Die ältesten Epochen. Die Kultur der paläolithischen Zeit

[937] 596. Jenseits dieses Zeitraums liegt die unendlich lange Epoche, in der der Mensch, dasjenige Wesen, das wir vom Standpunkt der abgeschlossenen Entwicklung aus mit diesem Namen bezeichnen, noch nicht existierte, sondern erst wurde, sich aus anderen organischen Wesen herausbildete. Innerhalb dieser langen Entwicklungsreihe einen Zeitpunkt zu bestimmen, von dem an wir den Gattungsbegriff in dem Sinne anwenden können, den wir jetzt damit verbinden, ist bekanntlich völlig unmöglich. Die nächsten, Jahrtausende umfassenden Vorstufen der um 5000 v. Chr. erreichten Entwicklung wird man noch ganz unbedenklich als Menschen bezeichnen; je weiter wir hinaufsteigen, desto schwankender wird unsere Auffassung werden. Man kann bestimmte, besonders charakteristische Errungenschaften, etwa die Bändigung und Verwertung des Feuers, als das entscheidende Moment betrachten oder aber die Sprachschöpfung etwa von dem Momente an, wo sie zur Satzbildung fortgeschritten ist und damit für das Denken einen formulierten Ausdruck gewonnen hat; indessen keine dieser Errungenschaften ist ein einmaliger Akt, sondern vielmehr ein unendlich langer, in vielen Stadien verlaufender Entwicklungsprozeß. Und nicht anders liegt es, wenn man physische Merkmale erwählt, den aufrechten Gang, die Ausbildung der Hand, den Verlust der Behaarung, die Entwicklung des Gehirns; in Wirklichkeit gehen alle diese Dinge zusammen und stehen in fortwährender Wechselwirkung, und [937] sind andrerseits nur die äußere Erscheinungsform der gleichzeitigen geistigen Entwicklung, wie denn Ausbildung der Großhirnrinde, Schöpfung der Sprache und Entwicklung des formulierten Denkens absolut identische Vorgänge sind.

597. Nun gibt es allerdings eine Erscheinung, welche diese kontinuierliche Linie durchkreuzt: das ist die Kultur der jüngeren paläolithischen Zeit, die uns vor allem in denjenigen Höhlenfunden Frankreichs und Spaniens entgegentritt, die wir der Epoche des Magdalénien und seiner Vorstufen (Aurignacien und Solutréen) zurechnen (vgl. §§ 143 A. 530). Hier handelt es sich zweifellos um eine Kultur, die den bereits ausgebildeten Menschen voraussetzt; die künstlerischen Erzeugnisse, welche diese Epoche hinterlassen hat, haben-in scharfem Gegensatz zu den inzwischen gemachten technischen Fortschritten-in der ganzen neolithischen Zeit nicht ihresgleichen, erst die hochentwickelte Kultur des Alten Reichs in Aegypten, des Reichs von Akkad in Babylonien, der Blütezeit Kretas hat ihnen ebenbürtige Schöpfungen zur Seite zu setzen. Nach den geologischen Autoritäten ist das Magdalénien, durch eine weite Kluft von dem neolithischen Zeitalter getrennt, in eine sehr frühe Zeit zu setzen; der Abstand von der Gegenwart wird von ihnen auf 15000 bis 20000 Jahre und mehr geschätzt. Der Historiker hat kein Mittel, um hier nachzuprüfen; ihm bleibt nichts übrig, als anzunehmen, was ihm von autoritativer Seite geboten wird, so sehr sein Empfinden sich dagegen sträuben mag. Aber auch wenn sich hier in Zukunft noch Verschiebungen ergeben sollten, so kann doch kein Zweifel sein, daß die Kultur des Magdalénien von der der neolithischen Zeit vollkommen geschieden ist und diese nicht etwa sie fortsetzt, wenn auch einzelne technische Errungenschaften in der Bearbeitung des Steins und Knochens und in der ganz primitiven Ornamentik der folgenden Zeit (vgl. § 531) sich über die Katastrophe dieser Kultur hinaus in die folgenden Epochen erhalten haben. Da die Verfertiger der Schnitzereien aus Renntierhorn und Mammutzahn, der Zeichnungen auf Stein, [938] der Wandmalereien in den Höhlen des Magdalénien bereits Menschen in unserem Sinne gewesen sind, haben wir es hier mit einem bedeutsamen Ansatz zu höherer Kultur bei einem weit über die anderen hinausgeschrittenen Zweige der menschlichen Wesen zu tun, der dann aber jäh abgebrochen ist, vielleicht durch eine äußere Katastrophe. Vielleicht darf man vermuten, daß eben der Umstand den Untergang herbeigeführt hat, daß die hier hervortretenden Ansätze zu einer höheren geistigen Entwicklung nicht von einer parallelen Fortbildung der materiellen Kultur begleitet waren, sondern Werkzeuge und Geräte auf sehr primitiver Stufe stehen blieben: die Bevölkerung war noch nicht Herr der Natur geworden und deshalb unfähig, einer hereinbrechenden äußeren Katastrophe zu widerstehen. Erst die folgende neolithische Epoche, der ja auch die älteste Entwicklung Aegyptens und aller anderen Kulturvölker angehört, ist hier weiter vorgeschritten: materiell sind die Verfertiger der steinernen Waffen und Werkzeuge dieser Zeit den Menschen des Magdalénien weit überlegen, sie haben gelernt, den Ton zu bearbeiten und sind offenbar auch mit dem Feuer viel vertrauter geworden, ihre Wohnungseinrichtung, so primitiv sie noch war, wird gegen die der paläolithischen Zeit einen bedeutenden Fortschritt bezeichnet haben: so vermochten sie sich im Kampf ums Dasein zu behaupten. Diesen materiellen Fortschritten, neben denen man sich eine weitere Ausbildung der Sprache, der sozialen und rechtlichen Ordnungen u.ä. einhergehend denken mag, steht der gewaltige Rückgang an künstlerischem Empfinden gegenüber; aber das war ein Verlust, der sich ausgleichen ließ und ausgeglichen hat, nachdem die materielle Grundlage für eine gesicherte Existenz geschaffen war.


Das reiche Material für die paläolithische Zeit liegt jetzt sorgfältig geordnet, zunächst für Frankreich, aber mit Heranziehung der übrigen europaeischen Länder, bei J. DÉCHELETTE, Manuel d'archéologie préhistorique celtique et gallo-romaine I, 1908, vor. [Das Material mehrt sich ständig; s.z.B. DÉCHELETTE in der Praehistorischen Zeitschr. II, 202ff. Für Deutschland R. R. SCHMIDT, Die diluviale Vorzeit Deutschlands, 1912, mit Tafeln und umfassendem Literaturverzeichnis.] Mit [939] Recht hat man zum Vergleich der Schnitzereien und Höhlenmalereien der entwickelten paläolithischen Zeit die gleichartigen Zeichnungen von Naturvölkern, vor allem die der Buschmänner (s. die Publikation zahlreicher Buschmannmalereien in den Drakensbergen durch v. LUSCHAN, Z. f. Ethnologie 40, 1908, 665ff.) herangezogen; deren Zuständen und Lebensformen werden wir uns in der Tat die der Menschen der Magdalénien ähnlich zu denken haben. Für völlig verkehrt aber halte ich die weitverbreitete Auffassung, daß gegenüber der getreuen und oft ganz überraschend lebenswahren Nachbildung der Natur in ihren Schnitzereien und Zeichnungen (die man hier geringschätzig als Naturalismus bezeichnet) der »Symbolismus« der folgenden Zeiten (Azilien, Kjökkenmöddinger) einen Fortschritt bedeute [so z.B. auch GROSSE, Die Anfänge der Kunst, 1894]; die äußerst primitiven Ansätze zu einer Dekoration, die sich in dieser ganz langsam zu etwas reicherer Verzierung der Gefäße und Knochengeräte entwickeln, und die ganz rohen (und nur sehr sporadischen) Menschen- und Tierfiguren der gesamten neolithischen Zeit stehen künstlerisch tief unter denen des Magdalénien.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 937-940.
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