[440] Daß das russische Cabinet in den Abmachungen von Reichstadt den Oesterreichern für ihre Neutralität die Erwerbung Bosniens zugestanden hat, läßt annehmen, daß Herr von Oubril uns nicht die Wahrheit sagte, indem er versicherte, es werde sich in dem Balkankriege nur um eine promenade militaire, um Beschäftigung des trop plein des Heeres und um Roßschweife und Georgenkreuze handeln; dafür wäre Bosnien ein zu hoher Preis gewesen. Wahrscheinlich hatte man in Petersburg darauf gerechnet, daß Bulgarien, wenn von der Türkei losgelöst, dauernd in Abhängigkeit von Rußland bleiben werde. Diese Berechnung würde wahrscheinlich auch dann nicht zugetroffen sein, wenn der Friede von San Stefano ungeschmälert zur Ausführung gekommen wäre. Um nicht vor dem eignen Volke für diesen Irrthum verantwortlich zu sein, hat man sich mit Erfolg bemüht, der deutschen Politik, der »Untreue« des deutschen Freundes die Schuld für den unbefriedigenden Ausgang des Krieges aufzubürden. Es war das eine unehrliche Fiction; wir hatten niemals etwas Andres in Aussicht gestellt[440] als wohlwollende Neutralität, und wie ehrlich wir es damit gemeint haben, ergiebt sich schon daraus, daß wir uns durch die von Rußland verlangte Geheimhaltung der Reichstadter Abmachungen vor uns in unsrem Vertrauen und Wohlwollen für Rußland nicht irre machen ließen, sondern bereitwillig dem Wunsche, den der Graf Peter Schuwalow mir nach Friedrichsruh überbrachte, entgegen kamen und einen Congreß nach Berlin beriefen. Der Wunsch der russischen Regierung, vermittelst eines Congresses zu dem Frieden mit der Türkei zu gelangen, bewies, daß sie sich militärisch nicht stark genug fühlte, es auf Krieg mit England und Oesterreich ankommen zu lassen, nachdem die rechtzeitige Besetzung von Constantinopel einmal versäumt war. Für die Mißgriffe der russischen Politik theilt Fürst Gortschakow ohne Zweifel mit jüngeren und energischeren Gesinnungsgenossen die Verantwortlichkeit, aber frei von derselben ist er nicht. Wie stark seine Stellung, nach den russischen Traditionen gemessen, dem Kaiser gegenüber war, zeigt die Thatsache, daß er gegen den ihm bekannten Wunsch seines Herrn an dem Berliner Congresse als Vertreter Rußlands theilnahm. Indem er, gestützt auf seine Eigenschaft als Reichskanzler und auswärtiger Minister, seinen Sitz einnahm, entstand die eigenthümliche Situation, daß der vorgesetzte Reichskanzler und der seinem Ressort unterstellte Botschafter Schuwalow neben einander figurirten, der Träger der russischen Vollmacht aber nicht der Reichskanzler, sondern der Botschafter war. Gortschakow benützte das, um bei entscheidenden Abstimmungen unter Gesundheitsvorwänden wegzubleiben, während er gleichzeitig Sorge trug, den augenfälligen Eindruck seines Wohlbefindens äußerlich hervorzurufen. So wollte er sich die Möglichkeit wahren, demnächst vor der öffentlichen Meinung in Rußland sich von der Verantwortlichkeit für das von dem Grafen Schuwalow als Bevollmächtigten des Kaisers abgegebene Votum freizuhalten.
Diese vielleicht actenmäßig nur aus den russischen Archiven und vielleicht auch aus denen nicht nachweisbare, aber nach meiner Wahrnehmung unzweifelhafte Situation zeigt, daß auch in einer Regierung mit so einheitlicher und absoluter Spitze wie der russischen die Einheit der politischen Action nicht gesichert ist. Sie ist es vielleicht in höherem Grade in England, wo der leitende Minister und die Berichte, welche er empfängt, der öffentlichen Kritik unterliegen, während in Rußland nur der jedesmalige Kaiser in der Lage ist, je nach seiner Menschenkenntniß und Befähigung zu beurtheilen, welcher von seinen berichtenden und vorragenden Dienern irrt oder ihn belügt und von welchem er die[441] Wahrheit erfährt. Ich will damit nicht sagen, daß der laufende Dienst des Auswärtigen Amtes in London klüger betrieben wird als in Petersburg, aber die englische Regierung geräth seltener als die russische in die Nothwendigkeit, Irrthümer ihrer Untergebenen durch Unaufrichtigkeit wieder gut zu machen. Lord Palmerston hat freilich am 4. April 1856 im Unterhause mit einer von der Masse der Mitglieder wahrscheinlich nicht verstandenen Ironie gesagt, die Auswahl der dem Parlamente vorzulegenden Schriftstücke über Kars habe große Sorgfalt und Aufmerksamkeit von Personen, die nicht eine untergeordnete, sondern eine hohe Stellung im Auswärtigen einnähmen, erfordert. Das Blaubuch über Kars, die castrirten Depeschen von Sir Alexander Burnes aus Afghanistan und die Mittheilungen der Minister über die Entstehung der Note, welche die Wiener Conferenz 1854 dem Sultan anstatt der Mentschikow'schen zur Unterzeichnung empfahl, sind Proben von der Leichtigkeit, mit welcher Parlament und Presse in England getäuscht werden können. Daß die Archive des auswärtigen Amtes in London ängstlicher als irgendwo gehütet werden, läßt vermuthen, daß in denselben noch manche ähnliche Probe zu entdecken sein würde. Im Ganzen wird man aber doch sagen dürfen, daß der Zar leichter zu belügen ist als das Parlament.
Bei den diplomatischen Verhandlungen über Ausführung der Bestimmungen des Berliner Congresses wurde in Petersburg erwartet, daß wir jede russische Auffassung der österreichisch-englischen gegenüber ohne weiteres und namentlich ohne vorgängige Verständigung zwischen Berlin und Petersburg unterstützen und durchsetzen würden. Meine angedeutete, endlich ausgesprochene Forderung, die russischen Wünsche uns vertraulich, aber deutlich auszusprechen und darüber zu verhandeln, wurde eludirt, und ich erhielt den Eindruck, daß Fürst Gortschakow von mir, wie eine Dame von ihrem Verehrer, erwartete, daß ich die russischen Wünsche errathen und vertreten würde, ohne daß Rußland selbst sie auszusprechen und dadurch eine Verantwortlichkeit zu übernehmen brauchte. Selbst in Fällen, wo wir annehmen durften, der russischen Interessen und Absichten völlig gewiß zu sein, und glaubten, der russischen Politik einen Beweis unsrer Freundschaft freiwillig geben zu können, ohne eigne Interessen zu schädigen, erfuhren wir statt der erwarteten Anerkennung eine nörgelnde Mißbilligung, weil wir angeblich in Richtung und Maß nicht das von unsrem russischen Freunde Erwartete getroffen hatten. Auch wenn letzteres unzweifelhaft der Fall war, hatten wir keinen besseren[442] Erfolg. In diesem ganzen Verfahren lag eine berechnete Unehrlichkeit nicht nur uns, sondern auch dem Kaiser Alexander gegenüber, dessen Gemüthe die deutsche Politik als unehrlich und unzuverlässig erscheinen sollte. Votre amitié est trop platonique, hat die Kaiserin Marie einem unsrer Vertreter vorwurfsvoll gesagt. Platonisch bleibt die Freundschaft eines großmächtlichen Cabinets für die andern allerdings immer bis zu einem gewissen Grade; denn keine Großmacht kann sich in den ausschließlichen Dienst einer andern stellen. Sie wird immer ihre nicht nur gegenwärtigen, sondern auch zukünftigen Beziehungen zu den übrigen im Auge behalten und dauernde, principielle Feindschaft mit jeder von ihnen nach Möglichkeit vermeiden müssen. Für Deutschland mit seiner centralen, nach drei großen Angriffsfronten offenen Lage trifft das besonders zu.
Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte strafen sich nicht sofort, weder in Petersburg noch in Berlin, aber unschädlich sind sie nie. Die geschichtliche Logik ist noch genauer in ihren Revisionen als unsre Oberrechenkammer. Bei Ausführung der Congreßbeschlüsse erwartete und verlangte Rußland, daß bei localen Verhandlungen darüber im Orient die deutschen Commissarien, bei Divergenzen zwischen russischen und andern Auffassungen, generell der russischen zustimmen sollten. Uns konnte in manchen Fragen allerdings die objective Entscheidung ziemlich gleichgültig sein, es kam für uns nur darauf an, die Stipulationen ehrlich auszulegen und unsre Beziehungen auch zu den übrigen Großmächten nicht durch parteiisches Verhalten zu stören in Lokalfragen, welche ein deutsches Interesse nicht berührten. Die leidenschaftliche Bitterkeit der Sprache aller russischen Organe, die durch die Censur autorisirte Verhetzung der russischen Volksstimmung gegen uns ließ es dann gerathen erscheinen, die Sympathien, welche wir bei nichtrussischen Mächten noch haben konnten, uns nicht zu entfremden.
In dieser Situation nun kam ein eigenhändiges Schreiben des Kaisers Alexander, welches trotz aller Verehrung für den bejahrten Freund und Oheim an zwei Stellen bestimmte Kriegsdrohungen enthielt in der Form, welche völkerrechtlich üblich ist, etwa des Inhalts: wenn die Weigerung, das deutsche Votum dem russischen anzupassen, festgehalten wird, so kann der Friede zwischen uns nicht dauern. Dieses Thema war in scharfen und unzweideutigen Worten an zwei Stellen variirt. Daß der Fürst Gortschakow, der am 6. September 1879 in einem Interview mit dem Correspondenten[443] des orleanistischen »Soleil«, Louis Peyramont, Frankreich eine sehr auffallende Liebeserklärung machte, auch an jenem Schreiben mitgearbeitet hatte, sah ich dem letzteren an und wurde durch zwei spätere Wahrnehmungen bestätigt. Im October hörte eine Dame der Berliner Gesellschaft, die in dem Hôtel de l'Europe in Baden-Baden Zimmernachbarin Gortschakows war, ihn sagen: »j'aurais voulu faire la guerre, mais la France a d'autres intentions«. Und am 1. November war der Pariser Correspondent der »Times« in der Lage, seinem Blatte zu melden, vor der Zusammenkunft in Alexandrowo habe der Zar an den Kaiser Wilhelm geschrieben, sich über die Haltung Deutschlands beschwert und sich der Phrase bedient: »Der Kanzler Ew. Majestät hat die Versprechungen von 1870 vergessen«. Der Correspondent, Herr Oppert aus Blowitz in Böhmen, wird die Verbreitung dieser ihm doch wohl von Gortschakow zugegangenen Nachricht um so bereitwilliger übernommen haben, als er mir von dem Congreß her grollte. Auf den Wunsch Lord Beaconsfields, der ihn bei guter Laune erhalten wollte, hatte ich ihm die dritte Klasse des Kronenordens verschafft. Er war über die nach preußischen Begriffen ungewöhnlich hoch gegriffene Auszeichnung entrüstet, lehnte dieselbe ab und verlangte die zweite Klasse.
Angsichts der Haltung der russischen Presse, der steigenden Erregtheit der großen Massen des Volkes, der Truppenanhäufung unmittelbar längs der preußischen Grenzen wäre es leichtfertig gewesen, den Ernst der Situation und der kaiserlichen Drohung gegen den früher so verehrten Freund zu bezweifeln. Daß Kaiser Wilhelm auf den Rath des Feldmarschalls von Manteuffel am 3. September 1879 nach Alexandrowo ging, um die schriftlichen Drohungen seines Neffen mündlich begütigend zu beantworten, widerstrebte meinem Gefühle und meinem Urtheil über das, was noth thue.
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