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[397] In reicher Mannigfaltigkeit war Leben und Kultur im 6. Jahrhundert erblüht. Von Grund aus hatten die sozialen und politischen Verhältnisse des Mittelalters sich gewandelt. Die Zeit war vorbei, wo ein zum Herrschen und Kämpfen geborener Adelsstand patriarchalisch das Volk regierte, wo der heimatliche Boden noch die gesamte Bevölkerung des Kantonstaats ernährte. Neue Erwerbszweige und Berufsstände waren dazwischengetreten, Geld und Handel beherrschten alle Produktion, die fremden Erzeugnisse waren für das tägliche Leben unentbehrlich geworden; in weitem Umfang lebte in den größeren Städten die Bevölkerung von den Produkten überseeischer Gebiete. Darüber war die alte Staatsgestalt in Trümmer gegangen. Die Idee des Rechtsstaats, die Herrschaft der Gesetze, die kein Privileg und kein Ansehen der Person kennt, hatte sich überall durchgesetzt. Aber innerhalb desselben rangen die schärfsten Gegensätze unablässig miteinander. Mochte der Schwerpunkt des Gemeinwesens im Landbau oder in Handel und Industrie liegen, überall hatte der Mittelstand, das bäuerliche oder städtische Bürgertum, maßgebende Bedeutung erlangt; auf ihm ruhte jetzt die Wehrkraft der Gemeinde, es beanspruchte die politische Leitung für sich. Unter ihm standen die besitzlosen Massen, die Tagelöhner und Kätner der Ackerbaustaaten, die Handwerker, Kleinhändler, Matrosen, Handlanger und Arbeiter der Handels- und Industriestaaten, die der Mittelstand, auch wo er ihnen, wie in Athen seit Solon, Teilnahme an der politischen Entscheidung in Volksversammlung und Gericht zugestanden hatte, doch sozial nur um so mehr von sich in Abhängigkeit zu halten suchte. Der alte Adel war häufig völlig vernichtet worden, so in Korinth und vielfach in Ionien; in anderen Fällen hatte er sich durch zeitgemäße Konzessionen, durch Verzicht auf seine politischen Sonderrechte und Verschmelzung mit den führenden Kreisen der Bürgerschaft tatsächlich im Besitz der Staatsleitung behauptet, so in Athen, ähnlich vielleicht in Argos und in anderer Weise in Ägina. In Sparta war er, wenn es hier überhaupt [398] jemals einen Adel gegeben hat, durch die militärische Entwicklung völlig und bis auf die letzte Spur absorbiert worden. In voller demokratischer Gleichheit stehen hier die Vollbürger nebeneinander, aber zugleich in straffer Unterordnung unter das Gesetz und die ununterbrochene militärische Zucht, die allein die Herrschaft des Vororts über die Untertanengemeinden und die Massen der Leibeigenen erhalten kann. Im Nordwesten, der daher auch weder politisch noch kulturell eine Rolle spielt, sind die alten Formen des Stammstaats noch lebendig, ebenso in Elis. Sonst dagegen ist auch da, wo, wie in Arkadien, Landwirtschaft und Viehzucht noch fast allein die Grundlage des Lebens bilden, doch mit der Sprengung des Stammverbands die Bedeutung der Gemeindeversammlung und der Bürgerwehr der Hopliten gewachsen; wenn auch die Staatsordnung aristokratisch ist und die großen Familien die Leitung behaupten, entwickelt sich doch selbst hier eine ständig stärker werdende demokratische Strömung. Umgekehrt hat sich in vielen Handels- und Industriestaaten eine neue kaufmännische Aristokratie gebildet, die auf dem Kapital und dem Besitz von Schiffen, Fabriken, Sklaven beruht und den alten Adel in sich aufnimmt, wie in Ägina, oder an seine Stelle tritt, wie in Korinth. Wo sich die volle und exklusive Adelsherrschaft noch behauptet, wie in Thessalien, oder zeit weilig die Alleinherrschaft wiedergewinnt, wie in Theben und mehrfach auch in Ionien und im Westen (so die Gamoren von Syrakus vor der Tyrannis), trägt ihr Regiment die Züge der Reaktion und unterscheidet sich von der Gewaltherrschaft eines Usurpators nur dadurch, daß statt des einen »Tyrannen« eine Anzahl von »Dynasten« das Regiment führt. Darauf beruht es, daß die jüngste Gestaltung der usurpierten Monarchie, wie sie jetzt in Sizilien bestand, sich außer auf das Militär auf die aristokratischen Elemente stützen konnte: der Gegensatz gegen die Massen und das materielle Interesse führten die beiden ehemaligen Rivalen zusammen.
So starke Erschütterungen die Verfassungskämpfe fast allen griechischen Staaten bereiteten, im allgemeinen ist trotzdem das 6. Jahrhundert eine Zeit raschen und ständigen Fortschreitens gewesen. Die politischen Kämpfe und Revolutionen machten dem [399] Talente die Bahn frei und gaben ihm Gelegenheit, sich voll zu entfalten. Wenn sie häufig Schranken aufrichteten, so räumten sie noch mehr aus dem Weg. Die vielfachen Umwälzungen und der mit ihnen verbundene Besitzwechsel mobiliserten das Vermögen und steigerten die Unternehmungslust. So hat der materielle Wohlstand einen gewaltigen Aufschwung genommen; die Lebenshaltung ist überall reicher geworden, die Ansprüche sind gewachsen und mit ihnen die Mittel, sie zu befriedigen. Die Konkurrenz steigerte die Energie und den Erfindungstrieb, die Technik der Gewerbe und Künste machte rasche Fortschritte, die Absatzgebiete erweiterten sich, die Kaufkraft des Publikums wuchs. Nicht minder bedeutsam war der Fortschritt auf geistigem Gebiet. Neue Formen und neue Anschauungen traten überall neben die altüberkommenen. In der Poesie hatte sich neben dem absterbenden Epos die Lyrik und mit ihr die Musik stets reicher entfaltet; jetzt traten ihr die dionysischen Kunstformen zur Seite, der in Korinth ausgebildete Dithyrambos und das Drama Attikas, und daneben begannen hier und in anderer Art in Megara und Sizilien die lustigen Umzüge und Maskenscherze eine festere künstlerische Gestaltung zu gewinnen. Doch die Poesie war nicht mehr imstande, alles zu umfassen, was das geistige Leben der Nation bewegte; die neuen Gedanken und Entdeckungen verlangten einen schlichten, keinem Formzwang unterliegenden Ausdruck. So war neben die Dichtung die ungebundene Rede getreten, zunächst im Lehrvortrag und, entsprechend der Deklamation des Epos und des Iambos durch die Rhapsoden, im Vortrag vor einer Festversammlung, dann aufgezeichnet im Lehrbuch und in der darstellenden Erzählung der geschichtlichen und geographischen Forschungen. Der bildenden Kunst gewährten die reicheren Mittel und die gesteigerten Bedürfnisse der Staaten wie der Privatleute die Möglichkeit regster Betätigung. Die beiden Baustile gelangten zu voller Entwicklung und begannen im Marmor ein neues prächtiges Material zu verwerten. Die Tempel, die Schatzhäuser, die öffentlichen Hallen füllten sich mit Statuen und Giebelgruppen, neben den Reliefschmuck der Wände trat die Wandmalerei; mit ihnen wetteifernd, ja sie überholend, vermochte die Dekoration der Tongefäße, [400] wie sie Athen ausgebildet hatte, lebensvolle Szenen aus der heiligen Geschichte wie aus dem täglichen Leben zu gestalten. Gewaltig hatte sich der Horizont des griechischen Volkes erweitert; im Osten und Westen war man bis an den Ozean vorgedrungen, die Umrisse Westeuropas und Nordafrikas wie des inneren Asiens bis an und über den Indus tauchten nicht nur dem Schiffer und dem Kaufmann auf, sondern auch ihren Landsleuten daheim; von der Literatur wie von der durch Anaximander von Milet geschaffenen Kartenzeichnung wurden sie festgehalten. Zahlreiche fremde Völker traten in den Gesichtskreis, zum Teil mit den rohesten Sitten und Institutionen, zum Teil mit hoher, uralter Kultur, gegen die die griechische ein Werk »von gestern und vorgestern« schien. Vielfach war diese Kultur der griechischen materiell überlegen. Ihre Geschlossenheit, die Unerschütterlichkeit ihrer Institutionen, die Sicherheit, mit der sie jede Frage beantwortete und jeden Zweifel niederschlug, imponierte den Griechen gewaltig. Aber wenn man den Fremden manche Anregung, manche Kunstfertigkeit, in der Mathematik und Astronomie auch manche wissenschaftliche Erkenntnis verdankte, so waren die Fortschritte, die man selbst machte, noch viel größer. Überall erhob sich der Geist des Einzelnen zu selbständiger Tätigkeit, unbekümmert um und oft im Gegensatz zur Tradition. Wie der Künstler neue Formen zu bilden wagte und neue Mittel der Technik erfand, wie der Dichter und Musiker neue Rhythmen, neue Harmonien, ja neue Instrumente schuf, so schritt der Arzt hinweg über die Schranken des Herkommens und suchte durch eigenes Denken und Beobachten sein Können zu erweitern, so grübelte der Mathematiker und Astronom über die Gesetze des Raums, so versuchte der Denker sich ein eigenes, den neuen Tatsachen entsprechendes Weltbild zu konstruieren; er begann Probleme zu sehen in dem, was man vor ihm als selbstverständlich hingenommen hatte. So entstehen die Anfänge der Wissenschaft, der Astronomie und Geographie und damit im engsten Zusammenhang die der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Medizin.
Noch stand die alte Religion, wie sie im Kultus jeder Gemeinde lebte und im Epos sich spiegelte, äußerlich unerschüttert. [401] Das Eintreten der Volksmassen ins politische Leben hatte die Religiosität gewaltig gesteigert und neben den kriegerischen Gottheiten der Adelszeit die volkstümlichen und bäuerlichen Kulte in den Vordergrund gerückt. Wie der Wohlstand sich hob und der Wert des Lebens und seiner Güter sich steigerte, mehrten sich die Opfer und Weihgeschenke; Gemeinden und Herrscher wetteiferten miteinander in der Erbauung prächtiger Tempel, in der Ausrichtung glänzender Götterfeste. In allen Lebenslagen wandte man sich mit Gebeten und Gelübden an die Götter, wandte man sich um richtige Weisung an die Stätten, wo sie ihren untrüglichen Willen verkündeten; mächtig erhob sich Glanz und Einfluß der großen Orakel und ihrer Priesterschaften. Auch der heiligen Geschichte, wie sie für die Gesamtheit Homer und Hesiod formuliert hatten und wie sie die lokale Tradition und Exegese im Anschluß an die heimischen Bräuche und Feste in mannigfachen Variationen lehrte, stand die Menge noch durchaus gläubig gegenüber. Aber in zahlreichen Einzelfällen kam es den höherstehenden Männern, welche über diese Dinge nachzudenken Zeit und Neigung hatten, zum Bewußtsein und wurde instinktiv auch von den Massen empfunden, daß diese Erzählungen und nicht selten auch die Riten, die man dem Herkommen gemäß vollzog, den im eigenen Innern lebenden Anschauungen nicht mehr entsprachen. Die überlieferte Religion war das Erzeugnis und der Ausdruck einer vergangenen Zeit; mit dem Zusammenbruch der alten sozialen und politischen Ordnung hatte sie ihre Basis verloren, sie entsprach den Bedürfnissen und Anschauungen der Neuzeit nicht mehr. Das drängte sich einem jeden auf angesichts des unzulänglichen Weltbildes der Tradition, ihres naiven Pragmatismus, ihrer seltsamen, jetzt ebenso unmöglichen wie kindisch erscheinenden Wundergeschichten. So erhob sich der Verstand zum Richter über die heilige Geschichte und korrigierte, was ihm Anstoß gab, verwarf es als Erfindung unwissender und törichter Dichter. Tiefer noch war der Kontrast der ethischen Anschauungen. Die alten Götter waren ihrem Ursprung nach Naturgewalten, rücksichtslos in ihren Taten wie in ihren Einwirkungen auf den Menschen, Frevelhaftes tuend und erduldend wie die Kräfte der Natur. Glaube und Dichtung [402] des Mittelalters hatte sie gestaltet wie die Mächtigen der Zeit, Menschen von gewaltiger kriegerischer Kraft und gährender Leidenschaft, die aber gelernt hatten, sich dem Zwang der Sitte und des Anstands zu fügen, und ernstlich bestrebt waren, sich zu verhalten, wie es dem wackeren Mann ziemte, bis dann einmal die verhaltene Leidenschaft alle Dämme durchbrach und sie zu den wildesten Taten hinriß. Aber auch diese Anschauung war seit dem 7. Jahrhundert überwunden; das ethische Gefühl hatte sich verfeinert, das Bewußtsein von der ewigen Rechtsordnung war erwacht. Wohl sah gerade diese Zeit Menschen genug, die sich auch über die konventionelle Moral hinwegsetzten und rücksichtslos nur ihre eigenen Interessen verfolgten, und die, wenn es ihnen gelang, das Ziel zu erreichen und sich zu behaupten, von der Menge angestaunt und bewundert wurden. Aber trotz alledem blieben sie unheimlich; man beneidete sie, aber man empfand doch, daß sie Verbrecher, daß ihr Glück nur Trug sei, daß ihre Frevel eine Sühne gebieterisch forderten, wenn nicht in diesem Leben, so in ihren Kindern und Kindeskindern oder in einer zukünftigen Existenz. Die bedeutendsten Männer der Zeit predigten unablässig, daß das Sittengesetz unverbrüchlich sei, daß für jeden Frevel die Götter früh oder spät die Strafe verhängen, daß wahres Glück nicht zu gewinnen sei ohne Befolgung der sittlichen Gebote. Das galt auch von den Göttern selbst. Sie waren allezeit die Urheber und Wächter wie aller menschlichen Ordnungen so auch des Sittengesetzes gewesen, auch wenn dasselbe sie nicht band; jetzt suchte man den Glauben an die Götter zu retten, indem man sie dem Sittengesetz unterordnete und das ethische Postulat aufstellte, daß die Götter sittliche Mächte sind, die ein gerechtes Regiment führen.
In diesem Glauben mochte sich beruhigen, wer auf den Höhen des politischen Lebens stand und die erhebende Wirkung des Ringens mit den Schicksalsgewalten an sich und seinem Gemeinwesen empfand; den Massen konnte er nicht genügen. Zu sehr fühlte man hier die Not des Lebens, das ungleiche Maß, mit dem die Götter maßen, das schreiende Mißverhältnis zwischen Schuld und Schicksal des Einzelnen. Der Glaube an die göttliche [403] Gerechtigkeit konnte hier nicht Wurzel fassen; die Zeiten, wo diese auf Erden geweilt hatte, wo die Natur von selbst ihre Gaben spendete und Friede und Eintracht unter den Menschen herrschte, waren, das wußte man seit Hesiods Tagen, längst dahin. Jetzt war das Leben nur Not und Elend, der Mensch verstoßen aus den Regionen der Seligen, die die Götter für sich behalten hatten. Nicht die freudige Hingabe an die Welt und ihre göttliche Ordnung beherrscht diese Kreise, sondern das Bedürfnis nach Erlösung. Die orgiastischen Kulte der großen Naturgottheiten, der Göttermutter, der ephesischen Artemis, des kretischen Zeus, vor allem aber der Rausch des dionysischen Trunks und die wilden und ausschweifenden Orgien seines Diensts, sie gestatten wenigstens momentan die Last des Daseins abzuschütteln, und das Anschauen der geheimnisvollen Bräuche der Göttinnen von Eleusis oder eines anderen Mysterienkults gewährt die Hoffnung auf eine Ausgleichung im Reich des Hades, auf ein seligeres Dasein als die trübselige Schattenexistenz in ewiger Finsternis, von der die Dichter erzählen. Auch auf Erden hofft man vorwärtszukommen, wenn man sich ganz der Gottheit hingibt, ihre Weihen auf sich nimmt, ihre Amulette trägt, ihre Reinheits- und Speisegebote befolgt, so absurd sie erscheinen mögen. Aus diesen Elementen erwächst die neue Religion der Erlösung, welche in der Pisistratidenzeit die Orphik in Attika verkündet und welche sich in zahlreichen Variationen rasch durch die ganze griechische Welt verbreitet. Scharen von Propheten und Dienern der neuen Religion durchziehen alle Lande, teils wirkliche Gläubige, teils armselige Bettelpriester und Schwindler, die für geringes Geld ihre Zeremonien verkaufen, für alle irdischen Nöte, für Krankheit, Unfruchtbarkeit, Mißwachs geheime Heilmittel bereit haben, und in doppelsinnigen Orakelsprüchen den Mächtigen wie den Geringen verkünden, was die Zukunft bringen wird. Das Höchste und das Gemeinste verbindet sich in ihnen wie in jeder die Massen ergreifenden religiösen Bewegung. Ein gewaltiger Gährungsprozeß erfaßt die Gemüter; es konnte scheinen, als habe, der Entwicklung der orientalischen Kulturen entsprechend, die Geburtsstunde einer neuen theologischen Religion auch im griechischen Volke geschlagen, welche, [404] die lokalen Kulte in sich aufnehmend und sich unterordnend, nur in der Schöpfung einer allgemeinen hellenischen Kirche ihren Abschluß finden könne.
Aber auch die Gegenströmung fehlt nicht. Aus der rationalistischen Aufklärung und den Anfängen der Wissenschaft erwächst, alle Strömungen zu einer Einheit zusammenfassend und die einzelnen Zweige, wie die Geographie, die Mathematik, die rationalistische Geschichtsbetrachtung sich unterordnend, im Gegensatz zur mystischen Offenbarung die menschliche Weisheitslehre. Ihre Geburtsstätte ist Milet; aber bald stellen sich an mehreren anderen Orten zunächst der ionischen Welt den Milesiern Vertreter verwandter Richtungen zur Seite. Die Probleme sind dieselben, welche die neue Religion zu lösen sucht, und auch im einzelnen berühren sich die Lösungsversuche vielfach aufs engste und beeinflussen sich gegenseitig. Aber die Grundauffassung ist diametral entgegengesetzt, dort übernatürliche Offenbarung und eine mystische erlösende Wunderwirkung der Götter und ihrer Propheten, hier eine vernunftgemäße Analyse und Konstruktion des Weltganzen, die jedes übernatürliche Element ausscheiden will. Auch an Vermittlungen fehlt es nicht, Propheten, die als Lehrer der »Weisheit« auftreten und eine Schule gründen, die zugleich eine religiöse und politische Sekte ist, wie Pythagoras, und Philosophen, die wie Xenophanes in dem religiösen Problem, in der richtigen Gotteserkenntnis den Gipfel und die höchste Aufgabe der Weisheit sehen.
So ist an Stelle der alten homogenen Kultur des Mittelalters eine bunte Fülle verschiedenartiger, oft schroff einander gegenüberstehender Gestaltungen und Anschauungen getreten. Im allgemeinen sondern sie sich zunächst lokal voneinander: wie in dem einen Gemeinwesen eine demokratische, in dem anderen eine aristokratische Verfassung oder eine Tyrannis besteht, wie jede Landschaft nicht nur ihre besonderen Feste, sondern auch ihre besonderen Tänze, Rhythmen und Harmonien hat, so scheiden sich auch die Künstler und die Dichter großenteils nach der Örtlichkeit. Der Iambos hat sich nur in der ionischen Welt zu einer selbständigen Dichtungsart entwickelt, auch die Elegie hat hier ihren [405] Hauptsitz, obgleich sie nicht nur nach Attika, sondern z.B. in Theognis nach Megara, in Tyrtäos nach Sparta hinübergreift; das Lied entwickelt sich in Äolis und Ionien zu einer selbständigen Kunstgattung. Überall in Griechenland blüht der Chorgesang; aber die Kunstform des Dithyrambos ist ein Produkt Korinths, das von hier aus in die Nachbarländer übergreift; die Tragödie ist in Attika erwachsen und noch auf lange Zeit von dem Nährboden des attischen Lebens und der attischen Feste untrennbar. Völlig lokal sind noch jahrzehntelang die Anfänge der Philosophie; in Milet, in Elea, in Ephesos sammeln die Weisen einen Kreis von Schülern um sich, der ihre Lehren bewahrt und weiterbildet, während in das größere Publikum nur unbestimmte und verzerrte Kunde von ihrem seltsamen Treiben dringt. Auch ihre Bücher, die in dunkler, nur dem Eingeweihten, dem Schüler verständlicher Sprache die Summe ihrer »Weisheit« überliefern, vermögen eine umfassendere Wirkung zunächst nicht auszuüben. Der Hochsitz der Medizin sind Knidos und Kos und ihre Asklepiadengeschlechter, wenn auch daneben Ärzte aus anderen Teilen Griechenlands, wie Demokedes von Kroton (o. S. 280), einen großen Namen gewinnen und an der Ausbildung ihrer Kunst mitwirken. Ein größeres Publikum findet die populärwissenschaftliche, von der Aufklärung getragene, geographisch-ethnographische und historische Literatur; aber auch ihre Pflege beschränkt sich zunächst fast völlig auf Kleinasien und die Inseln des Ägäischen Meers. Die neue religiöse Bewegung, so weite Gebiete sie ergriffen hat, trägt doch in ihren Wurzeln und Gestaltungen überall ein lokales Gepräge. Die Heimat der Orphik ist das Athen der Pisistratidenzeit, daneben treten Kreta und vielleicht einzelne Gebiete der ionischen Welt hervor; die Wirksamkeit des Pythagoras beschränkt sich auf die Achäerstädte Unteritaliens, wenn auch sein Ruf viel weiter gedrungen ist. – Aber wenn schon im Mittelalter neben den lokalen Entwicklungen eine allgemeine, das ganze geistige Leben der Nation umfassende Kultur bestand, deren Hauptträger das Epos und die fahrenden Sänger und später die Rhapsoden waren, so konnte jetzt bei den allgemeinen und individuellen Strömungen der neuen Entwicklung, welche wirklich in die Tiefe griffen, eine [406] universelle Wirkung so wenig ausbleiben wie bei den wirtschaftlichen und politischen Bewegungen. War der Bürger an das heimische Gemeinwesen gefesselt, so bestand daneben in den für das geistige Leben wichtigsten Kreisen die freieste Bewegung; es gab zahlreiche Berufe hoher und niederer Art, welche geradezu auf ein Wanderleben angewiesen waren. Die Ärzte, die bildenden Künstler, die Dichter zogen von Ort zu Ort; Fürsten und Republiken wetteiferten, sie gegen hohe Belohnung, oft genug, wie bei berühmten Ärzten (Herod. III 131), gegen festen Gehalt in ihren Dienst zu ziehen. Bei den Meistern des Chorgesangs, Simonides, Pindar, Bakchylides, bestellten sich die Sieger in den Festspielen die Gedichte für die Siegesfeier, die Staaten die Preislieder für die Götter in Ägina und Korinth, in Athen und Böotien, in Phlius und Arkadien, in Thessalien, in Rhodos und Kyrene, in Sizilien und Unteritalien. An sie reiht sich alles fahrende Volk, Rhapsoden, ionische Geschichtenerzähler, Gaukler, Bettel- und Mysterienpriester und Orakelverkünder. Auch tüchtige Handwerker mag man oft genug von auswärts geholt haben; oder wenn sie in der Heimat nicht vorwärtskamen, suchten sie in der Fremde ihr Glück, so in Athen, wo ihnen schon seit Solon die Niederlassung als Metöken möglichst erleichtert war. Aber auch die eingesessene Bürgerschaft kam oft genug aus der Enge der Heimat heraus, nicht nur der Kaufmann und Schiffer, sondern auch der Bürgersmann und Bauer, wenn er an geheiligter Stätte sich Rats holen ging oder eins der großen Feste besuchte, oder wenn der Staat eine Festgesandtschaft oder eine Prozession in die Fremde schickte – so schicken die Chier einmal einen Chor von hundert Jünglingen nach Delphi (Her. VI 27). Neben den heimischen Zuschauern fand sich ein ständiges Wanderpublikum ein nicht nur bei den vier panhellenischen Nationalspielen, sondern auch bei zahlreichen lokalen Festen, die weit über ihr Gemeinwesen hinaus zu Ansehen gelangt waren: Athleten, die die gymnischen Kämpfe bei einem Meister gelernt hatten und berufsmäßig betrieben, um Preis auf Preis zu gewinnen und dadurch zugleich den Ruhm ihrer Heimat und ihres Geschlechts zu mehren, Musiker und Sänger, Rhapsoden, und bald auch die Vertreter des neuen Wissens, die, was sie erforscht und [407] geschaut hatten, einem größeren Publikum in ausgearbeitetem Vortrag mitzuteilen wünschten. So ging ein reger Austausch durch die ganze griechische Welt; es gab Leute genug, die wie Anaximander, Hekatäos, Pythagoras (vgl. Bd. III2 S. 760, 1) selbst vor Reisen ins Ausland nicht zurückscheuten, lediglich um ihr Wissen zu bereichern. Die führende Stellung im geistigen Leben nahm nach wie vor die Poesie ein; die Elegien, die Theognis in Megara zum Preis seines Kyrnos sang, erklangen bei jedem Gelage in ganz Hellas, und nicht minder die Lieder des Alkäos und der Sappho, des Anakreon und des Ibykos, die Elegien des Mimnermos und Solon; Stesichoros' und später Simonides' und Pindars Chorgesänge wurden aller Welt vertraut, so gut wie die Epen Homers und Hesiods und die Iamben des Archilochos. So verbreiteten sich die Kunstformen weit über ihren heimischen Kreis hinaus: Pindar und Korinna dichteten in Böotien in den von Stesichoros und von der äolischen Lyrik geschaffenen Formen und fanden in der ganzen griechischen Welt ihre Auftraggeber und ihr Publikum im Wetteifer mit den Ioniern Simonides und Bakchylides von Keos; die attische Tragödie entlehnt ihre Formen dem ionischen Iambos (und Tetrameter) und dem dorischen Chorlied. Nicht anders ist es in der bildenden Kunst: die Stile von Chios und Samos, von Sikyon und Ägina fließen zusammen in der Plastik Athens; die dorische und die ionische Bauweise treten oft an denselben Orten nebeneinander so gut wie die dorische und die ionische, die lydische und phrygische Harmonie.
So hat sich der geistige Besitzstand der Nation gewaltig gemehrt. Auch in abgelegenen Gebieten, bis in die arkadischen Berge hinein, ist man hinaus über die Zeit, wo neben der gymnastischen und militärischen Ausbildung und der Kenntnis der heimischen Sitte und Sage die Übung im Singen und Tanzen und die durch die Rhapsoden vermittelte Bekanntschaft mit den großen Epen den Inhalt der Bildung erschöpfte. Man empfindet, daß man mehr braucht nicht nur an Können, sondern auch an Wissen. Für den praktischen Bedarf ist die Kunst des Schreibens unentbehrlich, aber auch für die geistige Ausbildung; schon gibt es Leute, das zeigt die Entwicklung einer Buchliteratur in Dichtung und Prosa, welche die Schöpfungen der Literatur lesen, ja selbst kaufen oder [408] abschreiben oder auswendig lernen, nicht weil sie sie für ihren Beruf brauchen wie die Rhapsoden oder weil sie bei einer Aufführung mitwirken sollen, sondern weil sie ein tieferes Interesse an dem Inhalt nehmen, als durch das gelegentliche Anhören des mündlichen Vortrags befriedigt wird. Das Bildungsbedürfnis ist erwacht, und der Staat nimmt seine Befriedigung in die Hand. Neben den gymnischen und musischen Unterricht tritt der Unterricht im Lesen und Schreiben und in der nationalen Literatur, vor allem Homer, Hesiod, Archilochos, aber auch in den anderen Dichtern. Seine Träger sind zunächst die Bewahrer der literarischen Schätze, die Rhapsoden; von ihnen übernehmen die Schulmeister, die »Schreiblehrer« (γραμματοδιδάσκαλοι) das Lehrmaterial. In Chios sind kurz vor der Schlacht bei Lade 120 Knaben im Schulhause durch den Einsturz des Daches erschlagen worden (Herod. VI 27); im Jahr 413 finden wir in der kleinen böotischen Landstadt Mykalessos mehrere Schulen, von denen eine sehr stark besucht ist (Thuk. VII 29). Daß in Athen zu Ende des 6. Jahrhunderts vorausgesetzt wurde, daß jeder Bürger schreiben könne, beweist die Einrichtung des Ostrakismos – wenn auch mancher sich, wie eine bekannte Anekdote erzählt, den Namen des zu Verbannenden von einem anderen auf die Scherbe schreiben lassen mochte.
So haben die allgemeinen Ideen, welche die Zeit bewegen, die Frage der Gestaltung des Staats, die religiöse Bewegung, der Rationalismus und die Aufklärung ihren Eingang gefunden in alle Teile Griechenlands. Auch wo man sich ablehnend verhielt, verspürte man doch ihre Einwirkung; man mußte zu ihnen Stellung nehmen, sei es auch nur dadurch, daß man aus Prinzip überall am Alten festhält. So mannigfach verschieden aber politisch, sozial und geistig die Anschauungen und Institutionen sind, im allgemeinen scheiden sich die zahlreichen Einzelgestaltungen in zwei große Gruppen von Gegensätzen, die sich auf den Trümmern der mittelalterlichen Ordnung erhoben haben. In der Gestaltung des Staats und der Lebenshaltung treten sich die am Alten festhaltende konservative und die moderne fortschrittliche Auffassung gegenüber. Die Basis bildet der alte mittelalterliche Staat, die Herrschaft [409] des Adels und des Grundbesitzes, das Ideal der Mannestugend (ἀρετή) des durch Geburt und Besitz zur Herrschaft berufenen freien Mannes, dessen angeborene edle Art durch strenge Erziehung gestählt ist, die Tüchtigkeit, die sich ihrer eigenen Kraft voll bewußt ist und sie zur Geltung bringt, aber Anstand und Sitte wahrt, Rechtlichkeit übt, in Freigebigkeit und Gastlichkeit, in der Pflege der körperlichen Ausbildung, des Sports und des Kriegs, der alten Formen der Musik und des Tanzes sich äußert. Völlig aufrechterhalten ließ sich dies Ideal unter der Einwirkung der Ideen des Rechtsstaats und der Staatseinheit nicht mehr; aber nach Kräften sucht man den neuen Staatsbegriff ihm einzuordnen. In der konservativen Weltanschauung dominiert der Gedanke der Unterordnung auch des Höchstgestellten unter Gesetz und Zucht, des ehrfurchtsvollen Gehorsams der Jugend gegen das Alter, des Niedriggestellten gegen den Vornehmen. Nur wer gehorchen gelernt hat, wird befehlen können. An dem Überkommenen hält man fest, nur schwer entschließt man sich, eine bestehende Einrichtung zu ändern, auch wenn ihre Mängel deutlich zutage liegen. Mit Mißtrauen und Geringschätzung sieht man auf den modernen Erwerb, auf Kaufleute und zinsnehmende »Wucherer«, und nun gar auf die Handwerker herab; der einzige eines anständigen Mannes würdige Beruf ist der des Grundbesitzers. Auch wo in den Kaufmannsaristokratien das Kapital und der Erwerb die Basis geworden sind, wo selbst die Fabrikanten Zutritt in die Regierungskreise und die Gesellschaft gewonnen haben, wie in Korinth, »der griechischen Stadt, in der die Handwerker am wenigsten gering geachtet werden«, wie Herodot sagt (II 167), wächst die vornehme Jugend auf in den Anschauungen und Beschäftigungen des Adels: »Es ist unmöglich«, sagt Pindar gerade von Korinth (Ol. 13), »die angeborene Art zu verbergen.« Den alten Glauben und die Religion der Väter hält man fest, wenn man auch die heiligen Geschichten und Zeremonien oft genug umdeuten und dem Rationalismus die Konzession machen muß, daß die Tradition verfälscht ist und die reine Wahrheit nicht wiedergibt. Aber von den modernen Ideen und nun vollends von den Grüblern und Zweiflern will man nichts wissen, sie untergraben die überkommene [410] göttliche Weltordnung und befördern nur die Revolution und die Ansprüche der unwissenden und »schlechten« Massen, die dem Regiment der »Guten« aufsässig sind. – Demgegenüber erkennt die fortschrittliche Auffassung die Vorzüge der Geburt nicht mehr an. Zwar schaffen nicht nur Begabung, sondern auch Besitz und Lebensstellung und die darauf beruhende Erziehung einen Unterschied zwischen den Menschen – denn zu dem absoluten Gleichheitsprinzip der radikalen Demokratie mögen nur noch Wenige fortgeschritten sein –, aber jedem freien Bürger soll ein gewisses Maß von politischen Rechten zustehen, sie sollen für die Gesamtheit und damit für sich selbst steuern und kämpfen, nicht für die Herrschaft Weniger oder eines Einzelnen. Jedem soll die Bahn freigemacht werden, sich zu betätigen, zu erwerben und im Privatleben wie im Staat vorwärtszukommen, und vor allem, dasselbe Recht soll für alle gelten (ἰσηγορίη καὶ ἰσονομίη). Hier denkt man daher nicht gering vom Erwerbsleben, von Handel und Geld und selbst von der Industrie. Freilich haben die sozialen Vorurteile ein zähes Leben und geraten oft genug praktisch mit der Theorie in Konflikt; namentlich die Handwerker, die für andere arbeiten und deren soziale Abhängigkeit daher jederzeit augenfällig ist, als gleichberechtigte Glieder der menschlichen Gesellschaft anzusehen, kann man sich schwer entschließen, von den eigentlichen Theten, den Tagelöhnern, Matrosen usw. ganz zu schweigen. Das alte ethisch-politische Ideal bleibt auch hier die Grundlage – nur wenige fortgeschrittene Geister wie Xenophanes wagen es, vollständig mit ihm zu brechen und z.B. zu behaupten, daß die Pflege des Sports und die Siege bei den Nationalspielen sittlich wertlos, der ihnen zuteil werdende Preis absurd sei –; aber die alten Anschauungen verschieben sich unter der Einwirkung der neuen Ordnungen. In der Phalanx und in der Seeschlacht erweist sich der gemeine Mann oft als ebenso tüchtig, ja als tüchtiger als der Hochgeborene, und vor allem, es kommt auf ihn ebensoviel an wie auf diesen. In der Volksversammlung, im Rat, in den Ämtern mag er es jenem oft an Einsicht zuvortun, im Erwerbsleben ihn weitaus überflügeln. Nicht die Anschauungen des ererbten großen Grundbesitzes, sondern die des Mittelstandes [411] sind hier maßgebend. Hier herrschen daher freiere Verkehrsformen; die strenge Zucht, die Ehrerbietung der Jugend gegen das Alter schwindet; jeder mag sich mit seiner Ansicht hervorwagen und sie durchzufechten versuchen. Auch den Untergebenen und den Sklaven gestattet man freiere Bewegung. Leicht entschließt man sich zu Neuerungen; wenn die bisherige Einrichtung sich nicht bewährt hat, mag man es einmal mit einer anderen versuchen. Die gymnastische und militärische Ausbildung kann man auch hier nicht entbehren; aber die strengen Bande der Subordination lockern sich. In den konservativen Staaten kümmern sich Staat und Obrigkeit um alles, hier gewähren sie größere Bewegungsfreiheit und suchen nur das Notwendigste festzuhalten. Das Leben ist nicht nur um des Staates und des Kampfes willen da; es ist kein Grund vorhanden, sich nicht allen Genüssen hinzugeben, die es gewähren kann, während die konservative Anschauung darin nur Verweichlichung sieht, die sie bekämpft und verpönt. Auch über manche Sittengebote, an denen diese streng festhält, setzt man sich dort unbedenklich hinweg, unbekümmert um den Vorwurf der Zügellosigkeit, den die Gegner erheben. Und gewiß kommen moralische Exzesse und Defekte oft genug vor. Dafür aber gewinnt man die Möglichkeit einer freien Entfaltung der Persönlichkeit, des eigenen Charakters, der Selbstzucht, während die formale Rechtlichkeit, die die konservative Anschauung fordert, nur zu oft zur Scheinheiligkeit, zu einer äußerlichen Behandlung der Sittengebote und der Staatsgesetze verführt.
Im einzelnen freilich weichen die Hunderte von griechischen Gemeinden, auch wenn wir sie in die beiden großen Gruppen einzuordnen versuchen, überall aufs stärkste voneinander ab. Es ist sehr verschieden, was man verwirft und was man zu konservieren sucht, hier die Alleinherrschaft des Adels oder des Grundbesitzes oder auch nur einiger weniger privilegierter Familien, dort die feste, auf rechtlicher Gleichheit beruhende Staatsordnung, in der die Besten zur Leitung berufen sind, anderswo die herrschende Stellung der Kaufmannsaristokratie und die Pflege ihrer materiellen und kommerziellen Interessen. Athen ist demokratisch und gewährt dem Einzelnen große Bewegungsfreiheit; wie es seine Verfassung [412] wieder und wieder geändert, zuletzt unter Kleisthenes auf eine verstandesmäßige Basis begründet und unter Themistokles durch die Schöpfung der Seemacht die Entscheidung im Kampf in die Hände der Massen gelegt hat, so nimmt es neue Anregungen von überall her in sich auf. Doch die Grundstimmung der Bevölkerung ist noch durchaus konservativ; man verschmäht die materiellen und geistigen Genüsse nicht, die das Leben bietet, aber an der alten Zucht und am alten Glauben möchte man festhalten, und die Überlegenheit und politische Leitung des Adels erkennt man noch lange Zeit unumwunden als selbstverständlich an. – Gelegentlich hat man bereits im Altertum den Gegensatz der beiden Weltanschauungen, wie er sich im 6. Jahrhundert gestaltet hat und das 5. beherrscht, auf den Gegensatz des dorischen und des ionischen Stammes zurückgeführt, anknüpfend an den Gegensatz der strengen dorischen und der weichlichen, von den Kleinasiaten beeinflußten ionischen Harmonie, in dem sich die Unterschiede des Stammescharakters am deutlichsten auszuprägen schienen. Diese Auffassung wurde dadurch bestärkt, daß die radikale Bewegung in der Tat von Ionien ausgegangen ist und in der Ionierstadt Athen schließlich ihren Höhepunkt gefunden hat, während die konservative aristokratische Richtung in Sparta (daneben auch Kreta) ihren typischen Vertreter fand. Diese Auffassung würde oberflächlich sein und das Problem nicht erklären, sondern nur an ders formulieren, selbst wenn sie zutreffend wäre. Aber das muß, da sie seltsamerweise immer aufs neue Vertreter findet, auch immer aufs neue eingeschärft werden, sie steht mit den Tatsachen in schroffem Widerspruch. Gerade Sparta ist auf ganz anderen Grundlagen erwachsen und erst allmählich zum Vertreter des aristokratischen Prinzips geworden; andere dorische Staaten, wie Argos und später Syrakus und Tarent, sind dagegen typische Repräsentanten des radikalen Prinzips. Gerade in nichtdorischen Staaten, wie Arkadien, Böotien, Thessalien, tritt uns die konservative Ordnung und Weltanschauung zur Zeit der Perserkriege am stärksten entgegen; der Thebaner Pinar und der Ionier Pythagoras, der in achäischen Gemeinden wirkt, haben ihr den charakteristischsten Ausdruck gegeben. Umgekehrt, ist Athen zur Zeit der [413] Perserkriege und noch weit später nichts weniger als ein Vertreter der »ionischen« Weltanschauung. Der im Dialekt und in manchen Sitten und Kulten hervortretende Stammesgegensatz spielt eine Rolle in den populären Sympathien und Antipathien, doch eine größere geschichtliche Bedeutung hat er nie gehabt, auch die Politik niemals irgendwo ernsthaft zu beeinflussen vermocht. Aber auch der Gegensatz der wirtschaftlichen Verhältnisse, so wichtig er ist, reicht zur Erklärung nicht aus. In vielen Handels- und Industriestaaten haben die Aristokratie und die konservativen Anschauungen die Herrschaft, so in Ägina und Korinth; in den Ackerbaustaaten des Peloponnes kommt eine starke demokratische Strömung in die Höhe, die unter dem Einfluß der politischen Lage des Staats in vielen Fällen, so bald nach den Perserkriegen in Mantinea, ausschlaggebend werden kann, ja in Argos durch den Gegensatz zu Sparta zur vollen Herrschaft gelangt und den Staat ins radikale Fahrwasser lenkt, obwohl hier, soweit wir sehen können, die Landwirtschaft immer die Hauptbeschäftigung der Bevölkerung geblieben ist. In Athen dagegen bildet trotz der Entwicklung von Handel und Industrie und trotz der Demokratie der Grundbesitz die Basis des Staats, bis die Entwicklung der Seemacht allmählich eine Verschiebung herbeiführt.
So sind es überall die verschiedensten Momente, welche zusammenwirkend die augenblickliche Stellung des einzelnen Staats bestimmen. Denn das ist überhaupt das Wichtigste und Entscheidende, daß der Gegensatz wie durch die ganze griechische Welt, so auch durch jeden einzelnen Staat hindurchgeht. Er hebt die einheitliche Denkweise des Mittelalters auf, wo die bestehende Ordnung naturgemäß und selbstverständlich erschien: er stellt jeden Staat und jeden Einzelnen vor die Wahl und sprengt dadurch die innere Einheit, die geistige Homogenität der Bürgerschaft. Sie ist überall in zwei Teile zerrissen, die entgegengesetzt denken und Entgegengesetztes erstreben, die nur mit Mühe durch das Zusammenwohnen und durch den politischen Zwang, durch die Notwendigkeit, die unabhängige Stellung des Gemeinwesens zu wahren, zusammengehalten werden. Während nach außen Staat gegen Staat steht, fühlen sich die sich bekämpfenden Parteien [414] mit den Gleiches erstrebenden Elementen der Nachbarstaaten verbunden, auch wenn sie sich im Felde feindlich gegenüberstehen. Zu dem alten Gegensatz von Gemeinde zu Gemeinde kommt ein neuer, der quer durch die einzelnen Gemeinden hindurchgeht. Die Stellung des Einzelnen zu den Parteien ist in weitem Umfang, wiewohl keineswegs ausschließlich, durch seine materiellen Interessen und durch seinen Stand bestimmt; aber überall, auch wo sie tatsächlich gegeben ist, erscheint sie ihm als seine individuelle Entscheidung. So gewinnt das Individuum eine ganz andere Bedeutung als früher; seine Haltung ist ihm nicht mehr von der Tradition vorgeschrieben, auch wenn er sich ihr ganz in die Arme wirft, sondern beruht auf seiner Wahl. Und von der Stellung der Persönlichkeiten ist wieder die Stellung und Gestaltung der Staaten abhängig. Mögen die wirtschaftlichen Faktoren, die politischen Interessen, die allgemeinen Stimmungen noch so sehr mitwirken: den Ausschlag gegeben haben überall die leitenden Staatsmänner, welche die Verfassung neu geordnet und die politische Richtung des Staats bestimmt haben. Zwar ermöglicht die Überlieferung fast nur in Athen ihre Individualität und Wirksamkeit wenigstens in den entscheidendsten Momenten zu fassen; aber trotzdem unterliegt es doch keinem Zweifel, daß auch Staaten, wie Korinth, Argos, Sparta, den Städten Ioniens und des Westens ihre Bahnen von führenden Persönlichkeiten gewiesen sind, wenn sie auch oft völlig verschollen sind. In vielen Fällen hat die Überlieferung denn auch wenigstens die Namen und einen oder den anderen charakteristischen Zug aus ihrer Wirksamkeit bewahrt.
In diese Gegensätze des konservativen und des fortschrittlichen Prinzips tritt, sie durchkreuzend, der zweite große Gegensatz, der religiöse. Auch hier bildet die Überlieferung, die alte Religion, die Grundlage, wenn sie auch durchweg, bewußt und unbewußt, eine rationalistische Färbung erhalten hat. Die heimischen Götter und Kulte und der Glaube an die Offenbarung des Willens des höchsten Gottes an den heiligen Stätten, die die gesamte Nation verehrt, sind für alle Staaten in gleicher Weise unverletzlich und in den Massen noch völlig lebendig. Aber von der einen Seite sucht die neue Erlösungsreligion sie umzudeuten [415] und sich zu assimilieren, das religiöse Leben zu erweitern und zu vertiefen; von der anderen beginnt die von Ionien ausgehende, aber auch im Westen Wurzel schlagende Aufklärung und Philosophie sie wenigstens in der Theorie anzutasten und durch eine neue Weltanschauung zu verdrängen. Die neue Religion findet in den Massen einen breiten Boden und freudige Aufnahme; die entgegengesetzte Strömung vermag zunächst nur einige fortgeschrittene Geister ganz zu gewinnen, treibt aber ihre Wellen weithin und beginnt dadurch leise den alten Glauben zu erschüttern oder wenigstens zur Abwehr und gelegentlich schon zu Kompromissen zu zwingen. – Es wäre falsch, wenn man glaubte, daß die beiden großen Gruppen von Gegensätzen sich im wesentlichen oder gar in ihren Ausgangspunkten deckten, daß etwa die Aufklärung mit dem politisch-sozialen Fortschritt, die Religiosität mit dem Konservatismus Hand in Hand ginge. Im Gegenteil, in den Aristokratien herrscht viel eher eine rationalistische Auffassung und Hinneigung zur Freigeisterei. Wenn nur am Staatskult nicht gerührt und der äußere Anstand gewahrt wird, hat man wenig dagegen, die Götter nach homerischem Vorbild ziemlich leger zu behandeln und als Mittel zum Zweck zu benutzen, genau so gut wie man sich darauf versteht, unter Beobachtung der korrekten Formen die Moralgebote nach seinen Zwecken zu drehen. Gegen die neue Religion mit ihren bizarren Formen und ihren rigorosen Anforderungen, die von unten hereindringt, verhält man sich eher ablehnend. Dagegen die Massen sind innerlich religiös gestimmt, nur um so mehr, je mehr der Staat demokratisch gestaltet ist; aus ihren Bedürfnissen ist die neue Religion erwachsen, nicht an die aristokratische, homerische Form der Religion, sondern an die Volkskulte knüpft sie an. In Attika hat sie ihren Hauptsitz, während sie unseres Wissens z.B. in Sparta niemals zu irgendwelcher Bedeutung gelangt ist. Die Orphiker, Pythagoras der Sektenstifter, Xenophanes, der in der religiösen Frage das zentrale Problem der Philosophie erblickt, sind Leute aus dem Volk, während Thales, Hekatäos, Heraklit – über Anaximanders Herkunft wissen wir nichts – Adlige und Aristokraten waren. Umgekehrt hat die religiöse Bewegung in [416] den Aristokratien und aristokratischen Monarchien des Westens feste Wurzel geschlagen, Pythagoras hat seine aristokratische Schule auf mystisch-religiöser Grundlage aufgebaut, während Xenophanes trotz und gerade wegen seiner religiösen Grundstimmung die schärfsten Angriffe des Rationalismus und der Aufklärung gegen die traditionelle Religion wie gegen den orphisch-pythagoräischen Mystizismus aufnimmt. So zeigt sich auch hier die größte, überall von individuellen Faktoren abhängige Mannigfaltigkeit. Nur das wird sich vielleicht sagen lassen, daß beide Strömungen, die religiöse wie die aufklärende, da am ersten entstehen und am tiefsten Wurzel fassen können, wo die alten Ordnungen in den Parteikämpfen am schwersten erschüttert sind und die Staatsform fortwährenden Schwankungen unterliegt.
Aber wenn sich auch die konservative Strömung gegen die religiöse zunächst vielfach ablehnend verhält, schließlich müssen sie sich doch gegenseitig anziehen und miteinander verschmelzen. Mag eine religiöse Bewegung zu Anfang noch so radikal, ja revolutionär auftreten, sobald sie sich auswächst und sich durchzusetzen beginnt, muß sie notwendig konservativ werden. Denn die Religion ist der große Vertreter der traditionellen Mächte im menschlichen Leben, und jede neue Religion schafft sofort aufs neue eine unverbrüchliche Norm, welche mehr und mehr die Elemente der alten Tradition in sich aufnimmt. Je mehr die konservative Richtung sich durch das Umsichgreifen der fortschrittlichen Tendenzen bedrängt sah, desto wichtiger wurde für sie die religiöse Stütze. In Pythagoras sehen wir das Bündnis sich vollziehen; Pindar, der Verkünder der alten aristokratischen Weltanschauung, hat so gut wie Äschylos die orphischen Ideen aufgenommen und mit der alten, in der Mythenbehandlung rationalistisch beeinflußten Religion verschmolzen. Umgekehrt findet die Aufklärung ihren Nährboden in den fortschrittlichen demokratischen Staaten, mögen diese sich noch so sehr dagegen sträuben, ja sie energisch bekämpfen. Denn beide sind aus demselben Prinzip erwachsen, der Idee der Freiheit, des Kampfes mit der Tradition, beide nehmen die modernen Elemente in sich auf und suchen durch ihre Förderung ihr Reich zu erweitern.
[417] Auch dieser geistige Gegensatz so gut wie der politisch-soziale erhebt die Individualität zu neuer Bedeutung: auch hier wird der einzelne Mensch vor die Wahl gestellt und damit über den Bann der Tradition erhoben. Aus individuellen Bedürfnissen ist die neue Religion erwachsen so gut wie die Philosophie: sie wendet sich an jeden Einzelnen und will ihn bekehren, sie verheißt ihm Erlösung und Fortexistenz über das Grab hinaus, während für die alte Religion das Individuum nur als Glied der Gesamtheit in Betracht kam. Die alte Zeit kennt nur natürliche Ordnungen, die von den Göttern oder den Göttersöhnen stammen, und eine freie individuelle Schöpfung zunächst nur in der bildenden Kunst, der dann, wie die Individualität sich zu emanzipieren beginnt, Poesie und Musik zur Seite treten. Jetzt wird diese Auffassung auf alle Seiten des menschlichen Lebens ausgedehnt; überall fragt man, wer es so gemacht hat, denn es könnte auch anders sein. »Jedes Ding ist die Schöpfung seines Erfinders«, πᾶν δ᾽ εὑρόντος ἔργον, sagt Pindar Ol. 13, 23. Nicht am wenigsten gilt das vom Staat. Was man im letzten Jahrhundert so oft erlebt hat, daß die Rechtsordnung und die Verfassung von einem Einzelnen von Grund aus neu gestaltet ist, wendet man auf alle staatlichen Ordnungen an. Selbst in Sparta wird man sich der Eigenart des Gemeinwesens im Gegensatz zu allen anderen bewußt und antwortet auf die Frage, woher sie stamme: sie sei von Lykurgos geschaffen worden, der jetzt als Gott verehrt wird, aber ehemals als Mensch auf Erden weilte; er habe seine Satzungen aus Kreta geholt und dadurch der vorher herrschenden Unordnung ein Ende gemacht. Die Persönlichkeit ist als führendes Element in allem menschlichen Leben und allen geschichtlichen und politischen Vorgängen anerkannt. – Aber nur um so mächtiger erhebt sich, je mehr die Aufgaben des Staats sich erweitern und je wichtiger die auf dem Spiele stehenden Interessen werden, der Idee des Individuums gegenüber die Staatsidee. Sie fordert die Unterordnung des einzelnen Bürgers unter die Gesamtheit, unter das Recht, die Hingabe von Gut und Leben für das Wohl des Ganzen. Sie setzt ihm in dieser Richtung weit engere Schranken, als in der mittelalterlichen Zeit dem selbstherrlichen Adligen gesetzt[418] waren. Denn ohne den Staat, ohne die geordnete menschliche Gemeinschaft, ohne das unverbrüchliche Walten des Rechts, das ihn zugleich schützt und einschränkt, kann der Einzelne nicht mehr existieren, weder materiell noch geistig. So entsteht ein neuer Gegensatz zwischen dem Individuum und der Allgemeinheit, der nur dadurch gelöst werden kann, daß jenes sich freiwillig der Staatsordnung und den Interessen der Gesamtheit unterordnet, auch dann, wenn seine privaten Anschauungen und Interessen diesen widersprechen. Erst darin besteht die wahre Freiheit, die nur das Bürgertum des nicht von der Willkür eines Einzelnen oder einiger Weniger, sondern von Recht und Gesetz beherrschten Staats gewähren kann: freiwillig und aus Überzeugung von der sittlichen Notwendigkeit des Staats tun, was dieser gebietet, das ist die höchste Aufgabe des freien Mannes, das ist des Staatsbürgers. – So führt, so fundamental sich auch die Gestaltung der beiden gleichzeitig sich ausbildenden Kulturen unterscheidet, doch im Griechentum wie im Judentum die Entwicklung auf dasselbe grundlegende Problem: die Stellung des Individuums zur Gesamtheit. Im Judentum ist es die Kirche mit ihren religiösen Aufgaben, die von allen Zweigen freier menschlicher Tätigkeit allein übriggeblieben ist, während im Griechentum der Staat sich dominierend und alle Lebensgebiete in sich aufnehmend der Persönlichkeit gegenüber erhebt.
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