Die Städtegründungen Alexanders und seiner Nachfolger in ihrem Zusammenhang[425] 95

Es würde ersprießlich sein, hier zum Schluß noch einmal die Gesamtheit der Gründungen Alexanders zu überschauen und zu versuchen, ob sich in ihnen vielleicht ein Zusammenhang, ein System entdecken läßt, das dann allerdings zur Beurteilung der Intentionen des Königs einen wichtigen Beitrag liefern könnte. Aber unsere Kenntnis ist in der Tat zu lückenhaft, als daß wir uns ein bedeutendes Resultat versprechen dürften. Jedenfalls weisen einige Andeutungen bei den alten Autoren auf derartigen Zusammenhang hin. Man wird behaupten dürfen, daß Alexander weder die militärische Okkupation, noch die Förderung des Welthandels96, noch die Gesittung oder Hellenisierung der Völker ausschließlich im Auge gehabt hat; sondern an jedem Punkte scheinen alle diese Motive mehr oder weniger in gleichem Maße mitgewirkt zu haben.

Am dürftigsten, so scheint es, ist Kleinasien bedacht; freilich sind dort die Küsten ringsumher schon mit alten hellenischen Kolonien bedeckt, und der Verkehr mit dem Innern mag schon lange dorthin Anfänge griechischer Bildung gebracht haben, die fortan bei der veränderten Gestalt der politischen Verhältnisse in diesem Lande der Straßen von Hellas nach Asien sich bald entwickeln mußten.

Im syrischen Lande finden wir vor allem den Übergang von Kilikien nach Syrien, jene issische Bucht, deren Wichtigkeit schon Xenophons bekannte Angabe bezeichnet, zu einer doppelten Gründung benutzt, an der Küste die neue Besiedlung von Tyros und Gaza. Nächstdem erhält das Jordanland, den schweifenden Völkern der arabisch-syrischen Wüste zunächst, ein paar Städte, während ein paar andere am Orontes mehr die[425] vorläufige Bezeichnung zu einer späteren ausgedehnteren Umgestaltung zu sein scheinen.

In Ägypten mag immerhin Alexandreia nicht die einzige Gründung gewesen sein; aber sie würde genügen, um das reiche Nilland dem Weltverkehr zu öffnen, um das Griechische, das schon in Naukratis, Karikon, Nikiu, in der Nachbarschaft der Kyrenaika Anknüpfungspunkte fand, weiter vordringen zu lassen; sie mußte der Mittelpunkt des Handels von Arabien und Äthiopien mit den Küsten des Mittelmeers zu werden versprechen.

Im Lande des Euphrat und Tigris erkennen wir eine Gründung da, wo die große Oststraße den Euphrat überschreitet, eine zweite auf diesem Wege in Mesopotamien, eine dritte, wo eben derselbe sich spaltet, um teils nach Medien hinauf, teils nach Babylon hinab zu führen. Eine Doppelgründung an der Mündung des Tigris konnte als Emporium der überreichen babylonischen und susianischen Landschaften, als Mittelpunkt des Handels von Indien mit Syrien, Kleinasien, Europa, mit der ägyptischen Stadt zu wetteifern verheißen, während Alexandreia bei Babylon das Euphratland ebenso sehr gegen die Araber decken, wie den Verkehr mit ihnen an sich ziehen konnte; wie bedeutend ist in späterer Zeit Kufa in eben dieser Position geworden.

Das Tiefland des Tigris wird von einem breiten Gebirgsgürtel begleitet, hinter dem sich das hohe Land Medien erhebt, wie eine Akropolis gleichsam an der Spitze der vor ihm hinabliegenden iranischen Binnenlandschaften. Den Weg dorthin und jene Akropolis selbst zu sichern, zwingt Alexander die kecken Bergvölker zur städtischen Ansiedlung, und von Alexandreia bei Arbela scheint sich eine Kette von neuen Städten am Fuß des Gebirges entlang und in das Gebirge hinauf gezogen zu haben; Medien selbst wird, wie Polybios sagt, mit hellenischen Städten rings bedeckt, von denen wir wenigstens eine auf der großen Oststraße zu den Kaspischen Pässen erkennen konnten.

Jenseits dieser Pässe, wenn die Heerstraße zur Tiefe des kaspischen Strandes hinabgekommen, folgt sie dem Nordrand des iranischen Landes, um da, wo der Areios denselben durchbricht, sich teilend, an den beiden Seiten des Paropamisos, nach Nordosten zum Oxos und Jaxartes, nach Südosten gen Indien hin weiterzuführen. Auf der ersten Hälfte dieses Weges, am Saume der Wüste, die mit ihren turanischen Horden stets die Kultur des iranischen Landes gefährdet hat, erhebt sich die Stadt, in der später, wenn nicht der Sitz, so doch die Gräber der parthischen Könige waren.

Der Paropamisos selbst, ein breites, schwieriges Gebirgsland, kann in den Kreis der Hellenisierung nicht hineingezogen werden; aber rings umsäumt[426] wird er mit griechischen Städten, die zugleich die Straßen des Verkehrs sichern, und Herat, Kandahar, Ghisni usw. beweisen noch heute, wie sicher Alexander die wichtigsten Punkte ausgewählt hat, während Prophthasia die Verbindung nach dem Südwesten zum karmanischen Alexandreia hin deckt; es sind die Knotenpunkte in dem großen Netz der natürlichen Verkehrsstraßen, die Iran durchziehen, und damit zugleich die militärisch wichtigsten Punkte.

Am dichtesten drängen sich die Gründungen da, wo es gilt, die Straße, die aus Indien in das enge Hochtal des Kabul heraufführt, aufzunehmen und nach Süden um den Paropamisos, nach Norden über die Scheitel des Kaukasos zum Oxos hinab zu decken.

Drei Tiefländer mit ihren Doppelströmen lagern sich unter der hohen Burg Irans; auf sie besonders wendet Alexander allen Fleiß der Kolonisation, das Land in der Mitte nur so weit umgestaltend, als nötig ist, um die Verbindung jener drei zu sichern. Das Land des Euphrat und Tigris ist durch seine größere Nähe an Europa der Kolonisation zugänglicher; doppelte Sorge wendet der König dem Lande des Oxos und Jaxartes, des Indus und Hydraotes zu.

Nur ein paar Hauptpunkte erkennen wir in Baktrien und Sogdiana; Alexandreia in der Oase von Merw und die Stadt an der Wendung des Jaxartes sind die beiden Grenzposten gegen die Turanier im Westen, gegen die Skythen im Norden; von der bedeutenden Zahl sonstiger Gründungen in diesen Landschaften wissen wir kaum noch eine oder zwei zu lokalisieren, namentlich ist nicht klar, ob und wie das Land gegen das hohe turkestanische Gebirge im Osten, von woher später die gefährlichsten Feinde des sogdianischen Hellenismus kamen, gedeckt worden. Bemerkenswert erscheint es, daß Alexander keinen Versuch machte, den Oxos zu befahren und die Handelsstraße, die zwei Jahrzehnte nach ihm (Strabo XI p. 509) schon oder noch in aller Wichtigkeit erscheint, durch eine Anlage an der Meeresmündung des Stromes zu sichern. Er behielt sich vor, später von Hellas aus nach dem Pontos, nach Kolchis vorzudringen; ohne jene Okkupationen, ohne eine Flotte im Kaspischen Meere, die noch kurz vor seinem Tode gerüstet wurde, wäre eine Kolonie an der kaspischen Mündung des Oxos, durch die turanische Wüste von Baktrien und Sogdiana getrennt, ein verlorener Posten gewesen.

Die reichste Zukunft mochte die Eroberung des westlichen Indiens verheißen; die neuen Städte am Akesines, Hydaspes, Indus bildeten eine Emporienreihe, deren Bedeutsamkeit zahlreiche Ansiedlungen im Mündungsgebiet des mächtigen Stromes und der nächstliegenden Hafenküste zu sichern bestimmt waren. Nearchos muß mit der Flotte den Seeweg vom Indus zur Tigrismündung entdecken. Dann wird von dieser aus eine Umschiffung[427] Arabiens versucht; gleichzeitig muß Herakleides eine kaspische Flotte ausrüsten, auch dies Meer zu erforschen; und schon werden die Vorbereitungen getroffen, auch die mittelländischen Küsten Afrikas zu durchziehen; es gilt, wie die Tiefländer um das hohe Iran, ebenso die Uferlandschaften um das Bassin des Mittelmeeres für den Hellenismus zu erobern, damit die beiden Ländersysteme, in denen sich der Kreis des Lebens der Alten Welt abschließt, zu umfassen. Da stirbt der König.

Man sagt: sein Reich zerfiel sofort. Aber die Begründung des Griechentums unter den Barbaren hat das Zerfallen des Reiches überdauert. Man sagt: der Zustand des Perserreiches machte sein Unternehmen leicht. Aber eben daß er diesen so deutlich erfaßte, daß er es nicht bloß zu stürzen, sondern aus seinen Trümmern eine neue Gestaltung des Völkerlebens zu begründen verstand, daß er die unendliche Regsamkeit des Griechentums, die es in seinen engen Verhältnissen daheim nur selbst zu zerstören diente, richtig zu würdigen, es auf eine Tätigkeit, in der es seine bildende, anorganisierende, durchgärende Energie entwickeln konnte, zu leiten verstand, daß er mit kühnem Vertrauen diese vorgeschobenen Posten, diese sporadischen Gründungen, diese kleinen energisch pulsierenden Mittelpunkte hellenischen Lebens in die ungeheuren Räume des Barbarentums auszusäen wagte, vorsichtig, mit sicherem Blick wählend, seines Zweckes, seiner Mittel, seines Erfolges gleich gewiß, – eben das ist seine geschichtliche Bedeutung. Man mag über seinen Charakter, seine Moral urteilen wie man will, in diesem seinem Werke zeigt er sich gleich groß in der Kühnheit seines Gedankens wie in der Energie seines Willens, als ein Riese menschlicher Begabung.

Ist das Werk nach seinem Plan, oder wenigstens in seinem Geist fortgeführt worden? Schon zwei Jahrzehnte nach Alexanders Tod war das Indusland, das er mit so zahlreichen Kolonien versehen, aufgegeben; bald lockerte sich auch der Zusammenhang der baktrischen und arianischen Landschaften mit dem Seleukidenreiche; um 250 erhob sich in dem Verbindungsland zwischen Osten und Westen, an den Kaspischen Pforten, eine barbarische Herrschaft, die ihn völlig durchriß; die ungeheure Zusammenhäufung kontinentaler Gebiete, wie sie aus der herrenlosen Erbschaft Alexanders an Seleukos gefallen war, reduzierte sich mehr und mehr auf den Bereich von Ländern, die im Wassersystem des Euphrat und Tigris liegen, und die sich nur um so dichter mit hellenistischen Ansiedlungen füllten; konnten wir doch allein in dem oberen Syrien zwischen Tauros, Euphrat und Libanon noch über vierzig neue Städte zählen.

Den Lagiden war derjenige Teil des großen Reiches zugefallen, in dem Alexander kaum mehr als den ersten Anfang einer neuen Ordnung, kaum die ersten Schritte zur Hellenisierung gemacht hatte; wir glaubten zu erkennen,[428] daß auch in dieser Tendenz die Lagiden sich wesentlich von der Weise der Seleukiden unterscheiden; sparsam mit städtischen Gründungen in dem Kernlande ihrer Macht, wandten sie sich, während vom Seleukidenreich die östlichen Landschaften sich lösten, entdeckend und kolonisierend dem Süden zu, schufen und fanden die Wege eines immer steigenden Verkehrs, die Quellen einer immer wachsenden materiellen Macht eben da, wo feindlicher Angriff sie nie bedrohen zu können schien.

Es ist der Mühe wert, diesen Gesichtspunkt einen Augenblick festzuhalten. Die Lagiden haben die Straße des Weltverkehrs, den die Natur selbst vorgezeichnet, gegründet und zum ersten Male mit beispiellosem Erfolg benutzt, jene Straße, die wieder ihr Recht geltend machen wird, sobald die Verwilderung des morgenländischen Lebens und die engherzige Diplomatie der abendländischen Mächte aufhören wird, in Verblendung zu wetteifern97. Es war eine der größten Konzeptionen Napoleons, mit der ägyptischen Expedition der stolzen Meerherrschaft Englands Schach zu bieten; wenn sie gelang, so hatte Frankreich einen Vorsprung gegen England gewonnen, der für alle Niederlagen seit dem Tage von La Hogue entschädigen konnte. Wohl erkannte England die Bedeutung des Nillandes, aber als man endlich so weit war, das Delta zu okkupieren, stand nicht mehr die zähe Energie Pitts am Ruder. Das geglückte Attentat auf die dänische Flotte konnte eine Entschädigung für den wenig ehrenvollen Rückzug aus Alexandrien scheinen; aber man hatte den Brückenkopf für Indien verloren; wie wenig bedeutet dagegen die stillschweigende Besitznahme von Aden, des arabischen Gibraltars. Man wird mehr und mehr zu der Einsicht kommen, daß nur durch die Besitznahme Ägyptens England im Stande ist, den kontinentalen Einflüssen Rußlands in Asien die Waage zu halten; die Euphratstraße ist weder in kommerzieller noch gar in politischer Beziehung ein Ersatz für das Rote Meer; wenn in dem Moment, da der Zar die Komödie am Bosporus zu endigen für gut findet, England nicht über die Landenge von Suez gebietet, so beginnt für den Osten wie für den Westen die äußerste Gefahr. Die Bedeutung jener Gegend von Suez ist darin begründet, daß hier zwischen den größten kontinentalen Massen der Erdoberfläche die tiefsten maritimen Einschnitte sind, daß das Rote Meer, der Hafen für alle Küsten des Indischen Ozeans bis Australien und China hin, hier sich dem mittelländischen Bassin, dem Hafen für den Westen der Erde, auf wenige Meilen nähert. Nicht in der ungeheuren Ausdehnung, wie nach den transatlantischen Entdeckungen, den merkantilen[429] und nautischen Fortschritten der letzten Jahrhunderte zu erwarten steht, konnte im hellenistischen Altertum sich die Wichtigkeit des Roten Meers, der Nilmündungen, der Kanalverbindung zwischen beiden geltend machen; aber trotzdem mußte nach dem Eroberungszug Alexanders die Erschließung des Roten Meeres durch den Hellenismus das nächstgrößte Ereignis für die Neugestaltung der äußeren Verhältnisse sein, mußte in ihren Resultaten ebenso überraschend und nachhaltig wirksam sein wie sechzehn Jahrhunderte später die Eröffnung des Seeweges um das Kap, welche dem Handel der Italiener wie der Hansa den Todesstoß gab; nur daß sich die Wirkungen und die Fortschritte jenes lagidischen Handelssystems unserer Beobachtung fast völlig entziehen. In den angeführten Gründungen und Besitznahmen wird man wenigstens die Spuren des von ihnen verfolgten Planes zu erkennen geneigt sein. Allerdings ist das Rote Meer nichts weniger als günstig für die Schiffahrt; Untiefen, Strudel, Riffe, unsichere Reeden, schwer zugängliche Häfen sind Hemmungen, die nur die Sorgfalt und Assiduität der Zivilisation zu überwinden vermag; aber um ein naheliegendes Beispiel zu wählen, bietet die Nordsee mit ihrer fast völlig hafenlosen jütischen Küste, mit ihren flachen Ufern im Süden, ihren durchziehenden Sandbänken, ihren labyrinthischen Einfahrten in die deutschen Flüsse, um vom Stader Zoll und den vergeblichen Transaktionen deutscher Flußschiffahrts-Kommissionen gar nicht zu sprechen, etwa geringere Schwierigkeiten?

Ich wende mich zu einer anderen Betrachtung, wenn man will, zu einer statistischen Phantasie; denn bei dem völligen Mangel an allen leitenden Angaben wird nur die Phantasie es versuchen dürfen, sich die Bedingungen und Wirkungen der Übersiedlungen, welche das Jahrhundert von der issischen Schlacht bis zum zweiten Punischen Kriege charakterisieren, zu vergegenwärtigen. Wie war dieser Aufwand von Menschen griechischer Zunge möglich? Wie wirkten so große Übersiedlungen, in verhältnismäßig so kurzer Zeit gemacht, auf die Länder, die die Ansiedler hergaben? Wie wurde es möglich, Gründungen zu schaffen, die so schnell festwurzelten? Bedenkt man, daß in Indien ein Jahrzehnt nach Alexander die griechischen Ansiedlungen unter die Herrschaft Tschandraguptas kamen und sich dennoch erhielten, ja der späteren Erneuung griechischer Reiche dort als Stützpunkte dienen konnten, daß das Griechentum in Baktrien und Ariana herrschend blieb, ja erobernd um sich griff, obschon das Partherreich, sich zwischen den Osten und Westen drängend, den Zuzug neuer Einwanderer aus dem Westen so gut wie unmöglich machen mußte, daß selbst unter den parthischen Barbaren inmitten fremder Stämme die gegründeten Städte weiterblühten, daß die Länder am Euphrat und Tigris überwiegend, Syrien so gut wie ganz gräzisiert wurde, um von Kleinasien[430] gar nicht zu sprechen, daß von Ägypten aus die Küste Abessiniens kolonisiert werden konnte, gründlich genug, um tief in die christliche Zeit das Griechische neben dem Einheimischen zu bewahren oder mit dem vordringenden Arabischen rivalisieren zu lassen, – in der Tat dann muß man gestehen, daß das griechische Wesen eine Virtuosität des Kolonisierens entwickelt hat, wie sie zu keiner Zeit und von keinem Volke wieder auch nur im entferntesten erreicht worden ist; selbst die Römer kolonisierten weder mit so sicherer Raschheit und in so weitem Umfang, noch vermochten sie ausgebildeten Kulturen gegenüber ihre Sprache mit ihrer Herrschaft durchzusetzen, während die Hellenisierung um so entschiedener Boden zu gewinnen schien, je höher die Kulturstufe der Völker war, auf die sie sich wandte. Auf die ethnischen Reaktionen, auf den Kampf altheimatlicher Sprachen gegen die hellenistische, wie er sich nirgends interessanter als im syrischen Sprachgebiet darstellt, wird erst später einzugehen sein.

Die hellenistische Kolonisierung ist nicht auf das erste Jahrhundert seit Alexander beschränkt, aber sie hat innerhalb desselben ihre raschesten Fortschritte, ihre größte Ausdehnung. Man wird sich erinnern müssen, daß keineswegs Griechenland und Makedonien allein die Kolonisten zu allen jenen Ansiedlungen hergab; ich spreche hier nicht von den ethnischen Beimischungen; auch die Küsten des Pontos, die Westküste Kleinasiens, die Pentapolis, die Inseln, das italische und sizilische Griechentum gab reichliche Beisteuer. Entvölkerten sich jene Bereiche, um den Süden und Osten zu füllen98? Mag der erste Moment jener neuen Richtungen mechanisch auf die Populationsverhältnisse daheim gewirkt haben, in der Natur menschlicher Verhältnisse liegt es, daß nicht die Übersiedlung der Grund für die wachsende Entvölkerung sein konnte, die man in gewissen Gebieten des europäischen Griechentums beobachten zu können glaubt; Athen seit Demosthenes sank wie Lübeck seit dem großartigeren Jürgen Wullenweber; die Veränderung der politischen, merkantilen, geistigen Schwerpunkte einer unendlich erweiterten Welt ließen Griechenland verkommen und mochten fortdauernde Auswanderung motivieren; wenigstens verhandelt, wie von gewissen deutschen Fürsten des vorigen Jahrhunderts die getreuen Untertanen, wurden griechische Männer nicht an kolonisierende Mächte. Von den alten Küstenstädten Kleinasiens wird man behaupten dürfen, daß ihnen seit Alexander eine neue Blüte begann. Die reichsten Werbeplätze zu Auswanderungen mochten Sizilien und Italien bieten; es scheint die Gleichzeitigkeit des Pyrrhischen, des ersten Punischen Krieges mit den raschen Fortschritten der Kolonisation von Bedeutung[431] zu sein. Doch ich verlasse diese Fragen, da auch nicht die geringsten Vorlagen zu einer spezielleren Betrachtung vorhanden sind. Nur wird man überall unendlich weitere und bedeutendere Beziehungen voraussetzen müssen, als in der jammervollen Dürftigkeit der vorhandenen Überlieferung bezeichnet erscheinen; wer sich nicht dazu erheben kann, in dem einzelnen Faktum die Pyramide von Bedingungen, welche es gipfeln, in zufälligen Notizen das Netz von Zusammenhängen und Voraussetzungen, in welches sie gehören, zu erkennen, wem die Geschichte nichts weiter ist als ein Mosaik von Stellen aus den respektiven Autoren, dem bleibt sie stumm, unfruchtbar, ein totes Gerippe.

Oben ist bezeichnet worden, wie schnell sich diese Kolonien festwurzelten, wie kräftig sie selbst inmitten schwierigster Verhältnisse überdauerten. Worin beruhte diese ihre Lebenskraft? Ich meine, diese Frage aufzuwerfen ist nicht allein von wissenschaftlichem Interesse, sondern für eine der großartigsten Aufgaben der Gegenwart um so wichtiger, je weniger die für dieselben notwendigen Mittel bisher erkannt und vorbereitet sind. Ich habe hier nicht die trostlosen Mißgestalten der Kolonialsysteme, in denen sich die christlichen Völker Europas seit drei Jahrhunderten versucht haben, darzustellen; hervorgegangen aus dem katholischen Stolz der Spanier und dem unsäglich verderblichen monarchisch-merkantilen System Karls V. – selbst die englische Weise bis zu der neuerdings aufgebrachten Lehre von den halbkolonialen Ländern hinab ist weit davon entfernt, eine Ausnahme zu machen –, haben sie den gemeinsamen Grundfehler, daß die Kolonien nur um des Mutterlandes willen da sein, demselben untertänig bleiben sollen; was kann bezeichnender sein als Lord Chathams Wort im Anfang des nordamerikanischen Krieges: »Es ist kein noch so armseliger Bettler in den Straßen Londons, der nicht mit Stolz von ›unseren amerikanischen Untertanen‹ spräche. «Da gilt es denn, solchen Kolonien jede politische, kommerzielle, industrielle Selbständigkeit möglichst vorzuenthalten, von ihnen möglichst allen Vorteil zu ziehen, auf ihre Förderung nicht mehr zu verwenden, als zum Besten des habgierigen Mutterlandes förderlich ist; das Mutterland fabriziert für sie und erhält seine Reederei auf ihre Kosten, das Mutterland allein verschifft ihre Produkte und macht die Preise zu eigenem Gewinn, an dem die Produzenten möglichst wenig Anteil erhalten. Von dieser Weise macht Rußland insofern eine Ausnahme, als es den Begriff des Mutterlandes aufgibt und sich begnügt, durch den weiteren Bereich seiner Herrschaft die Population zu mehren, den Anbau zu fördern und die verschiedenen Völker zur russischen Nationalität und der griechischen Religion zu bekehren: Tendenzen, die in gewissem Betracht der Entwicklung des römischen Systems nicht unähnlich sind. Die hellenistischen Kolonien scheinen überwiegend[432] einen von beiden abweichenden Charakter zu haben, wie denn der Gründer dieses in der Tat grandiosen Systems von der Aufhebung des Unterschiedes zwischen Siegern und Besiegten, von dem Prinzip wahrhafter Ausgleichung und Verschmelzung aus ging. Es treten hier besonders zwei Momente hervor, das eine analog mit dem Wesentlichen der älteren griechischen Gründungen, das zweite durch den veränderten Charakter der Zeit gegeben.

Die älteren griechischen Kolonien waren mehr oder weniger ausschließlich von einer bestimmten Mutterstadt ausgesandt oder ausgegangen; sie blieben mit derselben in gewissen Beziehungen der Pietät, der rechtlichen und religiösen Institute usw., sie waren in politischer Beziehung selbständig gegen sie, freie, autonome Politien99. In den neuen Gründungen hörten auch diese lockeren Beziehungen zu einer Mutterstadt auf; in den meisten war die Bürgerschaft, von den nichtgriechischen Elementen abgesehen, offenbar aus Ansiedlern verschiedener griechischer Stämme gemischt; weder im Religiösen noch in den städtischen Einrichtungen mochte man die Formen eines bestimmten Lokals herübernehmen; und je freier, rationeller, allgemeiner man sich verhielt, desto leichter war es, sich den örtlichen Bedingungen der neuen Heimat, der man sich rückhaltslos hingab, sich den Nichtgriechen, die in das Bürgertum aufgenommen wurden, zu assimilieren, desto freier zugleich konnte man die Sprache und Bildung des Griechentums und vor allem den Kern des elastischen griechischen Wesens, eben das Bürgertum in der städtischen Politie, festhalten. Wir glaubten zu erkennen, daß eben dies der Charakter der hellenistischen Gründungen war, Politien zu sein, wenn auch nicht in der souveränen Weise, wie sie die kleinen Stadtrepubliken früherer Zeit behauptet oder doch in Anspruch genommen hatten, so doch in kommunaler Selbständigkeit, gleichsam mit den Privilegien reichsstädtischer Freiheit, mit dem Recht der Waffen, dem Münzrecht, dem Gerichtsbann, der Selbstverwaltung usw. Alexander gewiß hat seine Gründungen auf diese Weise ausgestattet; die Lagiden scheinen, wenigstens in Ägypten, minder glänzende Privilegien gewährt zu haben; desto reicher scheint die größte Masse der neuen Städte, die im Seleukidenreich, mit recht eigentlich reichsstädtischen Freiheiten ausgestattet worden zu sein; konnten sich doch einzelne derselben, so Seleukeia am Tigris, mit dem Sinken des Reiches in republikanischer Unabhängigkeit behaupten, wie denn überhaupt – die Städte Kleinasiens bieten mehrere Beispiele – der Übergang[433] aus diesem gleichsam reichsstädtischen Verhältnis zur völligen Selbständigkeit überaus leicht war. Ein so geordnetes und in sich selbständiges Bürgertum allein war imstande, den Absichten der Gründer zu entsprechen; welche Wirkungen Kolonien von städtischer Selbständigkeit zu erzielen vermögen, davon gibt die Germanisierung slawischer Länder eine glänzende Reihe von Beispielen.

Es ist meine Meinung nicht, die ganze Eigentümlichkeit der in Frage stehenden Erscheinungen damit erklärt zu haben; das Verhältnis der geistigen Entwicklung im Griechentum zu der ethnischen ist am Ende doch das Wesentlichste. Aber sie bedurfte eines Vehikels, einer festen Form, in der sie sich darstellen und kraft deren sie wirken konnte; und eben dies, meine ich, leistete das städtische Gemeinwesen.

Doch genug dieser Aphorismen. Mögen sie dazu dienen, den Leser zu erinnern, daß in den Vorgängen der hellenistischen Zeit auch nach dieser Seite hin mehr als Nahrung für den geschäftigen Müßiggang der Gelehrsamkeit zu suchen ist. Nicht etwa so, daß sie ein höheres Interesse für uns durch den etwaigen Nutzen erhalten soll, den sie unserer Zeit durch ihr Beispiel gewähren könnte; sondern ihre historische Rechtfertigung ist es, wenn wir nachweisen, an welchen großen Aufgaben der Menschheit, mit welchen Kräften, welchen Erfolgen sie mitgearbeitet hat; wir gewinnen für sie eine unmittelbare und lebendige Beziehung zur Gegenwart selbst, wenn wir ihr im Gesamtverlauf der geschichtlichen Entwicklung, in dem gemeinsamen geschichtlichen Tagewerk der Menschheit ihre Stelle vindizieren.[434]


Quelle:
Johann Gustav Droysen: Geschichte des Hellenismus. Tübingen 1952/1953, Band 3.
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