IV. Die freie Persönlichkeit

[339] Auf die Frage, wie es der Staat der sogenannten Blütezeit mit Wissenschaft und Forschung gehalten habe, müßte die Antwort lauten: er hat sie ignoriert oder angefeindet. Eine wissende Kaste gab es, wie schon gesagt, in Griechenland nie, die Polis aber verlangte von ihren Bürgern andere Dinge als Wissen, und von allen Ideen, die den Griechen fremd waren, ist die allerfremdeste die, daß der Staat Anstalten für dasselbe hätte errichten sollen. Schon den Jugendunterricht überließ man völlig dem Privatleben; die Kinder lernten das, was man für zweckmäßig hielt, zu Hause und in privaten Anstalten; der Staat, schon mächtig genug, konnte die Tyrannei durch die Schule entbehren. Dagegen tötete oder verscheuchte die Polis bisweilen die Denker und Forscher, welche die hohe Volksanlage neben den Dichtern und Künstlern hervorgebracht hatte, und, wie wir früher166 gesehen, bestand zumal eine Gefahr für die Naturforschung, wenn sie die Welt als ein System von Kräften und die Himmelskörper astronomisch erklärte. Die Asebieprozesse waren häufig und todesgefährlich; denn die Masse war trotz ihrem geringen aktiven Fanatismus leicht so weit zu bringen, daß sie es (um der Ranküne der Götter willen) »sicherer« fand, wenn ein Zweifler getötet wurde; die gefährliche Denunziation in den aristophanischen Wolken wirkte gegen Sokrates noch nach vierundzwanzig Jahren zu seinem Verderben. Und auch das war für den Forscher und Philosophen eine Gefahr, daß, während er sich von der Polis abwandte, diese ihm nachstieg wie Abdera dem Demokrit tat, indem es von ihm zu wissen verlangte, wofür er sein Vermögen ausgegeben habe. Derselbe soll sich dann durch Vorlesung seines großen Diakosmos und der Schrift »über die Dinge im Hades« gerechtfertigt haben.

Als sich nun aber der Bruch mit dem Mythus gleichwohl vollzog, die Natur ihre Schätze hergeben mußte und große und herrliche Resultate erzielt wurden, da hatte man dies Männern zu danken, bei deren Geistestätigkeit[339] Forschung und Philosophie nicht zu trennen sind. Wir haben schon früher167 gesehen, welche Konkurrenz beides in der Redekunst hatte. Auch hier läßt sich fragen – und die Frage ist in unserer so viel auf exakte und präzise Wissenschaft gebenden Zeit wohl berechtigt –, ob nicht die Spekulation mit der präzisen Forschung konkurriert und ihr wesentliche Kräfte entzogen habe, während sie ihr anderseits ihr Fachwerk vorschrieb. Aber auch hierüber haben nicht mehr wir abzusprechen, sondern müssen es dabei bewenden lassen, daß die Hellenen einmal gewachsen waren, wie sie waren, und bei diesen konkurrierten die beiden allerdings innerhalb derselben Menschen, und zwar so, daß die erste, physikalische Periode wesentlich die der Forscher ist, während die der Ethik und der Dialektik eher die der praktischen und spekulativen Tätigkeit heißen kann168. Sicher blieb es lange dabei, daß niemand gelehrt, niemand Sammler war, wenn es der Philosoph nicht war (und auch die Sophisten gaben sich ja für Philosophen): Aristoteles war der größte Systematiker und der größte Gelehrte; auf der Philosophie ruhte zugleich die ganze Erkenntnis jeglicher, auch materieller Wahrheit.

Die Philosophie als solche hat aber hier ihre absoluten Verdienste um alles Geistige. Die freie Bewegung, welche sie dem Gedanken errang, kam nicht nur jeglicher Forschung zugute, sondern auch im äußern Leben entwickelte sie die freie Persönlichkeit, welche den Forscher ziert.

Nie mehr hat sich die freie Beschäftigung mit geistigen Dingen, amtlos, ohne obligate Berührung mit Staat und Religion, ohne offizielle Schule, ein solches Ansehen von Macht geben können; ihr Auftreten allein schon ist welthistorisch, mit lauter unmittelbarem, persönlichem, bei Lebzeiten der Philosophen fast gar nicht durch Bücher vermitteltem Wirken. Eine abnorme spekulative Begabung der Nation tut sich hier kund, und eine neue Potenz tritt im griechischen Leben auf.

Entscheidend aber ist für das Entstehen der griechischen Philosophie, daß überhaupt einzelne Individuen frei mit irgendeiner Lehre oder Offenbarung auftreten konnten, daß sie, wenn auch etwa durch Asebieklagen bedroht, doch nicht an ein heiliges Recht gebunden warenA7, welches Religion und Staat zusammenkettete, daß kein Klerus in Art der ägyptischen Priester, der Magier und Chaldäer vorhanden war, welcher dergleichen im Namen einer vorhandenen, einzig berechtigten Lehre unterdrücken konnte. Nach Pythagoras hieß es auch nie mehr »er selbst hat es gesagt«, sondern es erhielt die Philosophie frisch, daß sie beständig auf das Talent gestellt und zur lebendigen Äußerung genötigt war; die[340] Originalität durfte und mußte sich zeigen169. Ferner war wichtig, daß Hörer (ἀκουσταί, ἕταιροι) und Schüler vorhanden waren, um derentwillen es sich lohnen mochte, einen Lebensberuf aus der Sache zu machen, ja daß die Lehre, wenn die Physiognomie des Lehrers mächtig genug dazu war, durch Transmission auf einen Nachfolger (διάδοχος), welcher das Haupt der Schule wurde, weitere Verbreitung fand. Daß dies Zusammensein eines Philosophen mit seinen Anhängern seit Perikles überhandnahm, während es vorher den Athenern wohl nicht geläufig war, zeigt die Karikatur, die wir davon in der Denkerbude (φροντιστήριον) der aristophanischen Wolken haben. Sodann ist auch hier auf die Vielheit der Poleis hinzuweisen, in denen man auftreten konnte. Sparta freilich hielt die Philosophen samt den Rednern fern170; aber es bildete eine Ausnahme. Anderseits sind die Philosophen, denen Athen sein Prinzipat verdankt, nicht nur Athener gewesen, sondern die Sophisten kamen aus den verschiedensten Orten, Anaxagoras aus Klazomenä, Aristoteles aus Stagira dahin. In den Städten aber gab es Örtlichkeiten, wo man sich zeigen und mit einzelnen oder zu vielen reden konnte: die Agoren, die Periboloi der Tempel, die Stoen, die Gymnasien, die Haine und Gärten mit ihren Exedren usw. In der Stoa Poikile z.B., welche durch Polygnots Fresken weltberühmt war, lehrte Zenon, dessen Anhänger nach dieser Lokalität ihren Namen führen171. Nirgends im Orient wäre von solchen Gelegenheiten die Rede gewesen. Dazu kommen als fernere Fördernisse die Muße, welche die Poleis bei ihren Bürgern voraussetzten, die relative Leichtigkeit des südlichen Lebens und das GewöhntseinA8 an Sprechen und Zuhören, welches *A9 schon vom Gerichtswesen her in hohem Grade vorhanden war. Hier verstand sich eine natürliche Wohlredenheit von selber, wie denn auch die Anfänge einer Redekunst mit der Philosophie parallel gehen.

Bedenken wir zu diesem allen noch die konkurrierende Vielheit der Philosophen und ihrer Lehren, den beständigen Agon, der zwischen ihnen bestand, und von dem uns am Anfang des platonischen Protagoras die große Cour im Hause des Kallias einen Begriff gibt, so werden wir es[341] verstehen, daß, zum Glücke für die freie Persönlichkeit, kein Philosoph seine Meinung den übrigen auferlegen konnte, sondern daß alle nebeneinander bestanden.

So wurde die Philosophie (trotz des abweichenden Verhaltens des Pythagoras) ein Element des öffentlichen Lebens; neben der mit ihr verbundenen, bald ziemlich ausgedehnten Gelehrsamkeit – man denke nur an Demokrit – war sie bei vielen eine öffentliche Lehre, und im griechischen Volke fand sich eine abnorm starke Quote von Menschen, welche sich für diese Gedankenwelt und ihren Ausdruck interessierten, d.h. neben Religion und Mythus noch eine andere geistige Welt verlangten.

Dieser empfänglichen Gesellschaft aber wurden nun nacheinander zum Verarbeiten dargeboten: die ältern Kosmogonien, die ionische Welterklärung mit den Lehren von Prinzipien und Elementen, Kräften und Atomen; daneben Richtungen auf das Ethische und Politische, die pythagoreische Reduktion des Seienden auf Zahlen, die eleatische Identität von Gott und Welt, die herakliteische Kritik der Sinneswahrnehmungen, die Lehre vom Sein, der »Geist« des Anaxagoras, die platonische Ideenlehre, der Beginn einer Dialektik, und nicht nur das ganze höhere Denken, sondern auch das ganze, hier freie und völlig unpriesterliche, vielartige und unbegrenzte Wissen ist durch die Philosophen einstweilen lebendig repräsentiert. – Dazwischenhinein tritt, die Philosophie kreuzend, die Sophistik, welche bloß eine subjektive Erkenntnis gelten läßt, wobei das Entgegengesetzte behauptbar und eine bedenkliche Anwendung auf Recht und Moral möglich ist. Alles wird der Überredungskunst anheimgegeben, Rhetorik und Logik werden (letztere mit Hilfe der Fangschlüsse) ausgebildet; auch die Sophisten beteiligen sich an verschiedenen Zweigen der Wissenschaft und treten als Lehrer der einzelnen Disziplinen des Wissens und Könnens auf; mannigfache Kenntnisse und formale Bildung, wenn auch ohne Tiefe, werden von ihnen verbreitet. Überall aber, weite und zum Teil späte Schulen entlang, hat man es hier mit lauter Persönlichkeiten und nicht mit bloßen Schriftstellern zu tun, und man kann sich denken, wie der Umstand, daß sie beständig auf die persönliche Wirkung ihres Gesprächs angewiesen waren, diese Männer mußte emporbringen und sich allmählich ihrer bewußt werden lassen. Es ist eine der freisten Äußerungen des hellenischen Lebens, trotz aller Berührung mit dem Staat und mit dem öffentlichen Leben sich stets gesondert haltend von der rhetorischen Praxis und von dem bloßen Betrieb des Unterrichtes, auf freie, unabhängige Betrachtung des Geistigen gerichtet.

Diese hellenischen Philosophen haben nun namentlich eine Eigenschaft entwickelt, und das ist, daß sie arm sein konnten. Schon, ob man gegen Bezahlung lehren dürfe, war eine große Frage. Im allgemeinen unterschieden[342] sich in der ältern Zeit die eigentlichen Philosophen durch die Honorarlosigkeit von den Sophisten, aber der Zwiespalt über die besoldete Philosophie (μισϑωτὸς φιλοσοφία) reicht bis auf die Römerzeit172, und so überhaupt der Zweifel, ob der Weise Vermögen sammeln dürfe (εἰ χρηματιεῖται ὁ σοφός). Diese freiwillige Armut wurde natürlich stark erleichtert durch das sehr vorherrschende Zölibat, das wir schon bei Thales finden, und das bei den Spätern (außer Sokrates und Aristoteles, der mit seiner Pythias bestattet sein wollte) soviel als selbstverständlich war; denn erst die spätere Stoa proklamierte die Ehe als Pflicht des Philosophen173. Wie groß aber die Unabhängigkeit von Besitz und Wohlleben[343] war, lehrt die große Zahl von Philosophen, welche ihre Vermögen ausgaben oder freiwillig aufgaben oder sonst mit Willen arm blieben. Von Thales wird die bezeichnende Anekdote erzählt, als er wegen seiner Armut den Vorwurf hörte, daß die Philosophie nutzlos sei, habe er, da er vermöge seiner Wissenschaft eine gute Ernte voraussah, alle Ölpressen von Milet gepachtet; als dann die Ernte eintrat, vermietete er die Pressen hoch, machte viel Geld und bewies, daß es für die Philosophen leicht sei, reich zu werden; nur sei das eben nicht der Gegenstand ihres Strebens. Xenophanes sagt in seinem Gedicht, es seien siebenundsechzig Jahre, daß er unstet im hellenischen Lande umherirre, und dies Wanderleben habe er im fünfunzwanzigsten Jahre angetreten174. Freilich war er aus Kolophon vertrieben, zu so dauernder Apolitie muß er sich aber doch wohl freiwillig bequemt haben. Sodann Heraklit isolierte sich aufs verachtungsvollste von seinem wirklichen ephesischen Staatswesen, das nach seinem Urteile den besten Leuten zuwider war. In Bezug darauf, daß er seine Habe wegwarf, sagte er von sich: »Ich habe mich selbst gesucht« (ἐδιζησάμην ἐμαυτόν), wobei wir wieder an das Delphische »Erkenne dich selbst« erinnert werden. Empedokles von Agrigent, der vornehm, reich, freigebig und gemeinnützig war, verschmähte alle weltliche Würde und Macht. Aus ähnlichen Verhältnissen stammte Anaxagoras; aber auch er entzog sich den Staatsgeschäften von Klazomenä und der Verwaltung seines großen Vermögens. Als ihn jemand fragte, warum einer eher zu sein als nicht zu sein wünschen möchte, antwortete er: »Um den Himmel und die Ordnung im Weltganzen zu schauen«175. Oder er deutete auch auf den Himmel als auf seine Heimat, indem er sich nicht bloß als Erdenbürger, sondern als Weltbürger in einem ganz besonders weiten Sinne fühlte. Bald nach den Perserkriegen wanderte er nach Athen aus und verpflanzte dahin die Philosophie, deren Sitz und Mittelpunkt Athen seit dieser Zeit blieb. Noch im Kerker, wohin ihn die Asebieklage gebracht, schrieb er über des Zirkels Viereck176. Daß auch Demokrit sein väterliches Erbe verreiste, um sich so ein ungeheures Wissen zu erwerben, ist allbekannt. Wenn nicht wahr, so ist endlich jedenfalls gut die Antwort erfunden, die Sokrates dem Könige Archelaos gab, der[344] ihn zu sich einladen wollte, um ihn »reich zu machen«. Er ließ ihm nämlich sagen, in Athen habe man vier Maß (χοίνικες)A10 Korn um einen Obol, und die Wasserquellen flössen umsonst.

Die früheren Philosophen und Forscher sind noch, von Ausnahmen wie Heraklit abgesehen, wie einst die sieben gnomischen Weisen, Ratgeber und Bürger bestimmte Städte; die spätern dagegen behandeln den Staat an sich, schreiben Politiken und Utopien und kümmern sich dabei um die konkrete Polis, in welcher sie leben, meist nichts mehr177; der Gedanke bietet ihnen ein inneres Glück, das von dem zerrütteten Staat unabhängig ist, ein Refugium, wie es zur christlichen Zeit die Religion war. Die Welt aber ist dem Weisen überhaupt eine Fremde, das Leben nur eine Herberge, der Leib ein Grab; daher die Resignation gegen Armut, Exil und andere Schläge des Schicksals178. Äußerlich drückt sich die Emanzipation von der Heimat auch in den vielen Reisen der Philosophen aus, welche teils Bildungsreisen sind, teils zum Zwecke des Dozierens an verschiedenen Orten unternommen werden. Nur Sokrates hatte kein Bedürfnis nach einer Ortsveränderung179.

Nun wollen sie eigentlich lauter Originale sein, und den Sokrates hat man längst so benannt – d.h. sie richten ihr Leben jeder auf seine Weise ein und geben sich geistig für souverän. Jeder begehrt die Zuhörer oder die Menschen überhaupt intellektuell von sich abhängig zu machen, und die Ethiker seit Sokrates begehren sie sogar »besser« oder »edeltrefflich«180 (βελτίους, καλοὺς κἀγαϑους) zu machen, was kein damaliger Tempelpriester beanspruchte; bald befleißen sie sich für ihre Zwecke[345] auch der damals allmächtige Eloquenz. Bei dem allem bildete sich allerdings auch ein nicht geringer Grad von Selbstschätzung, und man hat von den Philosophen Ausdrücke des Selbstbewußtseins, die man heutzutage einem Menschen schwarz anrechnen würde. Was sagt nicht Demokrit: »Ich habe auch in der Geometrie so viel gelernt als irgendein Ägypter«, – worauf er herzählt, was er alles leisten könne, und wieviel Zeit er darauf verwandt habe. Oder man lese die Verse, worin Epicharm die Unvergänglichkeit seiner Lehre verkündet181. Empedokles ferner, der neben seiner Lehre offenbar ein hochmütiger Wundermann war, hatte eine erstaunliche Eitelkeit an den Tag gelegt, indem er in die Städte mit einem goldenen Kranz auf dem Haupte und delphischen Priesterbinden in den Händen einzog, wünschend, daß sich über ihn eine Meinung bilde, als wäre er ein Gott182, und bis zum Wahnsinn erscheint die Meinung von der eigenen Trefflichkeit gesteigert, wenn einer als Wundertier (ϑηρίον) gilt. Wird dieses Selbstgefühl verletzt, indem z.B. ein Philosoph einen Trugschluß nicht lösen kann, so kann es vorkommen, daß er heimgeht, einen Aufsatz über die Sache schreibt und sich dann tötet183.

Doch kommen auch Züge der Unabhängigkeit vom Urteile der Welt bei den Philosophen vor. Vor allem wird von Demokrit berichtet, daß er neben allem Selbstgefühl den Wunsch gehabt habe, verborgen zu bleiben184. Er kam zwar nach Athen, bemühte sich aber, weil er äußere Ehre verachtete, nicht, bekannt zu werden, und wußte zwar von demA11 um ein Jahr jüngern Sokrates, wurde aber von ihm nicht erkannt. Epikur hat dann bekanntlich seinen Freunden geradezu das Leben in der Stille angeraten (λάϑε βιώσας).

Aber das mochte unter Umständen so leicht nicht sein; denn auch die persönliche Geltung bei andern erscheint enorm groß und zwar von Anfang an. Bei den Ioniern mag allerdings zunächst das Wissen an den Philosophen höher als das Denken geehrt worden sein; jedenfalls aber waren sie auffallende und allbekannte Persönlichkeiten und galten von Thales bis Bias auch im Staatswesen. In Athen hängt sich die Teilnahme bald mehr an das Wissen (so u.a. bei den Sophisten), bald mehr an die Ethik, Seelenlehre und Spekulation; das vornehmste Haus, nämlich das des Kallias, wimmelt von beiden Gattungen. Schon der enorme Haß aber, mit welchem einem Anaxagoras u.a. begegnet wird, beweist viel weniger für athenischen Religionseifer als für sozialen Neid auf eine[346] völlig ausnahmsweise Geltung und Anziehungskraft185. Plato und Aristoteles gegenüber ist die Verehrung so groß, daß die Schüler jenem die krumme Haltung, diesem einen Sprachfehler nachmachten186. Seit Alexander aber kommt dann mit dem zunehmenden Ruin der Polis die Zeit, da Diadochen, Hetären und Philosophen die notorischen Persönlichkeiten sind, und im II. Jahrhundert sind es nur noch die Philosophen, die nun freilich in dieser spätern Zeit neben allem ihrem Denken und Forschen auch in hohem Grade ins Politisieren, selbst auf der Agora, verflochten sind und zugleich das vertreten, was jetzt Publizität und Presse sind. Sie sind Zelebritäten, als es kein einziger Dichter der Szene, der tragischen wie der komischen, mehr zu einer wirklichen Zelebrität bringt – wenigstens zeigte man diese einander gewiß nicht auf der Gasse187 – und als von den Künstlern z.B. alle pergamenischen anonym bleiben können.

Indem nun die Nation mehr und mehr Notiz von ihnen nahm und sich mit ihren Persönlichkeiten und ihren Lehren beschäftigte, kam man auch schon sehr frühe darauf, Geschichten der Philosophen und ihrer Meinungen zu schreiben188, und endlich schwitzte eine ganze Gelehrsamkeit unter der Aufgabe, die Folge der Schulen und der Philosophen innerhalb derselben (die διαδοχαί) richtig zu berichten und die Philosopheme zu verzeichnen; der Niederschlag hievon ist Diogenes Laertius. – Und folgerichtig hat auch ein ganzer großer Zweig der modernen Geschichtswissenschaft sich mit der Ergründung und Darstellung der griechischen Philosophie abgeben müssen und dabei dem Objekt selbst teilweise einen beträchtlich höhern Wert beigelegt, als es im Grunde verdiente. Denn[347] bei manchem dieser Philosophen ist nicht viel zu holen, und um einen Neuern, der nur so wenig brächte, würde sich niemand kümmern. Auch wollen wir einer großen Hauptschranke dieser Philosophie gedenken, um deretwillen sie wohl etwas bescheidenere Ansprüche machen könnte: Sie hat das große Problem von Freiheit und Notwendigkeit im menschlichen Handeln zwar hie und da gestreift, wie z.B. Aristoteles einmal von der angeblich durch Sokrates behaupteten Unfreiheit des Willens spricht, um dann sogleich dessen Freiheit zu beteuern189, im ganzen aber es im Schwanken der populären Anschauung stecken und liegen lassen; der alte populäre Fatalismus mit seiner Moira mag daran schuld sein, daß sie sich nie abschließend hierüber äußerte. Wir wollen zugeben: Die wahre, unerreichbare Größe des Griechen ist sein Mythus; etwas wie seine Philosophie hätten Neuere auch zustande gebracht, den Mythus nicht.

Aber uns interessiert nicht sowohl zu sehen, wie weit es die Griechen in der Philosophie, als wie weit es die Philosophie mit ihnen gebracht hat. Das kulturgeschichtlich Wichtige ist nicht derjenige Grad »objektiver Wahrheit«, welchen die griechischen Philosophen sollten oder könnten erreicht haben, sondern die Fähigkeit des Griechen zu jeder Wahrheit und das Dasein der Philosophie als Element des griechischen Lebens. Das Entscheidende und Merkwürdige an ihr ist die Erhebung einer freien, unabhängigen Menschenklasse mitten in der despotischen Polis. Die Philosophen werden nicht deren Angestellte und Beamte; sie entziehen sich ihr, wie wir gesehen, gerne durch Armut und Entbehrung, und gegenüber von Polis und Geschäft190 und Gerede rettet die freie Persönlichkeit die Kraft und Möglichkeit zur Kontemplation.


Wir verzichten für diese Darstellung überhaupt auf den Inhalt der griechischen Philosophie, um uns dafür der Betrachtung der freien Persönlichkeit zuzuwenden, wie sie sich in der ethischen und dialektischen Periode im einzelnen darstellt, und beginnen mit der großen Originalfigur des Sokrates.

Sokrates (469-399 v. Chr.) ist neben dem mythischen Odysseus der bekannteste Hellene und beim Lichte betrachtet die erste Persönlichkeit der ganzen Weltgeschichte, von welcher wir völlig genauen Bescheid wissen, – nicht zwar über das einzelne seines (zumal frühern) Lebens,[348] wohl aber über sein Wesen. Diese merkwürdige Gestalt, die sich in die Mitte von Athen pflanzt und von hier aus auf die ganze Welt den größten Einfluß ausübt, war nicht nur ein Vorbild der Frömmigkeit, Selbstbeherrschung, Uneigennützigkeit und Charakterfestigkeit, sondern ein höchst eigentümliches Individuum und wirkte als solches; ein Mensch dieser Art, sagt Plato191, sei noch nie dagewesen; jeder der großen Männer heutiger Zeit lasse sich mit einem großen Manne der Vergangenheit vergleichen, nur Sokrates nicht. Auffallend durch den überaus großen Kontrast seines Äußern und seines Innern, arm und bedürfnislos von Beiträgen seiner Freunde192 lebend, erging er sich von früh bis spät auf der Agora, in Gymnasien und Werkstätten, auch bei Festen und an Gelagen, belehrend, erziehend, mäeutisch entwickelnd, ratend, ironisch, spöttisch, warnend, versöhnend usw. im Gespräche über alles Mögliche. Keine Stufe, kein Sessel (in einer Stoa), keine feste Stunde band ihn dabei, sondern scherzend, wie es kam, und wo immer sich Gelegenheit bot, philosophierte er193. Auch verkehrte er im Gegensatz zu allen andern Philosophen mit jedermann und brachte die Weisheit, die bei ihm kein System, sondern eine Denkweise war, auf die Gasse; wir haben es bei ihm mit der größten Popularisierung des Denkens über Allgemeines zu tun, die je versucht worden ist. Dabei war er der pflichttreuste Bürger und Krieger194, wenn auch ohne aktive Teilnahme am Staatswesen, da er von der Erziehung der Jugend das Hauptteil des Staates erwartete; seine einzige amtliche Stellung war bekanntlich die eines Prytanen im Jahre 406, da er sich im Feldherrnprozesse der Angeklagten annahm; im übrigen übten er und die Seinigen Kritik gegenüber dem Staate und flohen denselben meist195.

[349] Vor allem verzichtet er auf das eigentliche Wissen. Er will nicht Kenntnisse (μαϑήματα) mitteilen, wie dies die Sophisten tun, und sein berühmtes »Nichtwissen« ist wesentlich ein Spott auf diese196. Auch die Verwechslung mit Anaxagoras verbittet er sich in der platonischen Apologie (26, d.c.) höchlich und nennt dabei dessen Ansichten, daß die Sonne ein Stein, der Mond eine Erde sei, widersinnig (ἄτοπα). Daß Aristophanes in den Wolken anaxagoreischen Unglauben und böse Sophistik auf ihn häuft, ist eine rohe Ungerechtigkeit, die nur dadurch erklärlich wird, daß schon damals (423) bei den Athenern ein grenzenloser Widerwille gegen ihn bestand197. Indem er aber die Mathematik und Naturforschung aufgibt, sucht er dafür das ethische Bewußtsein zu wecken, ein schweres Unternehmen, worauf er aber mit der ihm eigenen Genialität einging. Auf der neugewonnenen Grundlage dieses Bewußtseins baut sich seine Tugendlehre auf; auch das Gottesbewußtsein und der Glaube an die Unsterblichkeit und Verantwortlichkeit werden als Tatsachen desselben nachgewiesen, und so treten Wissen, Wollen und Glauben in einen Zusammenhang wie noch nie198. Seine Grundanschauung ist eine optimistische. Er glaubt an die Güte der schaffenden und erhaltenden Götter und führt diesen Gedanken ideologisch, durch, und zwar so, daß ein kaum durch den Plural verhüllter Monotheismus stark anklingt199. In der dialektischen[350] und logischen Methode, die er für seine Erörterungen anwandte, mochten ihm die Sophisten vorangegangen sein und einen Antrieb gegeben haben, von dem er profitieren konnte, er allein hat sie aber ganz rein; schon Plato scheint dann allmählich wieder zur akroamatischen, zum Dozieren übergegangen zu sein. So band Sokrates in seinem Athen, das er fast nie verließ, mit den Leuten auf Weg und Steg an200. In einem wirklich löblichen Sinne, um sie besser zu machen, stellte er sie auf der Straße, um sie auszufragen, zu widerlegen, ihre Begriffe klarzumachen. Die Art, wie er dabei verfuhr, wird der platonische Sokrates ziemlich richtig wiedergeben: nachdem der Zuhörer (namentlich der Anfänger) seinen untergeordneten Standpunkt mit Zähigkeit festgehalten, pflegte er ihm denselben durch eine tiefer eingehende Betrachtung zu verrücken; bisweilen freilich auch nur, um ihn irrezumachen und dann stehenzulassen, wodurch er zum Weiterdenken anregen wollte. Wie dieser Sophist im Dienste des Guten seine Freunde begeisterte, davon gibt uns die Rede des Alkibiades in Platos Gastmahl einen Begriff, welche neben Xenophons Memorabilien und der platonischen Apologie mit die wichtigste Aussage über ihn ist201. Dagegen darf man sich auch nicht im mindesten über die Feindschaft aller Individuen und Parteien wundern, die ihm mit der Zeit zuteil wurde. Schon das Bessermachen ist etwas, das die Menschen nicht immer gut aufnehmen, da jeder findet, er sei eigentlich gut genug für seine Lage, und wenn er die Leute konfus machte, um sie sich dann selbst zu überlassen, mußte er notwendig manchen spitzfindig vorkommen und zu einer Verwechslung mit den geringern Sophisten rufen. Ganz bedenklich aber bleibt für uns das Gewicht, das er auf die Anfrage Chärephons in dem damals schon sehr verrufenen Delphi legt, eine Anfrage, bei deren Beantwortung sich die Pythia weislich negativ ausdrückte, »Niemand sei weiser als Sokrates«202. Er selbst legte die Aussage des Gottes freilich bescheiden aus: »Apoll habe nur den für weise erklären wollen, der wie Sokrates die Wertlosigkeit der menschlichen Weisheit[351] einsehe.« Aber indem er bei Leuten aller Stände herumging und allen einzelnen, die in irgendeinem Fache etwas verstanden, bewies, daß sie im übrigen nicht weise seien, mußte er doch auch vielen tüchtigen und tätigen Leuten zuwider werden. Abgesehen davon, daß, wer so permanent redet, und wäre es Sokrates, auch nicht immer weise reden kann, und daß er die Leute mit seinen ewigen Gleichnissen ennuyierte203, bediente er, sich für sein »Überführen« vorwiegend der Ironie, und diese hat, da sie immer Anspruch auf Überlegenheit macht, nie gut geschmeckt; und nun kam dazu noch, daß er seine Opfer in Gegenwart der jungen Leute ironisierte, welche dazu lächeln durften204 und es ihm nachmachten: damit macht man sich unter der Sonne keine Freunde.

Nun betont er in seiner Verteidigungsrede seinen göttlichen Beruf gegenüber den Athenern aufs stärkste, indem er ihnen zu Gemüte führt, schon seine Vernachlässigung des eigenen Hauswesens wäre auf menschliche Weise nicht zu erklären205; auch beruft er sich auf das ihm speziell eigene Daimonion, d.h. die göttliche Stimme, welche ihm im Leben hin und wieder warnend in den Weg trat206. Wir fürchten nur, mit dieser Berufung auf göttliche Inspiration könne er in den Augen seiner Mitbürger neben jedem Mantis an einer Straßenecke zurückgestanden haben. Von allen solchen Dingen glaubte damals jeder Athener, was er wollte; um die Zeit des Prozesses aber war der herrschende Geist gewiß der der Enttäuschung über alles und jegliches.

Man hat Sokrates etwa insultiert207 und am Ende getötet; es scheint aber, daß niemand die nötige Ironie vorrätig hatte, um ihn einfach stehenzulassen;[352] mit der seinen konnte er alle andern verblüffen. Nur lief er eben mit seinem Chagrinieren in einer Zeit bei aller Welt herum, da schon die braven Leute (N.B. die seiner eigenen Umgebung) in einem beständigen Belagerungszustand durch Sykophanten und andere Organe der Polis lebten und für diese Ironie unter Umständen wenig mehr empfänglich sein mochten. Die Wirkung mag allmählich doch die gewesen sein, daß alles ausriß, wenn man ihn um eine Ecke kommen sah, und am Ende hatte er jedermann gegen sich aufgebracht: die Priester, die Anhänger der hergestellten Demokratie208, welche es ihm nicht verziehen, daß von den Oligarchen mehrere zu seinen frühern Schülern gehört hatten, die Sophisten und die altfränkischen Feinde der Sophistik, die Patrioten alten Schlages. Als ihm nun ein Biß der Polis ins Genick fuhr, indem sich ihrer drei zu einer Anklage zusammentaten, mochte sich mit Ausnahme des kleinen Anhanges niemand für ihn wehren. Daß aber in der Bürgerschaft so gar keine Bewegung für ihn entstand, zeigt, daß er den Athenern (und auch vielen der bessern) einfach verleidet war; ohnehin war man von den schrecklichen Tagen seit Ägospotamoi ohne Zweifel gegen das Schicksal von einzelnen gleichgültiger geworden und hatte selbst Sorgen genug, sich irgendwie einzurichten und durchzuhelfen. Sokrates aber selbst wollte tatsächlich den Tod, wenngleich in Platons Phädon (p. 61 f.) der Selbstmord von ihm mißbilligt wird. Sein ganzer Prozeß bietet das Bild der höchsten persönlichen Souveränität bei völliger Legalität, und wahrhaft großartig ist der Schluß seiner Verteidigungsrede. Daß ihm, wenn das Urteil auf Verbannung gelautet hätte, der Aufenthalt in einer für ihn unempfänglichen Stadt das Härteste gewesen wäre, dürfen wir ihm glauben209.

In Sokrates Wesen und Schicksal wird vieles am ehesten deutlich, wenn man sich ihn in die jetzige Zeit versetzt denkt. Zunächst würden ihn alle Erwerbenden hassen, dann aber auch die aus Pflichttreue Arbeitenden schwerlich gerne mögen; der Pöbel würde ihn genau soweit lieben, als er anständige Leute inkommodieren würde; die Mächtigen und Einflußreichen[353] würden ihn belächeln; die Religiösen würden ihm eine tiefere Anschauung von Schuld und Läuterung entgegenhalten, während die Verbrecher ihm völlig unzugänglich blieben. Diejenige Quote, welche für ihn zugänglich wäre, wäre verschwindend klein, und seinen (besonders in Xenophons Apologie und Gastmahl hervortretenden) Eigenruhm würde ihm niemand passieren lassen.

Immerhin aber war er für das damalige Athen eine unvergleichliche Originalfigur, hinterließ ein ungeheures Bild und wurde ein Ideal hellenischen Lebens; er wird stets ein Angelpunkt der ganzen attischen Welt bleiben, und die freie Persönlichkeit ist in ihm aufs sublimste charakterisiert.

Die höchste Steigerung der freien Persönlichkeit finden wir bei den Kynikern, deren Schule von Antisthenes, einem Anhänger des Sokrates, im Gymnasion Kynosarges gegründet war und nach diesem Orte ihren Namen erhalten hatte210. Diese begehrten vor allem nicht die Menschen besser zu machen und machten sich somit auch nicht verhaßt wie Sokrates, der sich damit in dem unbußfertigen Athen Groß und Klein aufgedrängt hatte. Ob sie eine wirkliche philosophische Sekte gewesen sind und nicht vielmehr eine bloße Lebensweise211 (ἔνστασις βίου), darüber kann man im Ungewissen bleiben; jedenfalls verschmähten sie Logik und Physik und beschränkten sich auf die Ethik, und hier war ihr Hauptsatz, daß die Tugend lehrbar und unverlierbar sei212, und als die Haupttugend erschien ihnen die Bedürfnislosigkeit, die Verachtung der Lust und die Abhärtung gegen Unlust. »Die Mühseligkeit ist das Gute«, sagte Antisthenes; alles andere ist ihm gleichgültig (ἀδιάφορον).

Die Bedürfnislosigkeit macht ihnen nun vor allem die Verachtung der Polis, des Einzelstaates möglich, dessen lebendige Kritik sie sind. Man mag mit Schwegler213 finden, daß in der Emanzipation von den Pflichten und Schranken des gemeinsamen menschlichen Lebens ein neuer Egoismus[354] liegt, und jedenfalls hätten sie, die sich selbst jenseits des Sozialen stellten, keine sozialen Theorien aufstellen sollen214. Indes ist die Apolitie ein allgemeiner Zug der Philosophen215 und die natürliche Reaktion gegen den Despotismus der Polis. Bei der Zerrüttung derselben »atmeten«, wie Bruno Bauer sagt, »die Philosophen auf, es war ein Alp von ihrer Brust genommen«. Dafür fühlte ein Diogenes sich als Weltbürger und nannte sich auf die Frage nach seiner Heimat so216; auch konnte er sich etwa mit großem Wohlgefallen rühmen, daß an ihm alle tragischen Flüche in Erfüllung gegangen seien, er sei »ohne Stadt, ohne Haus, der Heimat beraubt, ein Bettler und fahrender Mensch, der von der Hand in den Mund lebe«217, und schon sein Vorgänger Antisthenes hatte sich über reines Ortsbürgertum und Demokratie in allen möglichen Sarkasmen ergangen218.

Statt einer eigentlichen Lehre werden uns nun über die Kyniker eine Masse von Anekdoten und Einzelzügen überliefert, die im einzelnen großenteils erfunden sein mögen, aber einen richtigen Reflex aus dem allgemeinen Bild der Schule geben. Dies ist besonders mit der Hauptgestalt, Diogenes von Sinope, dem »toll gewordenen Sokrates«, wie ihn Plato nannte, der Fall. Derselbe soll infolge einer Münzfälschung, die sein Vater oder er selbst begangen, aus seiner Vaterstadt verbannt worden sein219. Man braucht hievon nicht viel. zu glauben, daß aber sein Wesen durch einen starken Bruch mit der Vergangenheit entwickelt worden ist,[355] erscheint nicht unwahrscheinlich. Er hielt sich in der Folge bald zu Athen, bald zu Korinth und bald zu Theben auf und verglich diesen seinen Ortswechsel mit dem jährlich dreimaligen Residenzwechsel des Großkönigs; in Athen aber, das, als er hinkam, schon eine völlig gebrochene Macht war, war er bald beliebt und nistete sich in sein berühmtes Faß beim Metroon ein220; und alles lachte, wenn er die ganze Welt in pleno beschimpfte; es sieht fast aus, als hätte man sich in ihm, weil man die alte Komödie nicht mehr hatte, ein abenteuerlich böses Maul halten wollen. Eine merkwürdige Zeit ist die, da er, schon als älterer Mann, von dem Piraten Skirtalos gefangen und in Korinth an einen gewissen Xeniades verkauft worden221 war. Bei diesem, dem er sich sofort als »Herrn« angekündigt hatte, blieb er und wies es ab, als Angehörige (οἰκεῖοι) und Freunde ihn loskaufen wollten, und zwar wahrscheinlich, weil ihm auf seine Manier wohlwar. Auch Xeniades fand, daß mit ihm »eine gute Gottheit in sein Haus gekommen sei«, und machte ihn zum Erzieher seiner Söhne, die er turnermäßig erzog, aber auch mit einer ganz guten literarischen Bildung ausstattete; denn diese scheint er überhaupt, während er Musik, Geometrie und Astronomie als unnütz erklärte und die Kunst wegen der hohen Preise, die man für eine Statue bezahlte, höhnte222, zum Unterschiede von den andern Kynikern nicht verachtet zu haben223. Daß er zwischendurch auch einmal nach Olympia kam, ist möglich, jedenfalls aber dachte man, er müßte hingekommen und auf seine Art laut geworden sein224. Er erlebte dann noch die Harpalosgeschichte und äußerte sich dahin, daß Harpalos, indem er mit seinem Reichtum noch so lange lebe, Zeugnis gegen die Götter ablege225; gestorben soll er am nämlichen Tage sein, da Alexander in Babylon starb und zwar durch Zurückhalten des Atems; die, welche ihn im Gymnasium Kraneion außerhalb Korinths tot fanden, vermuteten gleich, er habe dies getan, »um sich dem Rest des Lebens zu entziehen«. Die Söhne des Xeniades,[356] von deren Unterstützung er, soweit er sie annehmen mochte, tatsächlich scheint ausgelebt zu haben, begruben ihn.

Das System des Diogenes kann wenig gewesen sein; das, was ihn zum äußersten Vorposten der griechischen Philosophie, ja des ganzen griechischen Lebens macht, ist die praktische Verachtung der Welt, die Freiheit von Staat, Menschen, Bedürfnissen und namentlich von Meinungen, der tiefe praktische Pessimismus, der bei ihm mit theoretischem Optimismus vereinbar war226. Unglückliche, wie z.B. ruhmjägerische Rhetoren, nannte er statt τρισαϑλίους (Erzunglückliche) τρισανϑρώπους (Erzmenschen)A12; und wie vom Ruhm, so wollte er auch von anderm nichts wissen: von der Ehe z.B. mahnte er unbedingt ab227. Wer einmal die Scheu vor der bösen Zunge überwunden hatte, fand in ihm eine Macht und einen Zauber der Rede (πειϑὼ καὶ ἴυγξ), die jeden fesseln konnte, und es fehlte ihm daher nicht an Freunden und Schülern228. Da er aber die Menschen von vorneherein gering taxierte229, vielleicht auch, weil er nicht bloß original, sondern womöglich allein sui generis sein wollte, verhielt er sich mißtrauisch gegen die, die sich ihm anschließen wollten, und suchte sie abzuschrecken, indem sie ihm Salzfische, Käse und dergleichen nachtragen mußten. Soweit etwa zur Sicherung nötig ist, behauptete er sich im Respekt, und Prügel hat er doch einmal lieber wiedergegeben, als das Bußgeld anzunehmen; auch war er vollkommen hohnfest230. Sein Leben fristete er durch ein ungeniertes, aber äußerst mäßiges Betteln (meist um einen Obol), das er wie ein Recht231 ausübte. Als jemand im Hervornehmen des Geldes langsam war, bemerkte er: »Mann, ich bettle zum Essen, nicht zum Begräbnis!« Und als jemand fragte, warum man den Bettlern gebe, aber den Philosophen nicht, lautete seine Antwort: »Lahm und blind zu werden haben die Leute Aussicht, Philosophen zu werden aber niemals.«

Er ist der rechte, heitere Pessimist, der auf die unermeßlich größere[357] Quote des Lebens, welche von Elend und Verlust bedroht ist, verzichtet, um mit dem Rest auszukommen, mit Mäßigkeit, Gesundheit und Freiheit. Nichts zu bedürfen ist ihm göttlich, weniges zu bedürfen gottähnlich, und der Freiheit zieht er wie Herakles gar nichts vor. Daher entgegnet er auf das Wort jemandes, daß das Leben ein Übel sei: »Nicht das Leben, sondern das üble Leben«; auch rief er oft, das Menschenleben sei von den Göttern als ein leichtes gewährt worden, es sei aber verborgen und verschüttet, indem man nach Honigspeise und Salben trachte. Wenn er aber mit der Laterne auszog, um den »Menschen« zu suchen, so wird er dabei weder an den Menschen zum Unterschiede vom Tier noch den ethisch verklärten Menschen gedacht haben, sondern, wie wenigstens uns schon vorgekommen ist, vielleicht an den Nicht-Polites.

Gegenüber dem vielen Tugendgerede, das man anhören mußte, besonders dem von den vier Kardinaltugenden, durch welche z.B. Agathon in Platos Gastmahl sogar den Eros hindurchpeitscht, mag Diogenes mit seinem konkreten bösen Maul für viele Athener eine Erquickung gewesen sein232; doch war Karikatur und Imitation bei dieser Sekte leicht. Schon Antisthenes hatte wegen seines zerrissenen Mantels von Sokrates die Frage zu hören bekommen: »Wirst du nicht aufhören, dich gegen uns schön zu machen?«233 Und dem Diogenes soll Plato gesagt haben: »Wie anmutig wäre deine Naivität (ἄπλαστον), wenn nicht das Gemachte (πλαστόν) daran wäre«; die echten Philosophen mochten in den Kynikern immer etwas wie Komödianten sehen. Eine forcierte Persönlichkeit scheint zumal Krates gewesen zu sein234. Er verkaufte seine Habe, warf den Erlös den Thebanern hin und sagte dazu: »Krates läßt den Krates frei.« Den Entschluß mag ihm der Umstand erleichtert haben, daß er häßlich und bucklig war und beim Turnen ausgelacht wurde. Daß er an seinem beohrfeigten Gesicht ein Täfelchen befestigte mit der Aufschrift: »Nikodromos hat es gemacht«, geht über allen Diogenes hinaus. Auch seine Frau Hipparchia, die ihn trotz seines Warnens heiratete und den Tribon gleichfalls trug, war eine verstiegene Person, und dazu[358] kam noch sein Schwager Metrokles, der von Theophrast zum Kynismus übergegangen war und nun des Winters in Schafställen, des Sommers in den Vorhallen der Tempel übernachtete235. Diese ganze Gesellschaft macht, wenn wir sie am Symposion des Königs Lysimachos von Thrakien-Makedonien treffen, wo Hipparchia mit dem Theodoros Atheos debattiert, schon den Eindruck, als hätte sie sich bisweilen ludibrii causa einladen lassen, um sich wieder einmal satt zu essen; auch kann uns der Gedanke kommen, es sei ein Glück für sie gewesen, daß die Gefahr, in den Branntweingenuß zu verfallen, ihnen erspart war. Aber von dem gleichen Krates sind doch auch sehr ansprechende elegische und iambische Fragmente erhalten. Man beachte z.B. seine Verse über das Überalldasein des Kynikers, verbunden mit echter Verschmähung des Ruhmes236, und diejenigen, worin er sich durch einen Witz an der falschen Wertschätzung der Dinge rächt237, sodann die schöne Stelle, da er sich als omnia sua secum portans gibt238. Auf die Frage aber, was ihm aus der Philosophie erwachsen sei, hat er die fröhliche Antwort239:


»Ein TellerA13 Bohnen und mein' Sach' auf nichts gestellt.«


Was den Kynismus überhaupt betrifft, so ist vor allem darauf zu achten, daß hier die Askese auf kein Absterben des Leibes hinzielt und der Gesundheit nicht Abbruch tun darf. Sie ist ferner ohne Zusammenhang mit dem Seelenwanderungsglauben, überhaupt, was anderswo ganz unerhört ist, ohne jedes religiöse Motiv; sie ist nicht auf gänzliche Ertötung des Willens gerichtet und will nicht um ihrer selbst willen als verdienstliches Werk gelten, sondern sie will nur ein Mittel zur Unabhängigkeit von der Tyche sein und ist insofern ein notwendiges Produkt des griechischen Pessimismus. Sie durchzuführen, dazu gehörte eine feste Entschlußkraft und eine tüchtige Natur; es war nicht jedermanns Sache, das Leben eines Metrokles zu führen; für kapuzinerhafte Naturen aber, deren es viele geben mochte, war es leicht sie zu karikieren: in dem relativ so milden Klima gaben sich solche eben mit einem gegen Regen gesicherten Quartier und Bettelkost zufrieden, wenn sie dabei der Welt ungestört[359] ein böses Maul anhängen konnten und nichts zu arbeiten brauchten. Was wohl die jetzige Polizei auch mit den echten Kynikern der alten Zeit anfangen würde, brauchen wir nicht zu fragen.

Üble Ausartungen waren es, wenn ein Menippos zwar Zunge und Feder zynisch walten ließ, dabei aber als Wucherer und Pfandleiher die verachtete Welt doch nach Kräften rupfte240, oder wenn ein Menedemos als aus dem Hades kommende Erinys herumzog, welche dem Bösen auf Erden zusehe, um es vorläufig den Dämonen des Hades zu melden241. Von unwürdigen Kynikern der spätern Zeit bis auf einen Peregrinos Proteus weiß dann Lukian manches zu erzählen242. Der nämliche aber schildert uns in dem zwar eklektischen, tatsächlich aber als Kyniker lebenden Philosophen Demonax den einzigen Menschen, den er, und zwar aus genauer Bekanntschaft, verehrte. Demonax war um 90 n. Chr. auf Zypern geboren, war aber in Athen eine gewohnte Stadtfigur geworden, nicht bloß als Philosoph, sondern als Zusprecher, Versöhner, Vermittler und Witzemacher. Er lebte ohne Krankheit und ohne Kummer, niemandemA14 zur Last fallend außer durch sein (bescheidenes) Betteln, dem Freunde wert, ohne Feind. Wenn er kam, standen Archonten auf, und alles schwieg. Wenigstens im hohen Alter pflegte er ungeladen in beliebige Häuser einzutreten, um daselbst zu speisen oder zu schlafen, und die Bewohner empfingen ihn wie einen guten Dämon. Wenn er vorbeiging, zogen ihn die Brotverkäuferinnen zu sich, und jede wollte, daß er von ihr Brot annahm, und die, welche es ihm geben durfte, hielt dies für ein Glück. Auch die Kinder brachten ihm Obst und nannten ihn Vater (wie einen Kapuziner). Als einst in Athen ein Bürgerzwist war, brauchte er bloß in der Volksversammlung zu erscheinen, um alles zum Schweigen zu bringen; er sah, daß sie andern Sinnes geworden, sagte nichts und ging. Als er, fast hundertjährig, merkte, daß er sich nicht mehr selber helfen konnte, sagte er noch einen schönen Vers, enthielt sich aller Nahrung und starb heiter, wie er stets den Leuten erschienen war; die Athener aber bestatteten ihn auf Staatskosten prächtig und betrauerten ihn lange; den steinernen Sitz, wo er auszuruhen gepflegt, verehrte und bekränzte man.[360] Wer ein ähnlich liebliches Bild dieser Art aus moderner Zeit will kennen lernen, möge den Don Cėsar in Victor Hugos Ruy Blas betrachten.

Daß der Kynismus sich bis in die Römerzeit halten konnte, ist ein Beweis dafür, daß er eine innere Notwendigkeit in sich hatte; er hätte es nicht so weit gebracht, wenn er nicht einer bestimmten Farbe im hellenischen Geistes- und Seelenleben entsprochen hätte. Ein allgemeines Verdienst der Kyniker um die griechische Philosophie möchte sein, daß sie durch ihr Beispiel viel dazu beitrugen, wenn in einer schon sehr auf Profit und Genuß ausgehenden Zeit die Philosophie der Stolz und der Lebensberuf begabter und dabei genügsamer Leute blieb.

Fragen wir nun, wo sich die Forderung der Askese in der griechischen Philosophie sonst noch vorfinde, so bieten sich uns erstlich die spätern Pythagoreer dar. Ihre Askese ist insofern echter als die kynische, als sie mit religiösen Gedanken zusammenhängt; die Seele scheint ihnen in den Leib als in einen Kerker gebannt zu sein, und diesen Kerker soll man keiner Bevorzugung genießen lassen. Auch sind sie dabei nicht ohne politische Absichten: sie suchen durch Erziehung von tugendhaften Panhellenen im Sinne eines Epaminondas auf den Staat zu wirken. Die kynische Bosheit findet sich bei ihnen nicht, in der Lebensweise aber müssen sie sich den Kynikern stark genähert haben. Während die frühern Pythagoreer in weißen Kleidern, gebadet, gesalbt und geschoren einhergingen, heißt es von einem Diodor von Aspendos, daß er sich das Haar lang wachsen ließ und schmierig und barfuß daherkam243. – Mit Maßen asketisch waren aber auch die Stoiker. Zenon, der, wie es heißt, für die kynische Roheit zu dezent war, hat doch noch ganz asketische Züge, und ein Komiker sagte von ihm: »Er lehrt hungern und bekommt dabei dennoch Schüler«244. Auch Kleanthes, der zur Entbehrung freilich anfänglich gezwungen war245, muß sie später mit Willen geübt haben.

Im Gegensatz zur kynischen Askese steht dann die Hedonik des Aristipp; denn dieser fand in dem Genuß und zwar dem Genuß des Augenblicks das höchste Gut. Vom Staate aber wandte sich der Hedoniker ganz ebenso ab wie der Kyniker. Aristipp erklärte schon dem Sokrates, daß er sich in kein Gemeinwesen einschließe, sondern überall ein Fremder sei. Sokrates machte ihm darüber Vorstellungen: mit seinem Wanderleben begebe er sich nur in größere Gefahren; doch davon wollte Aristipp nichts wissen246. Er ist dann allerdings den guten Schüsseln an den Tyrannenhöfen nicht genug aus dem Wege gegangen; die Hedonik war eben ohne Geld nicht möglich.

[361] Die Philosophen sind dann fortwährend der Polis ausgewichen, und Plato ist durch seine Apolitie gleich ausgezeichnet wie durch seine Utopie. Das Stärkste, was seine völlige Abwendung nicht nur vom Staate, sondern von der ganzen Mitwelt betrifft, findet sich in dem in seinen mittlern Jahren verfaßten Theätet. Hier läßt er (173, c. ff.) Sokrates von den Philosophen überhaupt sagen: »Diese kennen vor allem von Jugend an den Weg auf die Agora nicht, noch wissen sie, wo ein Gerichtslokal, ein Rathaus oder irgendein anderes gemeinsames Versammlungsgebäude der Polis ist. Gesetze und Volksbeschlüsse bekommen sie weder zu hören noch zu lesen. Und die Bestrebungen der Hetärien um Macht im Staate, die Zusammenkünfte, die Gastmähler, die Gelage mit Flötenbläserinnen kommen ihnen nicht im Traume vor. Von aller Stadtnachrede wissen sie nicht einmal, daß sie dieselbe nicht wissen. Vielmehr befindet sich in Wahrheit nur der Leib des Philosophen in der Stadt, sein Geist aber, dies alles gering achtend, schwebt überall frei umher und mißt die Tiefen und die Weiten der Erde und des Himmels und durchforscht die ganze Natur der Dinge, ohne sich je auf irgendetwas von den Dingen aus der Nähe herabzulassen«247. Wievieler Übergänge mochte es in Platos Geist bedürfen, bis er nach einer solchen prinzipiellen Erklärung bei jenem Exzesse des philosophischen Selbstbewußtseins anlangte, der ihm die Forderung erlaubte, daß im vollkommenen Staate die Philosophen allein und unumschränkt über eine mechanisch gehorchende Bürgerschaft regieren sollten und bis er seine eigene Politeia für ausführbar hielt248? Aber vielleicht ist der Umschlag in den Gegensatz nicht so schwer zu erklären. Aus dem »entweder den Staat ignorieren« folgt das »oder ihn neu bauen«. Will man aber letzteres, so muß man sich als Optimisten geben, und so hängt auch Platos Utopie mit seinem Optimismus zusammen; Optimist mußte er ja auch sein, da er mit den zwei Prinzipien Gott und Materie begann249. Aus allem ergibt sich also für ihn die eigentümliche Stellung, daß er seinem Athen gegenüber dem Staate abgewandt (ἄπολις)250 und für Hellas Utopist ist; daß der plötzliche Wunsch, tatsächlich einzugreifen, ihn aus der Rolle fallen und obendrein noch zum zudringlichen Arzte für Sizilien werden ließ, sowie daß seine Schüler hie und da tyrannische Staatslenker wurden, haben wir früher betrachtet251.[362] Im Vorbeigehen aber – wollen wir hier noch daran erinnern, daß es vielleicht die letzte Philosophenhuldigung an ein Orakel gewesen ist, wenn Plato in seinem Werke »von den Gesetzen« an verschiedenen Stellen auf delphischen Entscheid abstellt, in einer Zeit, da die Pythia bereits zu Makedonien hinneigte oder es doch bald tun sollte.

Freiheit von den Bedürfnissen und vom Staat predigte auch die Stoa. Wir haben oben gesehen, daß Zeno und Kleanthes bis zu einem gewissen Grade asketisch lebten. Von Zeno252, der aus dem hellenisiert-phönizischen Kittion stammte und ursprünglich einen Purpurhandel trieb, wird erzählt, daß er sich zum Verluste seines Vermögens durch einen Schiffbruch Glück gewünscht habe, weil das Schicksal ihn so der Philosophie zujagte253. Er wurde dann Schüler des Kynikers Krates, hatte auch mit Megarikern und Platonikern Umgang und gründete, nachdem er sich zwanzig Jahre lang mit phönizischem Kaufmannssinn von überall her das Brauchbare angeeignet hatte, seine eigene Schule in der Stoa Poikile. Er lebte streng und einfach, und daß er überhaupt Honorar nahm, wird daraus erklärt, daß er hiedurch ein größeres Gedränge von Zuhörern vermeiden wollte254.

Das Hauptpostulat der Stoa ist nun, daß das Subjekt sich durch eigene Kraft glücklich machen könne und solle; daraufhin entwarf sie das Idealbild ihres »Weisen« und kolorierte daran immer weiter; sie schlug aber diese Kraft viel zu hoch an, und wenn sie daher jemand nennen sollte, der in ihrem vollen Sinne ein Weiser gewesen255 wäre, so konnte sie es nicht; »die Stoiker suchen überall den Weisen, als wäre ihnen ein solcher entlaufen,«[363] spottet ein Komiker. Und wenn wir nun fragen, wie dieser Weise sich zum Staate stellt, so lautet die Antwort, daß er theoretisch gar kein Verhältnis zu ihm hat; er hat es vielmehr nur mit der Welt zu tun, eine Trennung der Menschen in Staaten und Städte mit verschiedenen Gesetzen sollte nicht stattfinden, es sollten alle Menschen als Landsleute und Mitbürger angesehen werden256. In diesem Sinne hinterließen Zeno und Chrysipp stoische Politien. Beides waren Utopien, die u.a. die Weibergemeinschaft enthielten, welches die unvermeidliche Lehre aller derer sein mußte, die mit dem Leben so kurzen und einfachen Prozeß machten. In der Praxis aber spielte im Gegenteil später der Stoiker hie und da eine ganz bestimmte Rolle im oder gegenüber vom Staat; manche traten als Tyrannenstürzer auf, und welchen Widerspruch die römische Stoa gegen die Monarchie erhoben hat, ist bekannt.

Im höchsten Grade strebt nach dem wirklich freien Menschen Epikur. Seine Philosophie hat einen rein praktischen Zweck: sie will Anleitung zur Glückseligkeit geben. Die theoretische Wissenschaft erklärt er für unnütz; die Physik will er nur als Befreierin von schreckhaften Vorstellungen (übeln Vorbedeutungen, Erwartungen göttlicher Strafe usw.), überhaupt dient nach ihm das Wissen nur zur Befreiung vom Wahn. Sein höchstes Ziel, die Lust (ἡδονή), ist ja nicht die körperliche Lust; es ist zu fürchten, daß sich wenige Menschen mit der echt verstandenen epikureischen Lust begnügen möchten, vielmehr die frohe Stimmung der Seele (χαρά) und die Freiheit von Schmerzen der Seele (ἀταραξία) und des Leibes (ἀπονία), weshalb die Tätigkeit des Weisen mehr auf Vermeidung des Unangenehmen als auf positive Lustgehen muß, ein Ziel, das ohne große Entsagung nicht zu erreichen ist. Die Götter leugnet Epikur nicht, hilft sich aber ihnen gegenüber auf seine Weise, indem er sie in eine hohe intermundane Sphäre verweist, wo sie höchst glücklich leben, weil und indem sie sich nicht um die Menschen kümmern. Sein Weiser wird eine Schule gründen, aber nicht die Masse an sich ziehen; er wird das Landleben vorziehen, aber nicht Kyniker sein. Bei unleidlichem Schmerz steht der Selbstmord frei; Furcht vor Tod und Unterwelt gibt es nicht; die Seele erlischt mit dem Tode, der kein Übel ist. – Was nun den Staat betrifft, so wurde früher257 darauf hingewiesen, daß Epikur ihm bloß den Wert eines gegenseitigen Sicherheitsvertrages vindiziert und ihn dafür ästimiert; seine Freiheit von allem politischen Ehrgeiz spricht sich in den berühmten Mahnungen aus, im Verborgenen zu leben (λάϑε βιώσας) und sich vom Staate fernzuhalten (μὴ πολιτεύεσϑαι), wobei er immerhin denjenigen, welche ohne Ehre und Ruhm nicht glücklich sein könnten,[364] die Teilnahme an der Politik frei ließ258. Ein starkes Zeichen seines Ernstes und seiner Unabhängigkeit ist, daß er zugunsten der Einfachheit auf die Rhetorik völlig verzichtete. Seine Sprache war eine die Dinge mit ihrem eigentlichen Namen, ohne Umschweife und Stilkünste bezeichnende (λέξις κυρία, ἰδιωτάτη), und in seiner Schrift über die Rhetorik verlangte er nichts anderes als Deutlichkeit (σαφήνεια)259. Den enormen Luxus an Rhetorik aber, den andere hatten, konnte er deshalb verschmähen, weil er zum Unterschiede von der Stoa, bei der immer das Postulat vorandröhnt, kein Pathos hatte. Nun hat ihn freilich das ganze spätere Altertum als einen Egoisten verurteilt, wie uns hauptsächlich Plutarchs Schrift »gegen Kolotes« lehren kann. »Bei Epikur gibt es«, so heißt es hier260, »weder Tyrannenmörder noch Helden, noch Gesetzgeber, noch Königsratgeber, noch Vorsteher eines Demos, noch Märtyrer für das Recht. Unter sovielen Philosophen sind die Epikureer die einzigen, welche, ohne selbst etwas beizutragen, an den Wohltaten ihrer Staaten teilnehmen ... Wenn sie schreiben, so schreiben sie vom Staate, wir sollen uns nicht damit einlassen, und von der Rhetorik, wir sollen sie nicht treiben (sehr bezeichnend ist es, wie hier Staat und Redekunst zusammengehen), und von der Königswürde, wir sollten den Umgang mit den Königen meiden. Von den politischen Männern sprechen sie mit Lachen und zur Zernichtung ihres Ruhms; nur etwa dem Epaminondas gestehen sie einiges Gutes zu, aber nur ein weniges.« Daß Metrodor den Satz wagte: »Man darf ein wahrhaft freies Gelächter erheben über alle Menschen, und auch über Lykurge und Solonen«, erregt Plutarchs besondern Zorn. Genug, daß Epikur wenigstens den großen Rückschlag gegen eine Anzahl von Überspanntheiten bedeutet; in dieser Beziehung wird der Mann immer der Beachtung wert sein.

Durch gänzliche Zurückhaltung des Urteils erstrebte die Glückseligkeit der Skeptiker Pyrrhon von Elis261. »Wer auf alle eigene Meinung verzichtet, lebt ruhig, ohne Sorge, Leidenschaft und Begierde, in völliger Gleichgültigkeit gegen die äußern Güter und Übel; in dieser Unerschütterlichkeit des Gemüts (ἀταραξία oder ἀπάϑεια) besteht seine Glückseligkeit«262.

[365] Betrachten wir das Personal der griechischen Philosophen und dessen Ergänzung, so sehen wir bald, daß sich nicht überall eine ansehnliche Quote von freien Griechen vorrätig findet, welche für die philosophische und wissenschaftliche Tätigkeit geeignet sind, sondern daß auch die Schranken der Nationalität, des Standes und des Geschlechtes übersprungen werden. Das große Vorbild eines barbarischen Philosophen263 ist der Skythe Anacharsis, den man an Krösos durfte schreiben lassen: »Geld bedarf ich nicht; mir genügt es, als ein besserer Mensch zu den Skythen zurückzukehren.« Er starb der Sage nach auf der Jagd durch einen Pfeil seines Bruders als Märtyrer der griechischen Weihen, vielleicht der griechischen Bildung überhaupt. So mythisch diese Gestalt erscheint, und so vieles durch Fiktion mag auf sie übertragen sein, am Vorkommen der Persönlichkeit eines solchen hochbegabten Skythen in der griechischen Gedankenwelt läßt sich nicht zweifeln. Später gehörte dann ein persischer Prinz, Mithridates, der Sohn des Rhodobates, zu den Verehrern Platos, dessen Statue von der Hand des Silanion er der Akademie stiftete264. Zenon von Kittion mußte sich noch von Krates ein »Phönizierchen« schelten lassen; auch der Kyniker Menippos war von phönizischer Herkunft; ferner ein Babylonier, Diogenes genannt, den Zenon zum Philosophieren brachte265, und echte chamitische Karthager, deren hellenischer Name eine bloße Umtaufe ist, sind im IV. Jahrhundert Dionysos, der Megariker266, später Herillos, ein Schüler des Zenon267, und Kleitomachos, der Schüler des Karneades268; dieser letztere hieß eigentlich Hasdrubal, philosophierte zuerst auf karthagisch in seiner Heimat und wurde in Athen, wohin er erst vierzigjährig kam, der offizielle Nachfolger seines Lehrers und ein fleißiger Autor. Sogar die Farbe schied nicht mehr: ein Schüler Aristipps war Äthiops aus dem kyrenäischen Ptolemais, gewiß ein Farbiger269.[366] Die natürlichen Vermittler für solche Übergänge einzelner Barbaren in die griechischen Philosophenschulen werden in der frühern Zeit die Kolonien an Barbarenufern gewesen sein. Wenn aber das Philosophenpersonal durch solchen Zuzug ein national gemischtes wurde, so wurde die Nation mit der Zeit dafür in entfernten orientalischen Ländern durch griechische Philosophen repräsentiert. – So ging Archedemos, der Athener, ins Partherreich und hinterließ in Babylon eine stoische Schule270. Die Erinnerung an die (nicht mehr leugbaren) ägyptischen und asiatischen Reisen schon der ältesten griechischen Philosophen mag dazu beigetragen haben, daß sich später dann bei den Griechen selbst das Vorurteil bilden konnte, die Philosophie habe bei Barbaren ihren Anfang genommen271.

Daß auch viele Sklaven, ohne Zweifel von der buntesten Herkunft, Philosophen werden konnten, hängt vermutlich davon ab, daß der Philosoph einen begabten Sklaven leicht dressieren konnte. Während der Freie – welches auch seine Begabung sein mochte – sich oft gar nicht fangen ließ oder dem Philosophen nach Belieben davonging, mußte der Sklave, den man vielleicht schon wegen sichtlicher Begabung gekauft hatte, herhalten und sich ausbilden lassen und durfte nicht davongehen; das übrige tat die Freilassung, die Beschenkung im Testamente usw. So war schon Diagoras ein Sklave des Demokrit, der ihn wegen seiner großen Anlage mit 10000 Drachmen bezahlt haben soll; Bion, der Borysthenite aus Olbia, wurde von einem Rhetor erzogen und zum Erben eingesetzt, Pompylos, der Sklave Theophrasts, und Perseus, der des Zenon, galten später als namhafte Philosophen272; mit Epikur philosophierten seine Sklaven, unter denen der trefflichste Mys war; auch der Kyniker Menipp soll als Sklave aus Phönizien nach Griechenland gekommen sein; etwas anders lag der Fall mit Phädon, der aus angesehener elischer Familie stammte, erst durch Kriegsunglück in Sklaverei geraten war und auf Betreiben des Sokrates durch Kebes (oder Alkibiades oder Kriton) seinem Besitzer abgekauft wurde, welcher ihn zu gemeinem Gewerbe verwandt hatte. Das berühmteste späte Beispiel des philosophierenden Sklaven ist bekanntlich Epiktet. Ein Werk des Hermippos in mindestens[367] zwei Büchern konnte von »den Sklaven, die sich in Bildung hervorgetan« handeln273.

Was die philosophierenden Frauen betrifft, so haben wir die Pythagoreerinnen schon früher erwähnt274; als Zuhörerinnen Platos finden wir Axiothea von Phlius und Lastheneia, die Arkadierin275; auch Arete, die Tochter Aristipps, war zugleich dessen Schülerin, und ihr Sohn, der jüngere Aristipp, heißt der »Mutterschüler«276. So ergeben sich bei der Philosophie Verhältnisse, die im stärksten Kontrast zu allem sonstigen griechischen Wesen und seinen Vorurteilen stehen; hier wird schon die Menschheit die allgemeine Basis des Wissens.


Als ein kleiner Schatten, der auf die griechische Geistestätigkeit fällt, sind hier die Feindschaften unter den Philosophen (und überhaupt Literaten aller Art) zu nennen. Diese waren wohl zum Teil die Schuld übereifriger Schüler277, in deren Streitigkeiten die Häupter der Schulen mit hineingezogen wurden, teils die Folge des eigenen enormen Wertgefühls. In den Mitteln aber, deren man sich gegeneinander bediente, war man oft völlig unbedenklich. Unter anderm vertilgte man die Bücher der Gehaßten, wie denn nach Aristoxenos Plato gerne die Werke Demokrits verbrannt hätte und nur durch zwei Pythagoreer vermittelst der Erwägung, daß dieselben schon zu verbreitet seien, davon abgehalten[368] wurde278; oder man schob einander Gefälschtes unter, oder man tat sich sonst alles Herzeleid an, vom silentium livoris bis zur wildesten Lästerung und bis zu Tätlichkeiten279.

Die Selbstverständlichkeit dieser Art Kriegführung verrät sich besonders deutlich, indem man dergleichen schon der Urzeit zutraut. »Die Nachkommen Agamemnons haben des Palamedes Gedichte (zu dessen Verderben laut der spätern Sage bereits Agamemnon mitgeholfen) aus Neid zernichtet; ich vermute sogar, daß Homer neidisch gewesen und deshalb des Mannes keine Erwähnung getan habe«, lautet eine alte Grammatikernotiz280 wörtlich. Es muß etwas Unglaubliches von Haß und Neid vorhanden gewesen sein, und zwar versagte es sich die griechische Schmähsucht und Verleumdung selbst nicht, die Lebensläufe der größten Schulhäupter durch schmähliche Erdichtungen zu entstellen. Besonders machte man sie durch die Behauptung schlecht, daß sie von geringer Herkunft seien und sich früher elend durchgeholfen und ein wüstes Leben geführt hätten; z.B. über Aristoteles ging das Giftgeschwätz, er habe sein väterliches Erbe verpraßt, dann Kriegsdienste genommen und sei nach übelm Abschiede erst Arzneihändler geworden, ehe er zur Philosophie überging281. Solche Lügen sollte hauptsächlich Epikur über die frühern Philosophen ausgestreut haben; aber auch dies beruhte auf Verleumdung; denn die Briefe, welche diese Dinge enthielten, waren untergeschoben282. Überhaupt hatte Epikur ganz ausnahmsweise viele Feinde, freilich glücklicherweise wohl hauptsächlich erst nach seinem Tode. Es waren offenbar meist Stoiker, welche in einer bisher[369] selbst unter den feindlichsten Sekten unerhörten Weise gegen ihn vorgingen, indem sie den Todfeind ihrer Lehren auf Jahrhunderte hinaus müssen vorauserkannt haben, vielleicht auch, weil er unter den vielen Pathetischen der einzige Nicht-Pathetische war. Natürlich griffen sie durchweg seine Persönlichkeit an, fingierten obszöne Briefe und entsprechendes Jugendleben, Plagiate an den Lehren anderer, mangelhafte bürgerliche Abkunft, Schmeichelei bei Großen, Prassen und Schlemmen283. Diogenes Laertius widerlegt alles und stellt die edle Persönlichkeit mit ihrer weiten Wirkung auf die Schule rein hin.

Die Nachreden von Philosophen gegen Philosophen bezeichnen eine der widerlichsten Stellen im Charakter der Griechen und sind besonders mit der enorm vielen Ethik und den vielen Reden über die Tugend nicht zu vereinigen284; denn hier taucht aller Agon in absoluter Gemeinheit unter; sie sind die unfreie Ecke an der freien Persönlichkeit; wenn wir bei den Griechen sonst nirgends Fanatismus finden, so kommt er hier zutage; es geht aber nicht an, eine solche Erscheinung unbeachtet zu lassen, sie mag uns so wenig gefallen als sie will.

Hier konnte aber auch die Verachtung, welche später die Philosophie überhaupt traf, Anlaß oder wenigstens Vorwand finden. In der frühern Kaiserzeit lebten noch einige Schulen weiter – wenigstens gaben sich etwa Sophisten-Rhetoren der Kaiserzeit noch irgendwie die Farbe davon –, man memorierte noch die Systeme, kam aber dabei zum Bewußtsein der einander mannigfach exkludierenden Resultate und Dogmen, und dabei erschien das sichere Gesamtresultat als null im Verhältnis zu dem großen Aufsehen; man bekam ferner auch die Kunde von den Feindschaften unter den Philosophen im Leben, besonders dem großen Haupthaß, den auch in der spätern Zeit die Stoiker gegen die als Götter- oder doch als Weltregierungsleugner für landesgefährlich ausgegebenen Epikureer[370] zur Schau trugen285, und damit ging die Achtung unter. So konnte ein Lukian, dem persönlich der Kynismus, freilich nicht der ganze, sondern nur eine Farbe oder Seite davon, genügte286, im »Ikaromenippos«, im »Gastmahl oder den Lapithen« und sonst überall die sämtlichen Richtungen in ihren Stichworten und Resultaten wie in den Personen ihrer Träger verhöhnen; aber ohne vielen aufgehäuften Hohn seit Timons Sillen hätte es noch jetzt keinen Hohn wie den seinen gegeben. Zu seiner Zeit, wenn auch nicht gerade durch ihn, stirbt die Philosophie. Was folgt, der Neuplatonismus, ist bereits Theosophie, d.h. wesentlich Religion. Freilich hatte es unter den Kaisern des II. Jahrhunderts auch nicht mehr gelautet: weil man Philosoph ist, kann man arm und frei leben, sondern: wer aus Armut sich nicht mehr zu helfen weiß, gibt sich als Philosophen287.


Die äußere Organisation des Lebens bei den Philosophen wollen wir nur kurz berühren. Vor allem mußte man irgendwo eine Lokalität für Zusammenkünfte, für das Dozieren und für irgendwelche Sammlungen und Bibliotheken haben. Als solche diente Plato bekanntlich die Akademie, d.h. ein außerhalb der Stadt, nicht ferne vom Kolonos Hippios gelegenes Gymnasion, oder vielmehr die Liegenschaft, die er sich in dessen unmittelbarer Nähe selbst erworben hatte. Hier erbaute er ein Haus und dasjenige Heiligtum der Musen, in welches später Speusippos die Bilder der Chariten gestiftet hat; auch das Bauwerk, welches die Exedra hieß, war daselbst288. Von da an werden die philosophischen Schulen in Athen förmliche Lehranstalten und Korporationen; sie haben ihre Scholarchen, die einander regelmäßig sukzedieren, und sie besitzen einen eigenen Versammlungsort, der sich von Generation zu Generation forterbt, und ein eigenes Stiftungsvermögen, dessen Einkünfte der Scholarch genießt, und das sich durch Stiftungen mehren kann289; doch tut man gut, sich alle diese Dinge und besonders auch die Lokalitäten höchst bescheiden vorzustellen; es genügte, wenn die Öffentlichkeit der Schule und die Sicherung der wichtigsten Sammlungen dadurch ermöglicht wurden290.[371] Von der Einfachheit des Lebens, die an Platos Akademie herrschte, berichtet übrigens eine bezeichnende Anekdote291.

Die besuchteste von allen Schulen war die, welche Aristoteles bei seinem zweiten Aufenthalt in Athen (nicht vor 335) im Lykeion, einem mit Baumgängen (περίπατοι) umgebenen Gymnasien, für sich eröffnet hat; ob er dazu der Genehmigung des attischen Staates bedurfte, dem die Gymnasien doch wohl gehörten, wissen wir nicht292. Da er nur Metöke war, konnte er kein Grundstück besitzen; erst sein Nachfolger Theophrast erwarb, angeblich mit Hilfe des Demetrius von Phaleron, den Garten beim Lykeion. Aristoteles aber hielt in dem Gymnasion selbst, wie berichtet wird, des Morgens akroamatische, d.h. streng wissenschaftliche, abends exoterische, d.h. populäre Vorträge, jene für seinen engern Schülerkreis, diese (zumal die über Rhetorik und Staatswissenschaften) für einen weitern Kreis von Zuhörern293. Daß Theophrast deren dann über zweitausend gehabt haben soll, gibt wegen der Masse von »Philosophen«, die sich hiebei ergab, immerhin zu denken, wenn wir auch berücksichtigen, daß sich diese Menge wohl auf eine lange Lehrzeit verteilte und kaum der zehnte Teil wirklich Leute vom Fach werden geworden sein294. – In späterer Zeit ist eine vielgenannte Lokalität für eine philosophische Schule auch der Garten, worin Epikur von 306 v. Chr. an[372] lehrte und die Freundschaft pflegte, die bei ihm eine wirkliche Wahrheit war295.

Für wie selbstverständlich die Transmittierung der Lehre und die Designation eines Nachfolgers (διάδοχος) mit der Zeit galt, beweisen die Vorstellungen, die man sich im II. Jahrhundert v. Chr. schon vom Übergang der »Schule« des verstorbenen Sokrates auf Plato machte296. Berühmt ist die Geschichte, wie der dem Tode nahe Aristoteles den Theophrast aus Lesbos zu seinem Nachfolger designierte297. Seine Schule dauerte dann in Athen, das er selbst verlassen hatte, damit die Athener sich nicht zum zweiten Male an der Philosophie versündigten298, noch lange fort, wenn auch die meisten Diadochen nur durch Kommentierung der Schriften des Stifters bedeutend waren299. Nach Alexander waren überhaupt die Schulen und Systeme schon zahlreich. Neben den fortlebenden Akademikern und Peripatetikern bestanden als eigentliche Schulen die Stoa, der Epikureismus und die Skepsis, jede in exklusivem Gegensatze zu allen andern, und innerhalb jeder Richtung wurde die Nachfolge als Schulhaupt noch spät genau notiert300. Dafür, daß sich die nötigen Mittel zur Führung der Anstalten fanden, sorgten auch die Testamente der Philosophen selbst. So vermachte Theophrast seinen Garten, seine Baumgänge und alle Häuser beim Garten denjenigen von zehn weiterhin benannten Schülern, welche dort jederzeit würden zusammen studieren und philosophieren wollen; sie sollten ihn wie einen geweihten Boden gemeinsam besitzen und darin, wie auch er, einfach begraben werden. Auch der Peripatetiker Lykon hinterließ seinen eigenen Spazierplatz an einige Schüler; besonders aber ist das in dieser Hinsicht wahrhaft klassische Testament Epikurs zu beachten. Dieses sichert den (um bloß 80 Minen gekauften) Garten mit allen möglichen Kautelen der[373] Schule auf alle Zeit; das Haus wird dem Schüler Hermarchos vermacht, der mit ihm in der Philosophie alt geworden war und nun die Schule leiten soll, sowie denen, die mit ihm philosophieren, solange Hermarchos lebt; ferner werden bestimmte Einkünfte für die Totenopfer seiner Familie, für seine eigene Geburtstagsfeier, für die allmonatlich am zwanzigsten stattfindende Feier zu seinem und zu Metrodors Gedächtnis, für eine Feier des »Tages der Brüder« im Monat Poseideon und für eine Feier des Polyänos ausgesetzt. Schließlich trifft er Fürsorge, alle, die mit ihm philosophiert, möglichst vor Dürftigkeit zu bewahren und verfügt Freilassung mehrerer Sklaven301.

Einmal freilich mischte sich auch der Staat in die Angelegenheiten der Schulen ein. Es geschah dies 305 v. Chr., als ein gewisser Sophokles ein Gesetz durchsetzte, wonach kein Philosoph einer Schule vorstehen sollte, wenn es nicht dem Rat und dem Demos gefalle; dem Übertreter war der Tod angedroht. Alle Philosophen verließen hierauf Athen, kamen aber bald wieder, als ein gewisser Phillion den Sophokles der Ungesetzlichkeit angeklagt und die Athener das Gesetz für unwirksam erklärt, ja den Sophokles um fünf Talente gebüßt hatten. Dies geschah besonders, damit Theophrast (mit seiner großen Schülerfrequenz) wiederkehre302. Also es gab einen Fall, da der Staat den Philosophen nachging und sie kontrollierte. Diese wunderhübsche Geschichte ist aber recht genau zu besehen, weil Athen hier plötzlich auf einen Moment überaus und impertinent modern wird.


Von den Schriften der Philosophen waren, wie wir früher sahen303, bloß einige der frühsten in Hexametern verfaßt, sie hatten im Zusammenhang damit auch eine mythische Auffassung darzustellen; nach Empedokles aber herrschte die Prosa ausschließlich304, und einige Worte von Pherekydes sind überhaupt die frühste aufgezeichnete griechische Prosa, die uns erhalten ist. Diese Literatur hat nun vor allem den großen Vorzug, daß die Philosophen wesentlich aus innerer Nötigung für sich schrieben und ohne Rechnung auf den Verkauf, wenn derselbe auch vorkam305. Sodann[374] aber war sie von frühe an unendlich fruchtbar: Schon das erhaltene Depositum ist groß, besonders aber sehen wir vermöge der enormen Masse von Titeln, welche bei Diogenes von Laerte und andern Autoren überliefert sind, in viele Tausende von Büchern hinein; allein der Stoiker Chrysipp soll deren 705 geschrieben haben. Das mögen freilich oft nur kleine Rollen gewesen sein, und vieles, was zitiert wird, war wohl auch bloße Kopie oder Exzerpt aus frühern Autoren, wie das vor Erfindung des Bücherdrucks überall vorkam; auch dürfen wir nicht vergessen, daß außer der Philosophie fast das gesamte übrige Wissen: Naturkunde, Mathematik, selbst Geschichtliches und besonders Politisches in dieser Schriftenwelt vertreten war; aber trotz all diesen Erwägungen kann der Reichtum an Echtem und Originalem Staunen erwecken.

Nun sind diese Werke allerdings ungleich erhalten. Von Polygraphen und Polyhistoren wie Demokrit, dem großen Denker und Forscher vor Aristoteles, der uns, wenn wir ihn besäßen, für eine Fülle von Fragen ganz unentbehrlich wäre, haben wir fast nichts; es ist, als ob er schließlich doch systematisch vernichtet worden wäre, was ja zu den Amönitäten philosophischer Gegner gehörte; dagegen von Plato haben wir alles und von Aristoteles wenigstens das meiste Wichtige, freilich mit Ausnahme der »Staatsverfassungen«; nur hat man bei dem unter seinem Namen Gehenden wohl zu unterscheiden; denn neben ausgearbeiteten Schriften enthält es 1. Kollektaneen und Vorarbeiten, 2 nachgeschriebene Hefte und 3. Exzerpte anderer aus namhaften Werken307. Die spätere Stoa und der Neuplatonismus sind in ganzen Stößen von bedeutenden Originalwerken vertreten, von Epikur aber, der mehr als Aristoteles schrieb, besitzen wir wieder nichts im Original; vielleicht haben die spätern Stoiker seine Werke verbrannt, was freilich vergeblich geschehen wäre; denn gerade die vielen ihm gewidmeten Widerlegungen haben die Kunde von seiner Lehre gerettet, und durch die Begeisterung des Lukrez schwimmt er doch oben. Daß übrigens Schriften auch ohne üble Absicht durch bloße Liederlichkeit leiden konnten, indem man schlechte Abschreiber brauchte und nicht kollationieren ließ, lehrt eine bekannte Stelle Strabos308, der sich über die römischen und alexandrinischen Buchhändler beklagt.

In der Aufzeichnung des früher Geleisteten war das Altertum eifrig. Schon Aristoteles stellte in einer Reihe von Arbeiten frühere Philosopheme[375] dar309 und spricht zudem auch gelegentlich sehr oft von seinen Vorgängern. Die Alexandriner arbeiteten dann in dieser Richtung weiter, und durch eine Fülle von historischen Notizen sind auch Cicero, Seneca, Plutarch und noch die Kirchenväter wichtig, abgesehen von Diogenes aus Laerte, der etwa unter Septimius Severus sein Kompendium der Geschichte der Philosophie verfaßt hat. Auf der andern Seite fehlte aber auch die Karikatur nicht. Von Timon aus Phlius, der auch noch andere Sachen ähnlichen Inhalts dichtete, gab es aus dem III. Jahrhundert v. Chr. die »Sillen«, ein fortlaufendes Spottgedicht auf die Philosophen in drei Büchern310, das freilich nach den Proben sehr gedrängt und, weil voll Anspielungen, dunkel und schwer verständlich gewesen sein muß, aber für seine Zeit ein einladendes Thema hatte, da es, wie wir schon von der Komödie her wissen, eine ungeheure Menge gab, welche jeden Spott auf die Philosophen begrüßte, und da diese selbst sich unter einander haßten.


Hier ist nun noch ein Wort über die dialogische Form zu sagen, in der so viele dieser Schriften gehalten sind. Dieselbe wurde schon vor Plato von Zenon, dem Eleaten, angewandt und hat sich von da an neben der systematischen mit größter Hartnäckigkeit behauptet, ist auf die Römer übergegangen, bei denen sie nicht nur von Cicero, sondern noch in allerspätester Zeit von Gregor dem Großen zu Ehren gebracht wurde und hat schließlich noch das Mittelalter und die Renaissance nach sich gezogen. Ob bereits eine ältere, asiatische Nation den Dialog zur Ermittlung der Wahrheit oder zur Erzielung irgendeines Denkresultates gebraucht habe, läßt sich fragen. Uns ist nichts Ähnliches bekannt als das Buch Hiob. Hier suchen die Freunde Eliphas, Bildad und Zophar durch ihre Gegenreden die Theodizee gegen Hiobs Jammern zu verfechten (der später eintretende Elihu ist vielleicht ein Zusatz), und endlich (c. 38) tritt Jehova selbst im Wetter auf, setzt dem Hiob und seinen Tröstern und Tadlern den Kopf zurecht und macht jenen wieder glücklich; es treten also jedesmal ganze Weltanschauungen gegeneinander ins Gefecht. Aber wie alt ist das Buch? Jedenfalls doch nicht vor dem Exil verfaßt und wegen der Einmischung des Perserglaubens mit Satan und Engelscharen vielleicht erst nachexilisch, so daß es jünger sein könnte als der griechische Dialog. Für die Griechen aber hat diese Form etwas besonders Natürliches und dürfte bei der Belehrung als praktische Dialektik wohl so alt als der akroamatische Vortrag sein; denn die Gedanken entwickelten sich hier wirklich mehr als anderswo im Gespräch, und darum war auch die Philosophie, wie früher schon gesagt, zunächst vorherrschend eine[376] mündliche Sache. Nun mochte es frühe von beiden Gattungen Nachgeschriebenes und aus dem Gedächtnis Notiertes geben; besonders aber dürfte ein Sokrates, der selbst nichts schrieb, seine Zuhörer zu schriftlicher Fixierung seiner Gespräche gereizt haben; der weitere Schritt, daß die Philosophen selbst schriftliche Dialoge in sorgsamer Redaktion verfaßten, könnte sich hieraus erklären. Sicher ist, daß Plato und andere Sokratiker auf diese Form die größte Mühe verwandten: Plato soll, um sich den Ton des Gespräches zu sichern, die (in Prosa verfaßten) Mimen (d.h. Gespräche aus dem Volksleben) des Sophron311 studiert haben; auch sagt eine Nachricht, daß er sein langes Leben lang an seinen Dialogen herumgekämmt und gekräuselt habe312. Bekanntlich liebt er dabei absichtlich künstliche Verumständungen, indem er einen Vordialog vorausschickt, von dessen Teilnehmern einer dann den Dialog selbst als einen angehörten wiedererzählt; wir müssen gestehen, daß die Geduld des heutigen Lesers, für den die Zeit Wert hat, trotz aller Kunst Platos hiedurch und durch die ironischen Vorgefechte bisweilen auf eine harte Probe gestellt wird313. Spätere Nachahmungen dieses Verfahrens aber können höchst lästig werden. Zwar die gottlose Parodie Lukians, wie wir sie z.B. im »Gastmahl oder den Lapithen« lesen, bleibt klar und dramatisch. Pluttarch dagegen verteilt im amatorius seine Reden und Standpunkte auf eine ziemlich unbehilfliche Weise, läßt störende Zwischenereignisse melden und dergleichen. In der inhaltlich sonst sehr interessanten Schrift de genio Socratis bringt er alle seine Künste mit einem Mal vor. Nach dem Vordialog der Einleitungspersonen spielt sich die ganze thebanische Verschwörung gegen die Spartaner in lauter Dialogen der Hauptpersonen ab, unterbrochen durch philosophische Diskussionen, ja durch eine umständliche Seelen- und Dämonenlehre in Gestalt einer Vision, die Timarchos von Chäronea im Orakel von Lebadea gehabt haben soll314; was denn ganz ähnlich klingt, wie wenn bei Tieck und andern Romantikern die Personen zwischen Entführungen und sonstigen Roman hinein literarische Gespräche führen. Nachdem dann zwischenhinein noch weitere Verabredungen getroffen worden sind, übernimmt endlich der erste Einleitungsredner wieder die direkte Erzählung, die dann bis zum[377] Morde der Unterdrücker geführt wird. – Im VII sapientum convivium läßt der Autor den als Perianders Gästen versammelten Sieben Weisen durch dessen Bruder Gorgias die eben erkundete glückliche Rettung Arions durch den Delphin melden. Es fehlte wohl wenig, so hätte er den Arion noch selber im Dialog auftreten lassen, und es zeigt große Müdigkeit, daß er es nicht getan.

Jedenfalls haben die Griechen am Dialoge Vergnügen gefunden. Daß unsere Zeit, nachdem ihn noch die Renaissance eifrig gepflegt, davon abgekommen ist, könnte seinen Grund darin haben, daß man überhaupt nicht mehr so gerne hört, wie man vor Zeiten den Leuten zugehört hat. Plutarch hat eine besondere Schrift geschrieben, »de recta ratione audiendi«.315[378]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. CCCXXXIX339-CCCLXXIX379.
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