VI

[462] Eine Erneuerung der Kaunitz'schen Coalition wäre für Deutschland, wenn es in sich geschlossen einig bleibt und seine Kriege geschickt geführt werden, zwar keine verzweifelte, aber doch eine sehr ernste Constellation, welche nach Möglichkeit zu verhüten Aufgabe unsrer auswärtigen Politik sein muß. Wenn die geeinte österreichisch-deutsche Macht in der Festigkeit ihres Zusammenhangs und in der Einheitlichkeit ihrer Führung ebenso gesichert wäre wie die russische und die französische, jede für sich betrachtet, es sind, so würde ich, auch ohne daß Italien der Dritte im Bunde wäre, den gleichzeitigen Angriff unsrer beiden großen Nachbarreiche nicht für lebensgefährlich halten. Wenn aber in Oesterreich antideutsche Richtungen nationaler oder confessioneller Natur sich stärker als bisher zeigen, wenn russische Versuchungen und Anerbietungen auf dem Gebiet der orientalischen Politik wie zur Zeit Katharinas und Josephs II. hinzutreten, wenn italienische Begehrlichkeiten Oesterreichs Besitz am Adriatischen Meere bedrohen und seine Streitkräfte in ähnlicher Weise wie zu Radetzkys Zeit in Anspruch[462] nehmen sollten: dann würde der Kampf, dessen Möglichkeit mir vorschwebt, ungleicher sein. Es braucht nicht gesagt zu werden, wie viel gefährdeter Deutschlands Lage erscheint, wenn man sich auch Oesterreich, nach Herstellung der Monarchie in Frankreich, im Einverständniß beider mit der Römischen Kurie, im Lager unsrer Gegner denkt mit dem Bestreben, die Ergebnisse von 1866 aus der Welt zu schaffen.

Diese pessimistische, aber doch nicht außer dem Bereich der Möglichkeit liegende und durch Vergangenes nicht ungerechtfertigte Vorstellung hatte mich veranlaßt, die Frage anzuregen, ob sich ein organischer Verband zwischen dem Deutschen Reiche und Oesterreich-Ungarn empfehle, der nicht wie gewöhnliche Verträge kündbar, sondern der Gesetzgebung beider Reiche einverleibt und nur durch einen neuen Act der Gesetzgebung eines derselben lösbar wäre.

Eine solche Assecuranz hat für den Gedanken etwas Beruhigendes; ob auch im Drange der Ereignisse etwas Sicherstellendes, daran kann man zweifeln, wenn man sich erinnert, daß die theoretisch sehr viel stärker verpflichtende Verfassung des Heiligen Römischen Reiches den Zusammenhalt der deutschen Nation niemals hat sichern können und daß wir nicht im Stande sein würden, für unser Verhältniß zu Oesterreich einen Vertragsmodus zu finden, der in sich eine stärkere Bindekraft trüge als die früheren Bundesverträge, nach denen die Schlacht von Königgrätz theoretisch unmöglich war. Die Haltbarkeit aller Verträge zwischen Großstaaten ist eine bedingte, sobald sie »in dem Kampf um das Dasein« auf die Probe gestellt wird. Keine große Nation wird je zu bewegen sein, ihr Bestehen auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern, wenn sie gezwungen ist, zwischen beiden zu wählen. Das Ultra posse nemo obligatur kann durch keine Vertragsclausel außer Kraft gesetzt werden; und ebensowenig läßt sich durch einen Vertrag das Maß von Ernst und Kraftaufwand sicherstellen, mit welchem die Erfüllung geleistet werden wird, sobald das eigne Interesse des Erfüllenden dem unterschriebenen Texte und seiner früheren Auslegung nicht mehr zur Seite steht. Es läßt sich daher, wenn in der europäischen Politik Wendungen eintreten, welche für Oesterreich-Ungarn eine antideutsche Politik als Staatsrettung erscheinen lassen, eine Selbstaufopferung für die Vertragstreue ebenso wenig erwarten, wie während des Krimkrieges die Einlösung einer Dankespflicht erfolgte, welche vielleicht gewichtiger war als das Pergament eines Staatsvertrages.[463]

Ein Bündniß unter gesetzlicher Bürgschaft wäre eine Verwirklichung der Verfassungsgedanken gewesen, welche in der Paulskirche den gemäßigtsten Mitgliedern, den Vertretern des engeren reichsdeutschen und des größern österreichisch-deutschen Bundes, vorschwebten; aber gerade die vertragsmäßige Sicherstellung solcher gegenseitigen Verpflichtungen ist eine Feindin ihrer Haltbarkeit. Das Beispiel Oesterreichs aus der Zeit von 1850 bis 1866 ist mir eine Warnung gewesen, daß die politischen Wechsel, welche man auf solche Verhältnisse zu ziehen in Versuchung kommt, über die Grenzen des Credits hinausgehen, welche unabhängige Staaten in ihren politischen Operationen einander gewähren können. Ich glaube deshalb, daß das wandelbare Element des politischen Interesses und seiner Gefahren ein unentbehrliches Unterfutter für geschriebene Verträge ist, wenn sie haltbar sein sollen. Für eine ruhige und erhaltende österreichische Politik ist das deutsche Bündniß das nützlichste.

Die Gefahren, welche für unsre Einigkeit mit Oesterreich in den Versuchungen russisch-österreichischer Verständigungen im Sinne der Zeit von Joseph II. und Katharina oder der Reichstadter Convention und ihrer Heimlichkeit liegen, lassen sich, so weit das überhaupt möglich ist, paralysiren, wenn wir zwar fest auf Treue gegen Oesterreich, aber auch darauf halten, daß der Weg nach Petersburg von Berlin frei bleibt. Unsre Aufgabe ist, unsre beiden kaiserlichen Nachbarn in Frieden zu erhalten. Die Zukunft der vierten großen Dynastie in Italien werden wir in demselben Maße sicher zu stellen im Stande sein, in welchem es uns gelingt, die drei Kaiserreiche einig zu erhalten und den Ehrgeiz unsrer beiden östlichen Nachbarn entweder zu zügeln oder in beiderseitiger Verständigung zu befriedigen. Jeder von beiden ist für uns nicht nur in der europäischen Gleichgewichtsfrage unentbehrlich – wir könnten keinen von beiden missen, ohne selbst gefährdet zu werden –, sondern die Erhaltung eines Elements monarchischer Ordnung in Wien und Petersburg, und auf der Basis beider in Rom, ist für uns in Deutschland eine Aufgabe, welche mit der Erhaltung der staatlichen Ordnung bei uns selbst zusammenfällt.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 462-464.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen 3 Bände in einem Band.
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen
Gedanken und Erinnerungen