Orchomenos und die Minyer. Thessalien, Euboea

und Athen. Die Kykladen

[259] Der Norden Boeotiens ist eine fruchtbare Ebene, die vom Kephissos und seinen zahlreichen Nebenflüssen durchströmt wird; durch das Gebirge, das ihm im Osten den Zugang zum Meer sperrt, hat er sich an zahlreichen (23) Stellen durch unterirdische Spalten (Katabothren) einen Abfluß geschaffen. Etwa seit dem Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. sind diese verstopft und dadurch das Kulturland weithin in einen Schilfsee von wechselnder Ausdehnung, den Kopaissee, verwandelt; erst im Jahre 1892 sind die Wasser abgeleitet und das ganze Gebiet trocken gelegt worden. Dabei sind die großen Dämme aus kyklopischen Steinblöcken zutage getreten, mit denen in der mykenischen Epoche die Flußläufe eingedeicht, das Wasser auf die Felder verteilt und zu den Katabothren geleitet war502. Zwischen ihnen liegt im Osten, im »athamantischen Gefilde«, auf einem niedrigen Felsplateau, ähnlich dem von Tiryns, nur viel umfangreicher, umschlossen von einer gewaltigen kyklopischen Mauer eine starke Festung, mit zwei Haupt- und zwei Nebentoren. An der Nordseite liegen die Fundamente eines Palastes, der aus zwei rechtwinklig zusammenstoßenden, je etwa 60 Meter langen Flügeln besteht, in denen sich an langgestreckte Korridore die Flucht der Zimmer reiht. In der Mitte der Insel liegt ein großer Hof, der als Wohnstätte für das Gesinde und Sammelplatz für die Mannschaft gedient haben mag. Weitere Gebäudereste haben sich nicht gefunden; so mag die Stadt, die vielleicht dem homerischen Arne entspricht503, früh verlassen [259] und vielleicht niemals voll ausgebaut worden sein. Aber die Herrscher, die sie erbaut haben, müssen weithin über das umliegende Land geboten haben; die Verbindung mit dem Meer und der Hafenbucht Larymna sowie mit Anthedon ist durch Kastelle auf den Berghöhen gesichert.

Am Westrande der Ebene, am Ausläufer eines langgestreckten Höhenrückens, liegt die Stadt Orchomenos, an einer Stätte, an der die Schichten der älteren Ansiedlungen bis tief in die neolithische Zeit des 3. Jahrtausends hinein, die runden und ovalen Hütten der vorgriechischen Bevölkerung und darüber die rechteckigen Häuser der eindringenden Griechen mit den Hockergräbern und den wechselnden Formen der Tongefäße besonders reich erhalten sind (Bd. I, 509. 526). Darüber liegen die Häuser der mykenischen Stadt, mit dürftigen Überresten der Wandmalereien des Palastes, die stilistisch denen des jüngeren Palastes von Tiryns entsprechen, also wohl rund um 1300 anzusetzen sind504. Dazu gehört ein gewaltiges Kuppelgrab, das in Bauart und Dimensionen dem des Atreus ebenbürtig zur Seite steht, es aber noch übertrifft durch die prachtvolle skulpierte Decke der Grabkammer, deren Ornamentik – Spiralbänder mit Blüten in den Zwickeln, dazu eine Umrahmung durch Rosetten – ebenso in den Wandgemälden von Tiryns wie in den Deckengemälden [260] ägyptischer Gräber aus der achtzehnten und neunzehnten Dynastie wiederkehrt.

Der Ruhm des Reichtums von Orchomenos ist lange lebendig geblieben (II. I 381). Wie es sich zu der Festung im Kopaissee verhalten haben mag, ist nicht zu ermitteln. Vielleicht hat ein König von Orchomenos einmal seinen Sitz hierher verlegt, auf die Felsenburg näher dem Meer; denn daß hier jemals zwei Reiche nebeneinander bestanden haben sollten, ist höchst unwahrscheinlich505. Die Sage, daß König Erginos von Orchomenos die Thebaner besiegt und tributpflichtig gemacht habe, mag eine richtige Tradition von der alten Machtstellung dieses Reichs enthalten506; wenn aber weiter erzählt wird, Herakles habe dann den Erginos besiegt und Orchomenos den Thebanern unterworfen, so ist das ein Reflex der Aufrichtung der Suprematie Thebens über das inzwischen gleichfalls boeotisch gewordene Orchomenos507. Dieser Niedergang der ehemals so mächtigen Stadt ist wesentlich befördert durch Verstopfung der Katabothren und die Entstehung des großen Schilfsees, der den größten Teil des alten Ackerbodens der Bebauung entzog508. Durch diese Schicksale [261] der Stadt erklärt es sich, daß Orchomenos, ganz anders als Theben, auf die Gestaltung der Epen und der Sagengeschichte keinen Einfluß geübt hat509.

Als ständigen Beinamen führt Orchomenos den Beinamen »die Minyerstadt«, Ὀρχομενὸς Μινύειος; das Kuppelgrab gilt daher als »Schatzhaus« seines Eponymen Minyas. Dadurch ist uns der Name des hier ansässigen Volksstammes erhalten. Wie weit er sich ausgedehnt haben mag, wissen wir nicht. In nachhomerischer Zeit ist der Name dann auf die Argonauten übertragen worden, die aus dem thessalischen Hafenort Iolkos ausziehen, wie denn die spätere Sage thessalische und boeotische Gestalten durchweg durcheinanderwirft510; dadurch, daß man dann überall, wo Geschlechter und Volksstämme sich für Nachkommen der Argonauten ausgaben511, [262] diese zugleich als Minyer bezeichnete, ist der Schein entstanden, als seien die Minyer ehemals ein weithin über die griechische Welt verbreitetes Volk gewesen, das sich, wenngleich unter anderem Namen, auch noch in historischer Zeit erhalten habe.

Die Vermischung thessalischer und boeotischer Sagen ist umso begreiflicher, da beide Landschaften ursprünglich dialektisch eine Einheit gebildet haben, gewiß mit Einschluß des dazwischen liegenden Gebiets. Von hier sind dann die Kolonisten ausgegangen, welche Lesbos und die gegenüberliegende Küste besiedelt und die Sagen und Kulte der Heimat mit hinübergenommen und weiter ausgebildet haben. Wir dürfen die große Volksgruppe, die uns hier erkennbar wird, wohl unter dem Namen Aeoler zusammenfassen, mit dem diese Kolonisten sich benennen. Ganz anschaulich tritt diese Einheitlichkeit auch auf sozialem Gebiet darin hervor, daß im Gegensatz zu allen anderen Griechenstämmen die rechtliche Abhängigkeit des Haussohnes vom Vater, auf der seine Zugehörigkeit zur Gemeinde beruht, nicht durch Hinzufügung des Vaternamens im Genitiv, sondern im Thessalischen, Boeotischen, Lesbischen immer durch ein daraus gebildetes possessives Adjektiv bezeichnet wird. Eine Spur davon, daß der Aeolername auch im Mutterlande schon geläufig war, hat sich darin erhalten, daß die Landschaft von Kalydon und Pleuron an der Küste Aetoliens, Orten, die in der Sagengeschichte eine große Rolle spielen und auch mit dem Krieg gegen Theben verbunden werden, noch im 5. Jahrhundert den Namen Aeolis führt512. Der Eponym Aiolos wird dann natürlich [263] nach Thessalien versetzt513. Hier hat die mykenische Kultur gleichfalls Fuß gefaßt; in der Umgebung des Golfes von Pagasae und Iolkos liegen mehrere Kuppelgräber, und von hier aus hat sie sich weithin über die Binnenebene verbreitet.

Auch auf Euboea liegen nicht wenige Kuppelgräber und Felskammergräber mit mykenischen Gefäßen sowohl an der [264] Ostküste wie bei Chalkis514; und es kann nicht zweifelhaft sein, daß sich hier, in der günstigen Lage am Euripos, früh ein reiches Verkehrsleben entwickelt hat. Mit dem gegenüberliegenden, nur durch einen schmalen Meerarm von ihr getrennten Festland muß die Insel immer in reger Verbindung gestanden haben, auf die denn auch in der Bevölkerung manche Andeutungen hinwiesen. Die Bewohner Euboeas heißen bei Homer Abanten, ein Name, der in dem Ort Abai im östlichen Phokis wiederkehrt515. In Oropos wird im 5. Jahrhundert und vermutlich schon weit früher derselbe Dialekt gesprochen wie in dem gegenüberliegenden Eretria, und der hier ansässige Volksstamm der Graer, aus dessen Namen auch der benachbarten Stadt Tanagra gebildet ist, steht zur Zeit der griechischen Kolonisation in enger Verbindung mit Chalkis und beteiligt sich an der Gründung von Kyme in Campanien; dadurch ist der Graername in der italischen Weiterbildung Graici bei den Römern der Name des gesamten Hellenenvolks geworden516.

[265] Als ein weiterer Stamm werden die Hyanten genannt, deren Name sich in dem phokischen Hyampolis, dicht bei Abae, erhalten hat. Damit verbinden sich die σιαοῖοι von Hyettos bei Orchomenos517, und weiter Hyria in der Nähe der Bucht von Aulis, gegenüber von Chalkis, wo das im Hyantennamen zwischen zwei Vokalen ausgefallene s wie im Dialekt von Eretria in r übergegangen ist. Hier hat ein großes, jetzt wie es scheint verschwundenes Kuppelgrab gelegen, das die Überlieferung als Schatzhaus des Hyrieus bezeichnet518.

Es wäre verkehrt, in allen diesen Namen verschiedene Volkstümer zu suchen519, die sich, wie die Alten es auffassen, [266] neben und nacheinander in der Landschaft zusammengedrängt hätten; wohl aber erkennen wir hier wie überall in der griechischen Welt die durch die Siedlungsverhältnisse bedingte Zersplitterung jedes Gebiets in zahlreiche kleine Gruppen, die sich bald befehden, bald verbinden und gelegentlich schon in der Urzeit, wie unter Theben und Orchomenos, und dann wieder seit dem Ausgang des griechischen Mittelalters durch die Bildung stärkerer Mächte und durch den Zwang der Lage zu größeren völkischen Einheiten zusammenwachsen. Da hat sich dann die Erinnerung an das Sonderdasein der Vorzeit in einzelnen derartigen Splittern erhalten.

Etwas anders liegen die Verhältnisse in Attika. Hier finden sich Kuppelgräber bei Eleusis, Acharnae (Menidi), Thorikos. Dazu kommt die Königsburg auf der Akropolis mit dem Palast des Erechtheus und der großen Ringmauer aus mächtigen Felsblöcken, dem Πελαργικὸν ἐννεάπυλον. Manche Traditionen lassen erkennen, daß einzelne Teile der Landschaft, die über haupt geographisch keine geschlossene Einheit bildet, einmal ein Sonderdasein geführt haben, so vor allem Eleusis, aber auch Brauron, die Tetrapolis von Marathon u.a. Nur umso auffallender ist demgegenüber, daß hier, völlig abweichend vom gesamten übrigen Griechenland, kein einziger Stammname überliefert wird520: die Bewohner der gesamten Landschaft benennen sich zu allen Zeiten nur nach der Hauptstadt, Ἀϑηναῖοι, und bilden einen einzigen Staat. [267] Eine derartige größere Einheit widerspricht an sich den Zuständen der mittelalterlichen Zeit durchaus; nur umso sicherer können wir schließen, daß sie, wie denn auch die Tradition annimmt, bereits in die mykenische Epoche zurückgeht und daß die Herren der Burg von Athen schon damals ihre Herrschaft über das ganze Land ausgedehnt und dies staatlich geeinigt haben521.

Die Lage der Hauptsitze der mykenischen Kultur zeigt deutlich, daß sie überall auf der Verbindung mit der See beruht. Die befruchtende kretische Kultur ist in alle Buchten gedrungen, die den Zugang von Süden und Osten gewähren, während der große Golf, der sich nach Westen öffnet, nebst den vorliegenden Inseln völlig zurücktritt. Ganz unberührt sind auch diese Gebiete nicht geblieben, Ansiedlungen und Gräber mit mykenischen Scherben finden sich auch hier nicht selten (so in Delphi); aber größere Bauten haben sie nirgends aufzuweisen, für das Kulturleben sind sie völlig passiv geblieben.

Auch auf den Inseln des Ägaeischen Meeres ist die mykenische Kultur an Stelle der älteren kretischen getreten. Die Ausbreitung der Griechen wird hier um dieselbe Zeit begonnen haben wie die Invasion Kretas. Auf den meisten Kykladen finden sich mykenische Scherben desselben Stils wie in der Argolis. Auf Naxos liegt ein Kuppelgrab. Auf Melos ist die zweite neukretische Stadt von Phylakopi niedergebrannt und darüber eine dritte erbaut, in der ein größeres Haus ein von Korridoren umschlossenes Megaron mit dem Herd in der Mitte und mit Resten mykenischer Wandmalerei enthält. Auf Thera sind die Gebäude der mykenischen Ansiedlung, auch hier mit Trümmern der Wandmalerei, durch einen großen Vulkanausbruch verschüttet und dadurch erhalten. Die Ausbreitung hat Rhodos erreicht, wo in Ialysos, [268] nahe der Nordspitze der Insel, eine große Nekropole von der mykenischen Besiedlung Kunde gibt. Auf die Weiterentwicklung dieses zunächst durchaus nach Osten gerichteten Vordringens werden wir später zurückkommen müssen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 259-269.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon