[464] Der Vertrag, welchen wir mit Oesterreich zu gemeinsamer Abwehr eines russischen Angriffs geschlossen haben, ist publici juris. Ein analoger Defensivvertrag zwischen beiden Mächten gegenüber[464] Frankreich ist nicht bekannt. Das deutsch-österreichische Bündniß enthält gegen einen französischen Krieg, von dem Deutschland in erster Linie bedroht ist, nicht dieselbe Deckung wie gegen einen russischen, der mehr für Oesterreich als für Deutschland wahrscheinlich ist. Zwischen Deutschland und Rußland existiren keine Verschiedenheiten der Interessen, welche die Keime von Conflicten und eines Bruches unabweislich in sich trügen. Dagegen gewähren die übereinstimmenden Bedürfnisse in der polnischen Frage und die Nachwirkung der hergebrachten dynastischen Solidarität im Gegensatz zu den Umsturzbestrebungen Unterlagen für eine gemeinsame Politik beider Cabinete. Dieselben sind abgeschwächt worden durch eine zehnjährige Fälschung der öffentlichen Meinung seitens der russischen Presse, welche in dem lesenden Theile der Bevölkerung einen künstlichen Haß gegen alles Deutsche geschaffen und genährt hat, mit dem die Dynastie rechnen muß, auch wenn der Kaiser die deutsche Freundschaft pflegen will. Doch dürfte die Feindschaft der russischen Massen gegen das Deutschthum kaum schärfer zugespitzt sein wie die der Czechen in Böhmen und Mähren, der Slowenen in dem früheren deutschen Bundesgebiete und der Polen in Galizien. Kurz, wenn ich in der Wahl zwischen dem russischen und dem österreichischen Bündniß das letztere vorgezogen habe, so bin ich keineswegs blind gewesen gegen die Zweifel, welche die Wahl erschwerten. Ich habe die Pflege nachbarlicher Beziehungen zu Rußland neben unserm defensiven Bunde mit Oesterreich nach wie vor für geboten angesehen, denn eine sichere Assecuranz gegen einen Schiffbruch der gewählten Combination ist für Deutschland nicht vorhanden, wohl aber die Möglichkeit, antideutsche Velleitäten in Oesterreich-Ungarn in Schach zu halten, so lange die deutsche Politik sich die Brücke, die nach Petersburg führt, nicht abbricht und keinen Riß zwischen Rußland und uns herstellt, der sich nicht überbrücken ließe. So lange ein solcher unheilbarer Riß nicht vorhanden ist, wird es für Wien möglich bleiben, die dem deutschen Bündnisse feindlichen oder fremden Elemente im Zaume zu halten. Wenn aber der Bruch zwischen uns und Rußland, schon die Entfremdung, unheilbar erschiene, würden auch in Wien die Ansprüche wachsen, die man an die Dienste des deutschen Bundesgenossen glauben würde stellen zu können, erstens in Erweiterung des casus foederis, der sich bisher nach dem veröffentlichten Texte doch nur auf die Abwehr eines russischen Angriffes auf Oesterreich erstreckt, und zweitens in dem Verlangen, dem bezeichneten casus foederis die Vertretung österreichischer[465] Interessen im Balkan und im Orient zu substituiren, was selbst in unsrer Presse schon mit Erfolg versucht worden ist. Es ist natürlich, daß die Bewohner des Donaubeckens Bedürfnisse und Pläne haben, welche sich über die heutigen Grenzen der österreichisch-ungarischen Monarchie hinaus erstrecken; und die deutsche Reichsverfassung zeigt den Weg an, auf welchem Oesterreich eine Versöhnung der politischen und materiellen Interessen erreichen kann, welche zwischen der Ostgrenze des rumänischen Volksstammes und der Bucht von Cattaro vorhanden sind. Aber es ist nicht die Aufgabe des Deutschen Reichs, seine Unterthanen mit Gut und Blut zur Verwirklichung von nachbarlichen Wünschen herzuleihen. Die Erhaltung der österreichisch-ungarischen Monarchie als einer unabhängigen starken Großmacht ist für Deutschland ein Bedürfniß des Gleichgewichts in Europa, für welches der Friede des Landes bei eintretender Nothwendigkeit mit gutem Gewissen eingesetzt werden kann. Man sollte sich jedoch in Wien enthalten, über diese Assecuranz hinaus Ansprüche aus dem Bündnisse ableiten zu wollen, für welche dasselbe nicht geschlossen ist.
Directe Bedrohung des Friedens zwischen Deutschland und Rußland ist kaum auf andrem Wege möglich, als durch künstliche Verhetzung oder durch den Ehrgeiz russischer oder deutscher Militärs von der Art Skobelews, die den Krieg wünschen, bevor sie zu alt werden, um sich darin auszuzeichnen. Es gehört ein ungewöhnliches Maß von Dummheit und Verlogenheit in der öffentlichen Meinung und in der Presse Rußlands dazu, um zu glauben und zu behaupten, daß die deutsche Politik von aggressiven Tendenzen geleitet worden sei, indem sie das österreichische und dann das italienische Defensivbündniß abschloß. Die Verlogenheit war mehr polnisch-französischen, die Dummheit mehr russischen Ursprungs. Polnisch-französische Gewandtheit hat auf dem Felde der russischen Leichtgläubigkeit und Unwissenheit den Sieg über den Mangel solcher Gewandtheit davongetragen, in dem je nach den Umständen eine Stärke oder Schwäche der deutschen Politik liegt. In den meisten Fällen ist eine offene und ehrliche Politik erfolgreicher als die Feinspinnerei früherer Zeiten, aber sie bedarf, wenn sie gelingen soll, eines Grades von persönlichem Vertrauen, welcher leichter zu verlieren als zu erwerben ist.
Niemand kann die Zukunft Oesterreichs an sich mit der Sicherheit berechnen, welche für dauernde und organische Verträge erforderlich ist. Die bei Gestaltung derselben mitwirkenden Factoren sind ebenso mannigfaltig wie die Völkermischung; und zu der[466] ätzenden und gelegentlich sprengenden Wirkung dieser kommt der unberechenbare Einfluß, welchen je nach dem Steigen oder Fallen der römischen Fluth das confessionelle Element auf die leitenden Persönlichkeiten auszuüben vermag. Nicht blos der Panslavismus und Bulgarien oder Bosnien, sondern auch die serbische, die rumänische, die polnische, die czechische Frage, ja selbst noch heute die italienische im Trentino, in Triest und an der dalmatischen Küste können zu Krystallisationspunkten für nicht blos österreichische, sondern auch europäische Krisen werden, von welchen die deutschen Interessen nur in soweit nachweislich berührt werden, als das Deutsche Reich mit Oesterreich in ein solidarisches Haftverhältniß tritt. In Böhmen ist die Spaltung zwischen Deutschen und Czechen stellenweis schon so weit in die Armee eingedrungen, daß die Offiziere beider Nationalitäten in einigen Regimentern nicht mit einander verkehren und getrennt essen. Für Deutschland unmittelbar existirt die Gefahr, in schwere und gefährliche Kämpfe verwickelt zu werden, mehr auf seiner Westseite infolge der angriffslustigen, auf Eroberung gerichteten Neigungen des französischen Volkes, welche von den Monarchen seit den Zeiten Kaiser Karls V. im Interesse ihrer Herrschsucht im Innern sowohl wie nach Außen groß gezogen worden sind.
Der Beistand Oesterreichs ist für uns gegen Rußland leichter zu haben als gegen Frankreich, nachdem die Frictionen dieser beiden Mächte in dem von ihnen umworbenen Italien in der alten Form nicht mehr existiren. Für ein monarchisches und katholisch gesinntes Frankreich, wenn ein solches wieder erstanden, wäre die Hoffnung nicht erstorben, ähnliche Beziehungen zu Oesterreich wieder zu gewinnen, wie sie während des siebenjährigen Krieges und auf dem Wiener Congreß vor der Rückkehr Napoleons von Elba bestanden, in der polnischen Frage 1863 drohten, im Krimkriege und zur Zeit des Grafen Beust von 1866 bis 1870 in Salzburg und Wien Aussicht auf Verwirklichung hatten. Bei etwaniger Wiederherstellung der Monarchie in Frankreich würde die durch die italienische Rivalität nicht mehr abgeschwächte gegenseitige Anziehung der beiden katholischen Großmächte unternehmende Politiker in Versuchung führen können, mit der Wiederbelebung derselben zu experimentiren.
In der Beurtheilung Oesterreichs ist es auch heut noch ein Irrthum, die Möglichkeit einer feindseligen Politik auszuschließen, wie sie von Thugut, Schwarzenberg, Buol, Bach und Beust getrieben worden ist. Kann sich nicht die Politik für Pflicht gehaltener[467] Undankbarkeit, deren Schwarzenberg sich Rußland gegenüber rühmte, in andrer Richtung wiederholen, die Politik, welche uns von 1792 bis 1795, während wir mit Oesterreich im Felde standen, Verlegenheit bereitete und im Stiche ließ, um uns gegenüber in den polnischen Händeln stark genug zu bleiben, die bis dicht an den Erfolg bestrebt war, uns einen russischen Krieg auf den Hals zu ziehen, während wir als nominelle Verbündete für das Deutsche Reich gegen Frankreich fochten, die sich auf dem Wiener Congreß bis nahe zum Kriege zwischen [gegen] Rußland und Preußen geltend machte? Die Anwandlungen, ähnliche Wege einzuschlagen, werden für jetzt durch die persönliche Ehrlichkeit und Treue des Kaisers Franz Joseph niedergehalten, und dieser Monarch ist nicht mehr so jung und unerfahren wie zu der Zeit, da er sich von der persönlichen Rancüne des Grafen Buol gegen den Kaiser Nicolaus zum politischen Druck auf Rußland bestimmen ließ, wenig Jahre nach Vilagos; aber seine Garantie ist eine rein persönliche, fällt mit dem Personenwechsel hinweg, und die Elemente, welche die Träger einer rivalisirenden Politik zu verschiedenen Epochen gewesen sind, können zu neuem Einflusse gelangen. Die Liebe der galizischen Polen, des ultramontanen Clerus für das Deutsche Reich ist vorübergehender und opportunistischer Natur, ebenso das Uebergewicht der Einsicht in die Nützlichkeit der deutschen Anlehnung über das Gefühl der Geringschätzung, mit welchem der vollblütige Magyar auf den Schwaben herabsieht. In Ungarn, in Polen sind französische Sympathien auch heut lebendig, und im Clerus der habsburgischen Gesammtmonarchie würde eine katholisch-monarchische Restauration in Frankreich die Beziehungen wieder beleben können, die 1863 und zwischen 1866 und 1870 in gemeinsamer Diplomatie und in mehr oder weniger reifen Vertragsbildungen ihren Ausdruck fanden. Die Bürgschaft, welche diesen Möglichkeiten gegenüber in der Person des heutigen Kaisers von Oesterreich und Königs von Ungarn liegt, steht, wie gesagt, auf zwei Augen; eine voraussehende Politik soll aber alle Eventualitäten im Auge behalten, die im Reiche der Möglichkeit liegen. Die Möglichkeit eines Wettbewerbes zwischen Wien und Berlin um russische Freundschaft kann ebenso gut wiederkommen, wie sie zur Zeit von Olmütz vorhanden war und zur Zeit des Reichstadter Vertrags unter dem uns sehr wohlgesinnten Grafen Andrassy Lebenszeichen gab.
Dieser Eventualität gegenüber ist es ein Vortheil für uns, daß Oesterreich und Rußland entgegengesetzte Interessen im Balkan[468] haben und daß solche zwischen Rußland und Preußen-Deutschland nicht in der Stärke vorhanden sind, daß sie zu Bruch und Kampf Anlaß geben könnten. Dieser Vortheil kann aber vermöge der russischen Staatsverfassung durch persönliche Verstimmungen und ungeschickte Politik noch heut mit derselben Leichtigkeit aufgehoben werden, mit welcher die Kaiserin Elisabeth durch Witze und bittre Worte Friedrichs des Großen bewogen wurde, dem französisch-österreichischen Bunde gegen uns beizutreten. Zuträgereien, wie sie damals zum Aufhetzen Rußlands dienten, Erfindungen und Indiscretionen werden auch heut an beiden Höfen nicht fehlen; aber wir können Unabhängigkeit und Würde Rußlands gegenüber wahren, ohne die russische Empfindlichkeit zu provoziren und Rußlands Interessen zu schädigen. Verstimmung und Erbitterung, welche ohne Nothwendigkeit provozirt werden, sind heut so wenig ohne Rückwirkung auf die geschichtlichen Ereignisse, wie zur Zeit der Kaiserin Elisabeth von Rußland und der Königin Anna von England. Aber die Rückwirkung von Ereignissen, die dadurch gefördert werden, auf das Wohl und die Zukunft der Völker ist heutzutage gewaltiger als vor 100 Jahren. Eine Coalition wie im siebenjährigen Kriege gegen Preußen von Rußland, Oesterreich und Frankreich, vielleicht in Verbindung mit andern dynastischen Unzufriedenheiten, ist für unsre Existenz ebenso gefährlich und für unsern Wohlstand, wenn sie siegt, noch erdrückender als die damalige.
Es ist unvernünftig und ruchlos, die Brücke, die uns eine Annäherung an Rußland gestattet, aus persönlicher Verstimmung abzubrechen.
Wir müssen und können der österreichisch-ungarischen Monarchie das Bündniß ehrlich halten; es entspricht unsern Interessen, den historischen Traditionen Deutschlands und der öffentlichen Meinung unsres Volkes. Die Eindrücke und Kräfte, unter welchen die Zukunft der Wiener Politik sich zu gestalten haben wird, sind jedoch complicirter als bei uns, wegen der Mannigfaltigkeit der Nationalitäten, der Divergenz ihrer Bestrebungen, der klerikalen Einflüsse und der in den Breiten des Balkan und des Schwarzen Meeres für die Donauländer liegenden Versuchungen. Wir dürfen Oesterreich nicht verlassen, aber auch die Möglichkeit, daß wir von der Wiener Politik freiwillig oder unfreiwillig verlassen werden, nicht aus den Augen verlieren. Die Möglichkeiten, die uns in solchen Fällen offen bleiben, muß die Leitung der deutschen Politik, wenn sie ihre Pflicht thun will, sich klar machen und gegenwärtig[469] halten, bevor dieselben eintreten, und sie dürfen nicht von Vorliebe oder Verstimmung abhängen, sondern nur von objectiver Erwägung der nationalen Interessen.
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