2. Dob Beer (Berusch) von Mizricz.

[572] Von Beers Antezedentien ist gar nichts bekannt, wenn man nicht den abgeschmackten Fabeleien der chaßidäischen Quellen Glauben schenken will. Aber das kann man ihnen glauben, daß er mit Israel Baalschem erst kurz [572] vor des letzteren Tode Bekanntschaft gemacht hat und in dessen Kreis gekommen ist. I. 4, p. 20: רעב בוד 'ר ברהל הרותה יללכ ט"שעבד רסמ וימי ףוסבלו שטירזעממ. Die Dauer seiner Häuptlingsschaft läßt sich genau bestimmen. Beer starb innerhalb des Jahres, in dem von Wilna aus der Bann über die Sekte ausgesprochen wurde. Der Bannspruch erfolgte Nissan 1772, und Beers Todestag setzten seine Verehrer auf den 8. Kislew = 4. Dezember; folglich starb Beer von Mizricz Ende dieses Jahres. Handschriftliche Quelle II, 3, Bl. 175: הילא ‘ר) םיקנעב לודגה םדא לכמ םכחה ‘ר תמ איהה הנשבש םשור השע ומרחו ,ב"לקת תנשב...(אנליו התע דעו זאמ רכוז ינא רשאכ שדוח ב"י ךות רשטירזעמ שורעב. Beer fungierte demnach von 1759-1772. Seinen Charakter schildert uns Maimon drastisch, der einige Wochen in dessen Konventikel zugebracht hat (p. 231 ff.) »Endlich kam ich glücklich in M[izricz] an ... [ich] ging nach dem Hause des hohen Obren B[eer], in der Meinung, ihm gleich vorgestellt werden zu können. Aber man sagte mir, daß er mich noch nicht sprechen könne, daß ich aber auf den Sabbath mit den anderen Fremden, die ihn zu besuchen hierher gekommen wären, bei ihm zu Tisch invitiert sey; bey welcher Gelegenheit ich das Glück haben würde, diesen heiligen Mann von Angesicht zu Angesicht zu sehen ... Ich kam also am Sabbath zu diesem feyerlichen Mahle und fand da eine große Anzahl ehrwürdiger Männer ... Endlich erschien auch der große Mann in einer ehrfurchteinflößenden Gestalt, in weißen Atlas gekleidet. Sogar seine Schuhe und Tabaksdose waren weiß ... Nachdem man abgespeiset hatte, stimmte der Obere eine feierliche, den Geist erhebende Melodie an, hielt einige Zeit die Hand auf die Stirne und fing darauf an zu rufen: »Z. aus H.! M. aus R.! S. M. aus N.! [Salomon Maimon aus Nieszwisz] usw., alle Neuangekommenen bey ihren Namen und den Namen ihrer Wohnörter, worüber wir nicht wenig erstaunten. Jeder von uns sollte irgendeinen Vers aus der heiligen Schrift hersagen ... Darauf fing der hohe Obere an eine Predigt zu halten, der die besagten Verse zum Texte dienen mußten, so daß, obschon es aus ganz verschiedenen Büchern der heiligen Schrift hergenommene unzusammenhängende Verse waren, er sie dennoch mit einer solchen Kunst verband, als wenn sie ein einziges Ganzes wären, und, was noch sonderbarer war, jeder der Neuangekommenen glaubte in dem Theile der Predigt, der auf seynem Verse beruhte, etwas zu finden, das sich besonders auf seine individuellen Herzensangelegenheiten beziehe. Wir gerieten also darüber in die größte Verwunderung. Es dauerte aber nicht lange, so fing ich schon an von der hohen Meinung gegen diesen Obern und die ganze Gesellschaft überhaupt nachzulassen ... Ihre sogenannten Wunderwerke ließen sich ziemlich natürlich erklären. Durch Correspondenzen, Spione und einen gewissen Grad von Menschenkenntniß, wodurch sie, vermittelst der Physiognomik und geschickt angebrachter Fragen, indirekte die Geheimnisse des Herzens herauszulocken wußten, brachten sie sich bey diesen einfältigen Menschen den Ruf zuwege, daß sie prophetische Eingebungen hätten. So mißfiel mir auch die ganze Gesellschaft nicht wenig wegen ihres zynischen Wesens und ihrer Ausschweifung in der Fröhlichkeit.« Maimon erzählt darauf eine Anekdote, wie einst ein Mitglied zu spät beim Gebet bei dem Obern [Beer] eingetroffen sei, weil seine Frau mit einem Mädchen niedergekommen war. Während die Anwesenden ihm lärmend gratulierten, trat Beer aus seinem Kabinet und sprach die Worte: [573] »Ein Mädchen! Er soll ausgepeitscht werden.« Nachdem die Gesellschaft über den Vater hergefallen war und sich durch knabenhafte Balgerei in eine lustige Laune gebracht hatte, rief der Obere plötzlich: »Nun, Brüder, dienet Gott mit Freuden.«

Eine ähnliche Schilderung von demselben gibt die Quelle II, 1, p. 6 b ff. Denn da diese polemische Schrift 1772 gedruckt wurde, als Beer Mizricz noch lebte, so kann sich das daselbst von dem Oberhaupte Ausgesagte nur auf denselben beziehen: םהבש לודגה ךרוע ולדגב שעיו...םישפטהו םילכסה...להני תולע (םידיסחב) ורישיו וירבדב ונימאי ןעמל ,דחושה ןח ןבא ,דחא לכ ינפל ןחלש ולוק ןתונ םהבש לודגהו... היאנ והארמו ברע ולוקו... ותלהת ,ובוטמ ריבשמה אוהו... ול לעממ םידמוע םלוכו ,וליח ינפל לכלכ האלי םא ךא .ובורק םע םיליסכה תרבח לכל ראש ןיכהל ונינק הנקמו ופסכ םתי יזא... ונוד וזזובו ונחלש ילכא םיבר יכ... םדירחהל ,םתיבב רשועו ןוה רשא ונוממ ילעבב ויניע ןתי... שוחי ול ןימאמה...םימשה ןמ השק תוזח ול דגוה יכ .םתיעבהלו רוע ול תויהל והחטבמ ירמא בישי אוה זאו...הלחלח וינתמ אלמיו כלכ ןילוחל אצוי ןוידפהו...החורל הרצמ אצו ךנוידפ ןת...וירצמ ימי עיגהבו...םיריזנהו םישורפה תדעו ןילואש ןבל ילכב םיאצויה ,ינש ישמחו ינש תינעתבו...םינדעמל םילכוא םה...הבושתה .'וכו ינא שלח רובגה ורמאי10

Zwei zeitgenössische Zeugen sagen demnach übereinstimmend aus, daß Beer Mizricz Humbug getrieben hat. Bei seinen Vorgängern herrschte noch Naivität, bei ihm war alles Berechnung. – Beer war jenen aber an Wissen weit überlegen; er war von Hause aus Prediger in Mizricz und Rowno: ץטירזעממ דיגמה ענווארו. Er war in den Talmud, den Sohar und in die kabbalistische Literatur eingelesen. Indessen beschäftigte er sich keineswegs mit diesem Lehrfach, mit der Auslegung der Kabbala, es sei denn insoweit, als er es für seine Predigten verwenden konnte. Die handschriftliche Quelle tradiert Bl. 174: לודגמ יתעמש ןכו בושטידראבמ בוחלעז קחצי יול) תאזה תכה לכ לש ןבר םהבש י"ראה יבתכ האר אלש ח"לקת תנשב יל רמא (יול תשודק לעב רתוי ש"ביר דימלת שירעב ‘ר ובר לצא ותויה םוימ דמל אלו הטועמ ותעידי יכ יתיארו המכחה ונינעב ויתלאשו םינש ב"ימ. [D. Cahana will die Stelle anders verstehen, a.a.O. S. 634, N. 1]. Die Gebetreform, Abschaffung der Piutim, Einführung des Lurjanischen Gebetbuches und das Tragen von weißen Kleidern11 rührte von Beer Mizricz her; denn erst zu seiner Zeit erhob sich der Sturm gegen diese Neuerung, wie aus der Quelle II, 1, hervorgeht, vgl. auch Quelle I, 3, erster Teil, in dem der Chaßidäer die Berechtigung dieser Reform verteidigt. Auch die paradoxe Albernheit [574] von der Notwendigkeit feingeschliffener Schlachtmesser, der sogenannten Ukrainer םיפלח, stammt wohl aus Beers Regiment. So wird im Brodyer Bann von 1772 als Anklagepunkt aufgestellt (II, 1, p. 34): םיפלח ךיז ןיכאמ דומלתה לכב דניפג טינ ןמ סאוו יטאלג ןפילשג אקוד הטיחשל םיקסיפה לכו. Dieser Blödsinn hat am meisten zur Spaltung beigetragen, indem die Chaßidäer das von den Gegnern Geschlachtete nicht genießen mochten und umgekehrt. In ן"רהמ יתוקל II, p. 33 von Nachmann Baraslow (Beschts Enkel) wird dieser Blödsinn kabbalistisch gerechtfertigt. In der Handschrift (Anfang) wird über eine Eigenheit der Chaßidäer geklagt: ונכ ,תורועהו תובחסה יולבמ ,תורוגח םהל ושעו םידיסח םשב םמצע להקמ םילדבומ ,ןפכלו דושל ,ןפשו תבנרא תוצונו ,ןפג רמצמ וא הליפתה תונשל ,הלע ואצמו... לארשי. Jenes pantheistisch-gemeine Dogma, daß die Gottheit sich in allem, also auch in den niedrigsten Beschäftigungen offenbare: שי רבדו רבד לכב יכ הינימ יונפ רתא תיל ודובכ ץראה לכ אלמ ארובה תויח, und die Konsequenz: רובדו העונת ךל ןיא יכ תוליטב תוחישב וליפא ומש דוחי לע הרומ וניאש המ חכו, das in den chaßidäischen Schriften so oft vorkommt, wird in I, 4, p. 12b mit Recht auf Beer Mizricz zurückgeführt. Es kommt oft in dessen םירמא יטוקל vor, vgl. das. p. 7b: הליכא ומכ תוימשג וליפא ןישועש םירבדה לכמ יכ תושודקה ןיצוצינ ןילעמ. Mit Recht betrachtete Elia Wilna diesen Satz als bare Ketzerei und verdammte darum die Chaßidäer und ihre Schriften (s. Finn, הנמאנ הירק p. 141, Note). Selbst seinen Hochmut wußte Beer kabbalistisch zu illustrieren (ש"ביר תאוצ, p. 12 b): הרותה דובכ םושמ םדא ינבל תוהבג תוארהל ךירצ םימעפל; vgl. םירקי יטוקל (Seitenzahl läßt sich nicht angeben): קידצ תמאב אוהש (לידנעמ םחנמ ‘ר לע) םיגיעלמה םירמוא ויה דיגמה ברה לע םירמוא המודכו לודג הואג לעב אוה לבא. [Wie D. Cahana a.a.O. 635, A. 3, richtig bemerkt, bezieht sich jedoch die letztere Äußerung nicht auf R. Beer von Mizricz, sondern vielmehr auf den Maggid R. Jechiel Michel. Hiernach ist auch die Darstellung oben S. 103 zu modifizieren.]

Die Scheidung zwischen den beiden Chaßidäergruppen: Mizriczer und Karliner, ist noch bei Beers Lebenszeit vor sich gegangen. Sie kommt schon in dem Sendschreiben aus Wilna, d.d. Siwan 1772, vor (II, 1, p. 10 a): םשב םיארקנ רשא אנדיאה ןמזב ידיסח רנילרקו רשטירזעמ. Die Karliner drangen in Litauen ein, wie aus derselben Quelle hervorgeht. (אנליוב) קספ היהו רנילרק לש ןינמה רזפלו שרגל. Bei Salomon Maimon (a.a.O. S. 212) bedeutet die Abbreviatur: »Man wallfahrtete nach K. M.« nach Karlin, Mizricz. Ungenau ist die Nachricht bei Grégoire (a.a.O. p. 322): Chassidim, appelés aussi Carolins en Lithuanie, du nom d'un village nommé Carolin, non loin de Pinsko, où la secte a pris naissance. Wahrscheinlich hat ןורהא ןילרקמ diese Gruppe in seinem Städtchen gegründet (vgl. I, 4, p. 18 und I, 5, א 101, s.v. ןילרק ןורהא).

Über den ersten Bann gegen die Chaßidäer in Wilna und Brody, die sich von Sklow und Minsk dahin verbreitet haben, gibt die Quelle II, 1, Aufschluß. Ihre Verfolgung begann ב"לקת חספ מ"החב und zog sich bis Siwan des folgenden Jahres hin (Ms. aus dem Wilnaer Gemeindearchiv ausgezogen: ודקש רבכו ידיגנ ינזור ה"ה ג"לקתו ב"לקת תנשב הזה תוועה ןקתל םימכח אטילד תונושארה תוליהק שמח). Ich weiß nicht, wie Finn dazu kam, den ersten Bann aus Wilna 1777 zu datieren (das. p. 138, 139 [575] Note.) – Als Hauptanklagepunkt wird in allen Formeln hervorgehoben, daß sie die Rabbinen verspotten: השודקה הרות ידמול ןיזבמ oder ומל תוברח םינוב םה יכ (ןיפירחה הרותה ילעב לע) ירמאי. Es fehlt in der Tat nicht in den chaßidäischen Schriften an Ausfällen gegen die Talmudisten, vgl. Jakob Joseph Kohen, ףסוי בקעי תודלות, p. 5: ארפס דמל וליפא אנוש לאמס... ןדמל ארקנ קר םכח ראותב וניא ס"שה לכו ירפסו ול שי אברדא ןיאדוהי ןידש םימכח ידימלת לבא ןנברו םיקידצ ותמשנ קלח אוה יכ םהמע קובדו בוריק. Nachmans יטוקל ן"רהמ sind voll von diesen verächtlichen Spitznamen, welche die Chaßidäer den Rabbinen angehängt haben, z.B. p. 10d: ךותב האב פ"עבש הרות 'ארקנה הניכשהשכו רבדל הפ ול שי זאו הניכשה תולג ארקנ הז ידוהי דש םכח דימלת קתע קידצ לע. Interessant ist, was Quelle I, 4, p. 21 von Löb Szerham tradiert, wie dieser sich wegwerfend über das ganze Talmudstudium ausgesprochen hat: םירמואש הז המ הרות םירמואש םינברה לע רמוא היה אוה היהי ויתוגהנהו ויתוישע לכש םדאה חיגשיו הארי אלה ?הרות עומשל אל שטירזעממ בוד דיגמה ברה תיבל יתעיסנ... הרות .םרשוק ךיאו ויתואלפנא טשופ ךיא תוארל םא יכ ונממ הרות

Die Unfehlbarkeit des קידצ, wie sie Maimon und Calmanson schildern, kommt natürlich in den ältesten chaßidäischen Schriften vor, namentlich von Beer Mizricz (םירמא יתוקל, p. 36): לכ םירשקתמ ודי לע קידצ בוט ארקנ אוהו תומלועה.

Über Beers Jünger s. Quelle I, 4. Die Bekanntschaft mit seinen Nachkommen ist wichtig, weil sie noch heute über die Chaßidäer herrschen (das. p. 13 b und die Artikel in Quelle I, 5).

Ihr Stammbaum ist folgender:


שטירזעממ רעב בוד

|

ךאלמ םהרבא

(lebte noch zur Zeit des Einzuges der Franzosen in Moskau 1812)

(םידיסח להק p. 44a)

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אנכש םולש

|

ןיזורמ לארשי

(aus Rußland entflohen nach Sadagura [Bukowina], st. 1850)

|

בקעי םהרבא

(jetzt noch [?] Oberhaupt in Sadagura).


Der Bruder des jetzt [1896] regierenden Sadagurer »Rebben« Abraham Jakob, namens Dob Beer Friedmann, hat im Jahre 1868 eine Skandalgeschichte veranlaßt; es hieß, er wolle sich taufen lassen. Er wurde von den Seinigen aus der Moldau nach Sadagura entführt, dann in Czernowitz untergebracht, erließ ein Rechtfertigungsschreiben und ward wieder ein Chaßid-Rebbe. Die Geschichte ist noch dunkel.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1900], Band 11, S. 572-576.
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