Zwölftes Kapitel
Handelsvertrag mit Österreich

[625] Der Versuch, die intimen politischen Beziehungen, in welchem Oesterreich vermöge der deutschen Traditionen und Entwicklung zu uns stand, zur Gewinnung wirtschaftlicher Vortheile auszubeuten, ist, wie erwähnt, zuerst zur Zeit des Fürsten Schwarzenberg in Gestalt des Strebens nach Zolleinigung gemacht und später in verschiedenen Anläufen wiederholt worden. Er ist stets schon in den ersten Anfängen gescheitert an der Unmöglichkeit, einen richtigen Vertheilungsmaßstab zu finden für die Einkünfte, die aus der zollpflichtigen Consumtion der betheiligten Bevölkerung sich ergeben.[625] Die Erkenntniß der Unmöglichkeit voller Zolleinigung hat das natürliche Bestreben nicht beseitigen können, uns im Wege der Handelsverträge Vortheile abzugewinnen. Die Abschwächung der monarchischen Gewalt, der Bedarf an Stimmen im Parlament vermehren das Gewicht der Begehrlichkeit gewisser Wählerklassen. Die ungarische Reichshälfte hat in den letzten Jahrzehnten ein Uebergewicht gewonnen, und die galizischen Stimmen sind nicht nur für parlamentarische Majoritäten und auswärtige Eventualitäten von stärkerem Gewichte als früher. Die agrarischen Begehrlichkeiten dieser östlichen Landesteile Oesterreichs haben Einfluß auf die Entschließungen der Regierung gewonnen, und wenn die letztere zur Befriedigung derselben durch ihre Gefälligkeiten auf Kosten und vermöge der Unerfahrenheit Deutschlands in den Stand gesetzt wird, so wird sie natürlich jedes ungeschickte Entgegenkommen deutscher Politik benutzen, um ihren inneren Schwierigkeiten abzuhelfen und die ungarischen und galizischen Agrarier zu gewinnen. Die Kosten dafür, soweit sie nicht von der deutschen Gutmüthigkeit bestritten werden, würde das mehr industrielle als agrarische Element von Cisleithanien nach Abzug Galiziens zu decken haben. Dasselbe ist für die österreichische Politik weniger gefährlich und weniger widerstandsfähig, als ungarische und polnische Unzufriedenheiten sein würden. Der Deutsche ist fügsamer nach oben und auf dem Gebiete der inneren Politik ungeschickter als die andern Nationalitäten Oesterreichs, wie der doctrinäre Verlauf des constitutionellen Kampfes zeigt, welchen die Herbstzeitlosen gegen den natürlichsten und stärksten Bundesgenossen der Deutschen, gegen die eigne Dynastie, bis zum Bruch geführt haben.

Es ist also erklärlich, daß die wirthschaftliche Politik des Donaureichs auf die deutschen Industriellen wenig und auf die nichtdeutschen Agrarier mehr Rücksicht nimmt. Auch in der böhmischen Spaltung wird das Czechenthum auf agrarischer, das Deutschtum auf industrieller Seite stärker vertreten sein. Daß es den Ungarn, Polen und Czechen zu lebhafter Genugthuung gereicht, wenn in erster Linie ihre Interessen gepflegt [werden] und der Deutsche zunächst in Cisleithanien, hauptsächlich aber im Deutschen Reiche die Zeche dafür bezahlt, ist nicht zu verwundern, wohl aber muß man sich fragen, wie die deutsche Reichsregierung dazu kommt, die Preisgebung der deutschen Agrar-Interessen in Wien anzubieten. Der in der Presse dafür geltend gemachte Grund, daß das politische Bündniß einen wirtschaftlichen Verschmelzungsprozeß[626] zur nothwendigen Folge habe, ist eine inhaltlose Phrase, bei der sich praktisch nichts denken läßt. Wir sind mit Rußland und in der Vergangenheit mit England in der größten politischen Intimität gewesen unter sehr schwierigen beiderseitigen Zollverhältnissen, und der deutsche Bundesvertrag hat auch da, wo er nicht durch Zolleinigung gedeckt war, lange Zeit mit vollem gegenseitigen Vertrauen in Betreff der politischen Stipulationen bestanden. Unser Bündnißvertrag mit Oesterreich läuft auch nicht Gefahr, uns gekündigt zu werden, wenn wir es heut wie seit 40 Jahren ablehnen, für eventuellen Kriegsbeistand einen wirthschaftlichen Tribut an Oesterreich-Ungarn zu zahlen. Oesterreich hat das deutsche Bündniß nöthiger als Deutschland das österreichische, wenn man sich die Zukunft Oesterreichs vergegenwärtigt. Der Ersatz, den Deutschland für die Freundschaft Oesterreichs in der russischen finden könnte und dessen Schwächen oben dargelegt sind, wäre für Oesterreich nur unter Preisgebung aller der Bestrebungen in östlicher Richtung zu gewinnen, welche aus den Ungarn Gegner Rußlands machen. Die Anlehnung Oesterreichs an Frankreich und selbst an die geeinigten Westmächte der Krimliga würde der österreichischen Monarchie die exponirteste Lage von allen Betheiligten gegenüber Rußland und Deutschland anweisen und den russischen Bestrebungen die Entwicklung der slavenfreundlichen Keime der Zersetzung überlassen, welche sich unter der numerisch größeren Hälfte der Bevölkerung vorfinden. Für Oesterreich bleibt das deutsche, von Stammessympathien getragene Bündniß stets das natürlichste und ungefährlichste, man kann sagen ein in allen Lagen Oesterreichs immer wiederkehrendes Bedürfniß.

Ich würde es beklagen, wenn das Deutsche Reich den von mir unter großen Anstrengungen erkämpften Bund mit Oesterreich wieder aufgeben und die volle freie Hand für seine europäischen Beziehungen wieder erstreben sollte. Aber wenn unsre politische Liebe zu Oesterreich unerwidert bliebe, falls wir sie nicht durch wirthschaftliche Opfer bethätigen, so würde ich allerdings die Politik der freien Hand vorziehn, weil ich überzeugt bin, daß unser Bündniß, wenn es in dem obigen Sinne von Oesterreich aufgefaßt und gehandhabt wird, nicht dauernd und im entscheidenden Augenblicke nicht haltbar sein wird. Die besten Bündnisse versagen den Dienst, den man bei dem Abschlusse von ihnen erwartet hat, wenn die Stimmung und Ueberzeugung, unter denen sie geschlossen sind, zur Zeit des casus foederis erloschen ist; und wenn schon heut[627] unter den österreichisch-ungarischen Agrariern die Stimmung vorherrscht, daß unser Bündniß werthlos sei, falls es ihnen keine finanziellen Vortheile gewähre, so befürchte ich, daß unser Vertrag zur Verfallzeit nicht wirksamer sein wird als die von 1792 bis 1795, und um so weniger, wenn sich inzwischen im Deutschen Reiche die Ueberzeugung festgesetzt hat, daß unser Bündnißvertrag einen Handelsvertrag im Gefolge habe, der einer Tributzahlung Deutschlands gleich stehe, und daß diese Zahlung für Erhaltung eines Bündnisses, welches für Oesterreich notwendiger ist als für uns, auf Versprechungen beruhe, welche die leitenden Staatsmänner Oesterreichs vermöge ihrer reiferen Erfahrung und Sachkunde in Geschäften der Art den Vetretern der deutschen Interessen im gastlichen Verkehr in Schlesien und in Wien abgewonnen haben1. Es ist möglich, daß die deutschen Gäste an letzterem Orte in der Hoffnung auf reiche handelspolitische Trinkgelder eine noch freundlichere Aufnahme gefunden haben, als ohnehin der Fall gewesen sein würde; aber die Revision der deutschen Rechnung durch die öffentliche Meinung der Nation erfolgt doch, wenn auch erst nach Jahren, vielleicht in einem unbequemen Momente, wo dann im Rückblicke auf die bei uns angerichteten Schäden sich das Urtheil empfindlich fühlbar machen kann, daß wir unter einer ausbeutenden Einmischung Oesterreichs in unsre innere Gesetzgebung gelitten haben.

Die Art, wie die überlegene weltmännische Routine des Fürsten Schwarzenberg in Olmütz und in den Dresdner Conferenzen der damaligen preußischen Vertretung gegenüber von Oesterreich benutzt wurde, hat wesentlich zur Herstellung einer Situation beigetragen, welche sich schließlich im Wege freundlicher Bundesgenossenschaft nicht mehr lösen ließ.

Ueber die Fehler, welche in der auswärtigen Politik begangen wurden, wird sich die öffentliche Meinung in der Regel erst klar, wenn sie auf die Geschichte eines Menschenalters zurückzublicken im Stande ist, und die Achivi qui plectuntur sind nicht immer die unmittelbaren Zeitgenossen der fehlerhaften Handlungen. Die Aufgabe[628] der Politik liegt in der möglichst richtigen Voraussicht dessen, was andre Leute unter gegebnen Umständen thun werden. Die Befähigung zu dieser Voraussicht wird selten in dem Maße angeboren sein, daß sie nicht, um wirksam zu werden, eines gewissen Maßes von geschäftlicher Erfahrung und Personalkenntniß bedürfte, und ich kann mich beunruhigender Eindrücke nicht erwehren, wenn ich bedenke, in welchem Umfange diese Eigenschaften in unseren leitenden Kreisen verloren gegangen sind. Jedenfalls sind sie augenblicklich in Wien reichlicher vorhanden als bei uns und ist deshalb die Befürchtung gerechtfertigt, daß die Interessen Oesterreichs bei Vertragsabschlüssen mit mehr Erfolg wahrgenommen werden als die unserigen.

1

Eine Berliner Mittheilung des »Pester Lloyd« hatte die bekannte Thatsache, daß die Anfänge der Handelsverträge auf die Rohnstocker Zusammenkunft von 1890 zurückreichen, mit dem Zusatze in Erinnerung gebracht, dem neuen Kanzler sei alsbald nach der Uebernahme des Amtes von höchster Stelle die Linie für sein handelspolitisches Verhalten vorgeschrieben worden. Die »Münchner Allgemeine Zeitung« macht dazu die Anmerkung: »Dies würde die vielfach verbreitete Annahme rechtfertigen, daß der eigentliche Träger dieser handelspolitischen Wendung Herr Miquel ist und daß die letztere aus dem Frankfurter Besuch des Kaisers im November 1889 datirt.« (Börsenzeitung, 16. December 1891.)

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 629.
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