VI

[396] Man hätte glauben sollen, daß die nationale Partei, durch deren Begünstigung ich mir das Uebelwollen meiner früheren conservativen Parteigenossen zugezogen hatte, durch die rohen und unwürdigen Angriffe auf meine persönliche Ehrenhaftigkeit bewogen worden wäre, mir in der Abwehr irgendwie beizustehen oder doch zu erkennen zu geben, daß sie die Angriffe nicht billigte und die Ansicht meiner Verleumder über mich nicht theilte; ich erinnere mich aber nicht, in jener Zeit irgend einen nationalliberalen Versuch, mir zur Hülfe zu kommen, weder in der Presse noch[396] sonst im öffentlichen Leben, wahrgenommen zu haben. Es schien im Gegentheil, als ob im nationalliberalen Lager eine gewisse Genugthuung darüber herrschte, daß die conservative Partei mich angriff und mit mir brach, und als ob man bemüht wäre, den Bruch zu erweitern und bei mir den Stachel tiefer einzudrücken. Liberale und Conservative waren darüber einig, je nach dem Fraktionsinteresse mich zu verbrauchen, fallen zu lassen und anzugreifen. Die Frage, ob es dem Lande, dem allgemeinen Interesse nützlich sei, wird theoretisch natürlich von jeder Fraktion als die dominirende bezeichnet, und jede behauptet, daß sie eben auf dem Fraktionswege das Wohl der Gesammtheit suche und finde. In der That aber ist mir der Eindruck verblieben, daß jede unsrer Fraktionen ihre Politik betreibt, als ob sie allein da sei, ohne Rücksicht auf das Ganze und auf das Ausland sich auf ihrer Fraktionsinsel isolirt. Dabei kann man nicht einmal sagen, daß die verschiedenen Wege der Fraktionen auf dem politischen Kampfplatz durch Verschiedenheit der politischen Grundsätze und Ueberzeugungen in jedem Einzelnen zu einer Gewissensfrage und Nothwendigkeit würden; es geht den meisten Fraktionsmitgliedern wie den meisten Bekennern verschiedener Confessionen; sie gerathen in Verlegenheit, wenn man sie bittet, die unterscheidenden Merkmale der eignen Ueberzeugung den andern concurrirenden gegenüber anzuführen. In unsern Fraktionen ist der eigentliche Krystallisationspunkt nicht ein Programm, sondern eine Person, ein parlamentarischer Condottiere.

Auch die Beschlüsse entspringen nicht aus den Ansichten der Mitglieder, sondern aus dem Willen des Führers beziehungsweise eines hervorragenden Redners, was in der Regel zusammenfällt. Der Versuch einzelner Mitglieder, gegen die Fraktionsleitung, gegen den schlagfertigen Redner aufzukommen, ist mit so viel Unannehmlichkeiten, mit Niederlage in der Abstimmung, mit Störungen in dem täglichen, gewohnten Privatverkehr verbunden, daß schon ein recht selbstständiger Charakter dazu gehört, eine von der Fraktionsleitung abweichende Meinung zu vertreten; und Charakter genügt nicht, wenn nicht ein ausreichendes Maß von Wissen und Arbeitskraft hinzukommt. Die letztere aber nimmt zu in der Richtung nach links und nimmt ab in der Richtung nach rechts. Die erhaltenden Parteien setzen sich im Ganzen zusammen aus den zufriedenen Staatsbürgern, die den status quo angreifenden rekrutiren sich naturgemäß mehr aus den mit den bestehenden Einrichtungen unzufriedenen; und unter den Elementen, auf denen[397] die Zufriedenheit beruht, nimmt die Wohlhabenheit nicht die letzte Stelle ein. Nun ist es eine Eigenthümlichkeit, wenn nicht der Menschen im Allgemeinen, so doch der Deutschen, daß der Unzufriedene arbeitsamer und rühriger ist als der Zufriedene, der Begehrliche strebsamer als der Satte. Die geistig und körperlich satten Deutschen sind gewiß zuweilen aus Pflichtgefühl arbeitsam, aber in der Mehrheit nicht, und unter den gegen das Bestehende Ankämpfenden findet sich der Wohlhabende bei uns seltener aus Ueberzeugung, öfter von einem Ehrgeiz [getrieben], der auf diesem Wege schnellere Befriedigung hofft oder durch Verstimmung über politische oder confessionelle Widerwärtigkeiten auf ihn gedrängt worden ist. Das Ergebniß im Ganzen ist immer eine größere Arbeitsamkeit unter den Kräften, welche das Bestehende angreifen als unter denen, die es vertheidigen, also den Conservativen. Dieser Mangel an Arbeitsamkeit der Mehrheit erleichtert wiederum die Leitung einer conservativen Fraktion in höherem Maße, als dieselbe durch individuelle Selbstständigkeit und stärkeren Eigensinn der Einzelnen erschwert werden könnte. Nach meinen Erfahrungen ist die Abhängigkeit der conservativen Fraktionen von dem Gebote ihrer Leitung mindestens ebenso stark, vielleicht stärker als auf der äußersten Linken. Die Scheu vor dem Bruch ist auf der rechten Seite vielleicht größer als auf der linken, und der damals auf jeden Einzelnen stark wirkende Vorwurf, »ministeriell zu sein«, war der objectiven Beurtheilung auf der rechten Seite oft hinderlicher als auf der linken. Dieser Vorwurf hörte sofort auf, den Conservativen und andern Fractionen empfindlich zu sein, als durch meine Entlassung die regierende Stelle vacant geworden war, und jeder Parteiführer in der Hoffnung, bei ihrer Wiederbesetzung betheiligt zu werden, bis zur unehrlichen Verläugnung und Boycottirung des früheren Canzlers und seiner Politik servil und ministeriell wurde.

In der Zeit der Deklaranten wurde die antiministerielle Strömung, das heißt die Mißgunst, mit welcher ich von vielen meiner Standesgenossen betrachtet und behandelt wurde, lebhaft gefördert durch starke Einflüsse am Hofe. Der Kaiser hat mir seine Gnade und seine Unterstützung in Geschäften niemals versagt; das hinderte den Herrn aber nicht, die »Reichsglocke« täglich zu lesen. Dieses nur von der Verleumdung gegen mich lebende Blatt wurde im Kön. Hausministerium für unsern und andre Höfe in 13 Exemplaren colportirt und hatte seine Mitarbeiter nicht nur im katholischen, sondern auch im evangelischen Hof- und Landesadel. Die[398] Kaiserin Augusta ließ mich ihre Ungnade andauernd fühlen, und ihre unmittelbaren Untergebenen, die höchsten Beamten des Hofes, gingen in ihrem Mangel an Formen so weit, daß ich zu schriftlichen Beschwerden bei Sr. Majestät selbst veranlaßt wurde. Diese hatten den Erfolg, daß wenigstens die äußeren Formen mir gegenüber nicht mehr vernachlässigt wurden. – Minister Falk wurde demnächst durch dergleichen höfische Unfreundlichkeiten gegen ihn und seine Frau mehr als durch sachliche Schwierigkeiten seiner Stellung überdrüssig.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 396-399.
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