II
Protokoll der Ministersitzung
vom 17. Maerz 1890

[631] (Vgl. oben S. 583)


Berlin, den 17. März 1890


Vertrauliche Besprechung des Königlichen

Staatsministeriums


Gegenwärtig:

der Präsident des Staatsministeriums Reichskanzler Fürst von Bismarck;

der Vice-Präsident des Staatsministeriums Staatsminister Dr. von Boetticher;[631]

die Königlichen Staatsminister von Maybach, Dr. Freiherr Lucius von Ballhausen, Dr. von Goßler, Dr. von Scholz, Graf von Bismarck-Schönhausen, Herrfurth, Dr. von Schelling, von Verdy, Freiherr von Berlepsch;

der Unterstaatssekretär Wirkl. Geh. Rath Homeyer.

St. M.S.J.


Der Herr Minister-Präsident hatte das Staatsministerium zu einer vertraulichen Besprechung nach seiner Amtswohnung eingeladen und theilte demselben mit, daß er an Seine Majestät den Kaiser und König heute ein Gesuch um Entlassung aus seinen Aemtern gerichtet habe, dessen Genehmigung wahrscheinlich sei. Er müsse bezweifeln, daß er die ihm verfassungsmäßig obliegende Verantwortlichkeit für die Politik Sr. Majestät noch tragen könne, da ihm von Allerhöchster Stelle die hierfür unerläßliche Mitwirkung nicht eingeräumt werde.

Ueberraschend sei ihm schon gewesen, wie S.M. über die s.g. Arbeiterschutzgesetzgebung ohne vorheriges Benehmen mit ihm und dem Staatsministerium definitive Entschließungen gefaßt habe. Er habe alsbald seine Befürchtung ausgesprochen, daß dieses Vorgehen in der Wahlzeit Aufregung im Lande erzeugen, unerfüllbare Erwartungen wachrufen, auf die Wahlen und schließlich, bei der Unerfüllbarkeit der erregten Hoffnungen, auf das Ansehn der Krone nachtheilig wirken werde. Er habe gehofft, daß einhellige Gegenvorstellungen des Staatsministeriums S.M. zum Verzicht auf die gehegten Absichten bewegen könnten, habe jedoch diese Einmüthigkeit im Staatsministerium nicht gefunden, sondern sich überzeugen müssen, daß mehrseitig das Eingehen auf die Anregung Sr. M. für rathsam erachtet worden sei.

Schon hiernach habe er bezweifeln müssen, ob er die sichere Autorität als Präsident des Staatsministeriums noch besitze, wie er sie vermöge des ihm von Sr. M. Kaiser Wilhelm I. geschenkten Vertrauens s. Zt. genossen habe. Jetzt verhandle der Kaiser ohne ihn nicht nur mit einzelnen der Herrn Minister, sondern sogar mit Räthen der ihm untergebenen Ministerien. Der Herr Minister für Handel habe Immediatvorträge ohne vorherige Verständigung mit ihm gehalten. Im Interesse der Einheitlichkeit des Minister-Kollegiums habe er dem letztgedachten Herrn Minister die demselben unbekannte Allerhöchste Ordre vom 8. September 1852 mitgetheilt und, nachdem er in der Sitzung des Staatsministeriums vom 2. d.M. sich überzeugt, daß dieselbe überhaupt nicht allen Herren Ministern gegenwärtig sei, allen eine Abschrift zugehen lassen und[632] in dem Begleitschreiben hervorgehoben, daß er die Ordre nur auf Immediatvorträge beziehe, welche Aenderungen der Gesetzgebung und der bestehenden Rechtsverhältnisse bezweckten.

In dieser Weise mit Takt gehandhabt, enthielten die Vorschriften der gedachten Ordre nicht mehr, als für jeden Präsidenten des Staatsministeriums, der dieser Stellung gerecht werden wolle, unerläßlich sei. Er wisse nicht, von welcher Seite Kenntniß dieses Vorgangs an die Allerhöchste Stelle gelangt sei, aber S.M. der Kaiser habe ihm befohlen, daß die gedachte Ordre, durch welche die Minister gehindert würden, Immediatvorträge zu halten, aufgehoben werde. Er habe erklärt, die Herren Minister seien dadurch nicht behindert, es folge höchstens daraus, daß er bei den Vorträgen zugegen sei; Sr. M. stehe es dann immer frei, auch gegen den Minister-Präsidenten für den Ressort-Minister Sich zu entscheiden. Die Ordre sei nothwendig, und das könne er am wenigsten jetzt verleugnen, nachdem er so eben an dieselbe erinnert habe.

Diese Meinungsverschiedenheit für sich allein würde ihn zum Rücktritt nicht bewogen haben, noch weniger die wegen der Arbeiterfrage bestehende. Auf diesem Gebiet habe er redlich das Seinige zu dem Erfolge der Kaiserlichen Initiative beigetragen und durch diplomatische Befürwortung und durch Aufnahme der internationalen Konferenz in seine Diensträume bekundet, daß er die Arbeit derselben fördere.

Ein ferneres Zeichen mangelnden Vertrauens habe S.M. der Kaiser ihm durch den Vorhalt gegeben, daß er, ohne Allerhöchste Erlaubniß, den Abgeordneten Windthorst nicht habe empfangen sollen. Alle Abgeordnete empfange er grundsätzlich, und nachdem Windthorst darum nachgesucht, habe er auch dessen Besuch angenommen, mit dem Erfolge, daß er über die Absichten desselben nun vollständig unterrichtet sei. Er könne sich einer Allerhöchsten Kontrolle über seinen persönlichen Verkehr in und außer Dienst nicht unterwerfen.

In seinem Entschluß zum Rücktritt aus allen seinen Aemtern sei er bestärkt, nachdem er sich heute überzeugt, daß er auch die auswärtige Politik Sr. M. nicht mehr vertreten könne.

Er habe ungeachtet seines Vertrauens auf die Tripelallianz doch auch die Möglichkeit, daß dieselbe einmal versagen könne, nie aus den Augen verloren. In Italien stehe die Monarchie nicht auf starken Füßen, die Eintracht zwischen Italien und Oesterreich sei durch die Irredenta gefährdet, in Oesterreich könne trotz der sicheren Zuverlässigkeit des regierenden Kaisers die Stimmung eine[633] andere werden, Ungarns Haltung sei nie sicher zu berechnen, dasselbe könne sich und Oesterreich in Händel verwickeln, denen wir fern bleiben müßten: deshalb sei er stets bestrebt gewesen, die Brücke zwischen uns und Rußland nicht abzubrechen, und glaube den Kaiser von Rußland in friedlichen Absichten soweit bestärkt zu haben, daß er einen russischen Krieg, bei dem selbst im Falle siegreichen Verlaufs nichts zu gewinnen sei, kaum noch befürchte. Höchstens würde von dort uns entgegengetreten werden, wenn wir bei einem siegreichen Kriege gegen Frankreich letzterem Gebietsabtretungen auferlegen wollten. Rußland bedürfe der Existenz Frankreichs wie wir der Oesterreichs als Großmacht.

Nun habe der deutsche Konsul in Kiew 14 eingehende Berichte, zusammen wol an 200 Seiten, über russische Zustände, darunter manche über militärische Maßnahmen, eingesandt, von welchen er einige politische Sr. M. eingereicht, andere, militärische dem Großen Generalstab in der Annahme, daß dieser sie an Allerhöchster Stelle zum Vortrag bringen werde, falls sie dazu geeignet wären, übersandt, die übrigen, um sie sich vortragen zu lassen, dem Geschäftsgang zurückgegeben habe.

Darauf sei ihm heute das nachstehende Allerhöchsteigenhändige Handschreiben zugegangen:


»Die Berichte lassen auf das klarste erkennen, daß die Russen im vollsten strategischen Aufmarsch sind, um zum Kriege zu schreiten – Und muß ich es sehr bedauern, daß ich so wenig von den Kiewer Berichten erhalten habe. Sie hätten mich schon längst auf die furchtbar drohende Gefahr aufmerksam machen können! Es ist die höchste Zeit, die Oesterreicher zu warnen, und Gegenmaßregeln zu treffen. Unter solchen Umständen ist natürlich an eine Reise nach Krasnoe meinerseits nicht mehr zu denken.

(gez.)W.

Die Berichte sind vorzüglich.«


In diesem Schreiben sei einmal der Vorwurf ausgedrückt, daß er Sr. M. Berichte vorenthalten und S.M. nicht auf die Kriegsgefahr rechtzeitig aufmerksam gemacht habe; ferner aber seien Ansichten ausgesprochen, die er nicht theile, daß uns von Rußland »furchtbare« Gefahr drohe, daß man Oesterreich warnen und Gegenmaßregeln treffen müsse, endlich daß der Besuch des Kaisers zu den russischen Manövern, zu welchem derselbe Sich Selbst angemeldet habe, unterbleiben müsse.

Er sei überhaupt nicht verpflichtet, Sr. Majestät alle Berichte vorzulegen,[634] die ihm zugingen; er habe darunter die Wahl, je nach dem Inhalt, für dessen Eindruck auf S.M. er glaube die Verantwortung tragen zu können. Er habe im vorliegenden Falle nach bester Einsicht eine Auswahl getroffen und müsse in diesem Handschreiben ein unverdientes, kränkendes Mißtrauen finden.

Er sei aber auch bei seiner noch jetzt unerschütterten Auffassung von den friedlichen Ansichten des Kaisers von Rußland außer Stande, Maßregeln zu vertreten, wie S.M. sie verlange.

Dabei höre er, daß S.M. der Kaiser, der seine Vorschläge bezüglich der zum Reichstage einzunehmenden Stellung und dessen eventueller Auflösung früher gebilligt habe, jetzt der Meinung sei, die Militärvorlage sei nur soweit einzubringen, als man auf deren Annahme rechnen könne. Der Herr Kriegsminister habe sich neulich für deren ungetheilte Einbringung ausgesprochen, und wenn man auch noch Gegenmaßregeln gegen russische Rüstungen ergreifen wolle und Gefahr von dort kommen sehe, sei das um so mehr das Richtige.

Nach dem Gesagten nehme er an, daß er mit seinen Kollegen nicht mehr in voller Uebereinstimmung sei und daß er das Vertrauen Sr. M. nicht mehr in ausreichendem Maße besitze. Er freue sich, wenn ein König von Preußen Selbst regieren wolle, erkenne selbst die Nachtheile seines Rücktritts für die öffentlichen Interessen, er sehne sich auch nicht nach einem arbeitslosen Leben, seine Gesundheit sei jetzt gut, aber er fühle, daß er Sr. M. im Wege sei, daß an Allerhöchster Stelle sein Rücktritt gewünscht werde, und darnach habe er mit Recht seine Dienstentlassung erbeten.

Der Herr Vice-Präsident des Staatsministeriums erklärte, daß ihn und gewiß alle seine Kollegen diese Mittheilungen tief betrübten. Er habe bis jetzt gehofft, daß zwischen Sr. M. und dem Herrn Minister-Präsidenten nur auf dem Gebiet der innern Politik Meinungsverschiedenheiten, beständen und daß daher der von Sr. Durchlaucht neulich angedeutete Weg, sich auf die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten beschränken zu wollen, eine geeignete Lösung sein werde. Der Rücktritt Sr. Durchlaucht aus allen Aemtern bedeute unabsehbare Schwierigkeiten, und wenn er auch den Unmuth Sr. Durchlaucht begreiflich finde, könne er doch nur dringend bitten, den Weg eines Ausgleichs, wenn irgend möglich, zu betreten.

Der Herr Minister-Präsident bemerkte, der Ausweg, daß er aus dem Preußischen Staatsdienst ausscheide und sich auf die Stellung als Reichskanzler beschränke, sei bei den verbündeten Regierungen[635] und im Reichstage auf Bedenken gestoßen. Dort wünsche man, daß der Reichskanzler in einer amtlichen Stellung sich befinde, in welcher er die Abgabe der preußischen Stimme leite, und er würde auch die Stellung nicht einnehmen können, vom preußischen Staatsministerium Instruktionen zu empfangen, bei deren Feststellung er nicht mitgewirkt habe. Auch dieser, neulich von ihm selbst vorgeschlagene Ausweg würde daher nicht ohne Schwierigkeiten sein.

Der Herr Finanzminister erklärte, die Kabinets-Ordre vom 8. September 1852, namentlich nach demjenigen, was der Herr Minister-Präsident in dem Begleitschreiben hinzugefügt habe, gehe durchaus nicht über das Erforderliche hinaus. Diese könne eine unübersteigliche Schwierigkeit nicht bieten. Aber auch was die Schwierigkeiten auf dem Gebiet der auswärtigen Politik anlange, könne er sich nur der Bitte des Herrn Staatsminister von Boetticher anschließen, daß nach einem Ausgleich gesucht werden möge. Wenn übrigens der Rücktritt Sr. Durchlaucht nicht, wie neulich als Grund angeführt worden, aus Gesundheitsrücksichten, sondern aus politischen Gründen und aus allen Aemtern erfolge, werde das Staatsministerium doch in Erwägung ziehen müssen, ob es sich diesem Schritt nicht anzuschließen habe. Vielleicht würde dies dazu beitragen, das verhängnisvolle Ereigniß abzuwenden.

Die Herren Minister der geistlichen Angelegenheiten und der Justiz bemerkten, es handle sich bei den vorgetragenen Differenzpunkten doch nur um ein Mißverständniß, über welches S.M. aufzuklären sein würde, und der Herr Kriegsminister fügte hinzu, in seiner Gegenwart sei seit langer Zeit von Seiten des Kaisers kein Wort gefallen, welches irgendwie auf kriegerische Verwicklungen mit Rußland Bezug habe.

Der Herr Minister der öffentlichen Arbeiten erklärte, der Rücktritt Sr. Durchlaucht würde ein nationales Unglück für die Sicherheit des Landes und die Ruhe Europas sein, es müsse Alles versucht werden, um dem vorzubeugen. Seiner Meinung nach müßten für einen solchen Fall die Minister ihre Aemter zur Verfügung Sr. M. stellen, und er wenigstens sei entschlossen, dies zu tun.

Der Herr Minister für Landwirthschaft erklärte, wenn der Herr Minister-Präsident überzeugt sei, daß sein Rücktritt Allerhöchsten Orts gewünscht werde, ließe sich von diesem Schritte nicht abrathen. Das Staatsministerium müsse jedenfalls in Erwägung nehmen, was es dann seinerseits zu thun habe.

Der Herr Minister für Handel bemerkte, seine Person komme[636] bei dieser Frage nicht in Betracht, aber in Rücksicht auf die von dem Herrn Minister-Präsidenten über die von ihm gehaltenen Immediatvorträge gemachte Bemerkung bitte er doch erklären zu dürfen, daß dieselben sich auf keinerlei neue Fragen erstreckt, sondern auf den Allerhöchsten Erlaß vom 4. Februar d.J., den er bei seinem Amtsantritt vorgefunden, und zwar auf die allgemeinen Angelegenheiten der in demselben berührten Arbeiterschutzgesetzgebung beschränkt hätten. Gegen die Allerhöchste Ordre vom 8. September 1852 habe er nichts zu erinnern und habe dieselbe Sr. M. gegenüber nicht erwähnt.

Der Herr Minister-Präsident erwiderte, er sei vollkommen davon überzeugt, daß es dem Herrn Minister für Handel fern gelegen habe, etwas gegen ihn thun zu wollen.

Der Herr Kriegsminister bemerkte, von den Bestimmungen der Ordre vom 8. September 1852 seien die laufenden Vorträge des Kriegsministers sogar ausdrücklich ausgenommen, aber auch abgesehen hiervon habe er gewiß bei allen wichtigern Vorkommnissen seines Ressorts sich in Verbindung mit dem Herrn Minister-Präsidenten gehalten.

Der Herr Minister-Präsident erwiderte, daß er das collegialische Verhalten des Herrn Kriegsministers durchaus anzuerkennen habe, und schloß die Sitzung.


(gez.) Fürst von Bismarck. von Boetticher.

von Maybach. Freih. Lucius von Ballhausen. von Goßler.

von Scholz. Graf von Bismarck. Herrfurth.

von Schelling. von Verdy. Frhr. von Berlepsch.

(gez.) Homeyer.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 631-637.
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