheinbundstaaten hatten noch viel mehr ›gebaselt‹ als wir und kamen ganz vorzüglich gut fort. Daß man 1805 nicht losschlug, war eine riesige Dummheit, wir hätten schnell und nachdrücklich bis zum letzten Hauch auf die Franzosen fallen müssen; aber stillzusitzen war noch unverständiger, als für Frankreich Partei zu nehmen. Nachdem wir indeß diese Gelegenheit hatten vorübergehen lassen, so mußten wir auch 1806 Friede à tout prix halten und eine bessere abwarten.

Ich bin gar nicht für Defensivpolitik, ich sage nur, daß wir ohne aggresive Absichten und Verpflichtungen auf die Annäherungsversuche Frankreichs eingehen können, daß diese Stellung gerade den Vorteil hat, uns jede Thür offen zu halten, bis die Lage der[144] Dinge fester und durchsichtiger wird, und daß ich für jetzt diese Richtung nicht als conspirirend gegen Andre, sondern als vorsorglich für unsre Nothwehr auffasse.

Sie sagen, Frankreich werde auch nicht mehr für uns thun, als Oesterreich und die Mittelstaaten, ich glaube, daß niemand etwas für uns thut, der nicht zugleich sein Interesse dabei findet. Die Interessen, die Oesterreich und die Mittelstaaten verfolgen, laufen aber den unsrigen so stracks zuwider, daß gar kein Arrangement darüber zu denken ist, bevor Oesterreich nicht eine bescheidenere Politik uns gegenüber einschlägt, wozu bisher wenig Aussicht ist. Sie stimmen mit mir darin überein, daß wir ›den kleineren Staaten die Ueberlegenheit Preußens zeigen müsse‹, aber welche Mittel haben wir dazu innerhalb der Bundesakte? Eine Stimme unter siebzehn und Oesterreich gegen uns.

Der Besuch Napoleons bei uns zu den Herbstmanövern würde aus allen den von mir in den letzten Jahren [Wochen] vorgetragenen Gründen hinreichen, dieser unsrer Stimme ein durchschlagendes Gewicht zu geben. Ohne etwas der Art halte ich es für sehr schwer, diejenigen wohlwollenden Beziehungen mit Frankreich zu erhalten, welche auch Sie für wünschenswerth ansehen, denn man wirbt von dort um uns, man hofft auf diese Zusammenkunft, und ein Korb von uns muß eine auch für andre Höfe erkennbare Abkühlung bewirken, weil er den ›parvenu‹ an der empfindlichsten Stelle berührt.

Schlagen Sie mir eine andre Politik vor und ich will sie ehrlich und vorurteilsfrei mit Ihnen diskutiren; aber die Passivität und Planlosigkeit unsrer Politik, die froh ist, wenn sie in Ruhe gelassen wird, können wir in der Mitte von Europa nicht durchführen.

v.B.«

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 126-145.
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