Die Sophistik

[890] Neue Bedürfnisse erzeugen auch die Mittel, sie zu befriedigen. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts treten in Griechenland zahlreiche Männer auf, welche sich befähigt erklären, der Jugend die nötige Erziehung für das praktische Leben zu geben, so daß der Schüler »sein Haus aufs beste verwalten kann und in den öffentlichen Angelegenheiten zu reden und zu handeln voll befähigt [890] wird« (Plato Prot. 318 e). Um jeder Situation gewachsen zu sein, muß der Lehrer imstande sein, über alle Dinge zu reden und seine Argumente so vorzubringen, daß sie überzeugend oder vielmehr überredend wirken. Um das Vertrauen des Publikums zu gewinnen und möglichst viele Jünger an sich zu ziehen, muß er mit dem Anspruch auftreten, im Vollbesitz des Wissens zu sein. Daher wird er von der Menge mit den Männern zusammengeworfen, »die über die überirdischen Dinge grübeln« und auch einen Kreis von Jüngern um sich sammeln; beide werden als »Weise« (σοφοί) oder »Weisheittreibende« (σοφισταί) bezeichnet, bis dann allmählich der Name Sophisten sich immer mehr auf die neumodischen Weisheitslehrer beschränkt, während für jene die Bezeichnung Philosophen (o. S. 793) aufkommt. In Wirklichkeit sind, wenn es auch an Mittelgliedern (zu denen man schon Empedokles rechnen kann) nicht fehlt, beide Gruppen von Grund aus verschieden, ja einander entgegengesetzt. Der Philosoph strebt nach Erkenntnis um ihrer selbst willen, dem Sophisten ist sie Mittel zum Zweck: jener folgt einem inneren Drange seiner Natur, die ihn zwingt, sein ganzes Leben dem Studium zu weihen, diesem ist es ein Gewerbe, von dem er leben will, so gut wie jeder andere, der einen technischen Beruf betreibt. Jener faßt die Summe eines Lebens voll geistiger Arbeit in einem Buch zusammen; der Sophist dagegen muß fertig sein, bevor er auftritt, für ihn darf es keine Probleme geben. Der Philosoph, auch wenn er einmal andere Städte aufsucht, um seine Lehren zu verbreiten, hat einen festen Wohnsitz, an dem er seine Schule gründet; der Sophist ist durch seinen Beruf auf ein Wanderleben angewiesen. Mit großem Prunk, im Purpurrock wie der Rhapsode, mit reichem Gefolge tritt er auf; ein großer Ruf geht ihm vorauf; wenn er an einen Ort gekommen ist, strömt alles herbei, den berühmten Mann zu sehen und zu hören. In ausgearbeiteten Prunkreden über allgemein interessierende Probleme stellt er seine Kunst zur Schau, wenn sein Ansehen es gestattet, gegen Eintrittsgeld: so hatte Prodikos einen Vortrag, für den er 50 Drachmen verlangte, und andere, die nur eine oder ein paar Drachmen Entree kosteten. Gern benutzt er die alten Mythen, oder er interpretiert die Dichter, um nachzuweisen, [891] daß sie in verhüllter Form bereits die Weisheit enthielten, die er in klaren Worten dem Publikum vorträgt. Aber auch jede Frage, die ihm vorgelegt wird, zu beantworten, ist er erbötig – »und seit vielen Jahren hat niemand mich etwas Neues gefragt«, sagt Gorgias bei Plato. Nie läßt er sich in Verlegenheit setzen, immer steht ihm ein Schwall wohlgesetzter Perioden zur Verfügung, der den Hörer blendet und verwirrt, wenn er ihn nicht belehrt. So sammelt er einen Kreis von Schülern um sich. Ist dann eine Stadt abgeschöpft, so geht er in die nächste, um dort das gleiche Treiben zu beginnen. Im Gegensatz zu den Philosophen nimmt der Sophist Honorar für seinen Unterricht. Das hat bei den Zeitgenossen besonderen Anstoß erregt, da sie von einem gewinnbringenden höheren Beruf im geistigen Leben so wenig etwas wissen wollten wie im Staat. Obwohl er sozial eine ganz andere Stellung beansprucht als der Schreib-und Musiklehrer, sinkt der Sophist dadurch doch in den Stand der höheren Handwerker und der ihnen gleichgestellten Künstler herab. Besonders anstößig erschien es, daß die neue Kunst das freie Wort, das Gespräch, die Resultate des Denkens zur Ware machte: »sie verkaufen sich selbst anderen in die Knechtschaft«, sagt Sokrates (Xen. Mem. I 2, 6. 6, 5), »und sind gezwungen, mit denen sich zu unterhalten, die sie bezahlen«; »sie verschachern ihre Weisheit wie andere ihre Schönheit« (ib. I 6, 13)1027.

Der erste und zugleich der geistig bedeutendste und berühmteste Vertreter der neuen Unterrichtsweise war Protagoras von Abdera1028. Geboren spätestens um 485 und mithin fast eine [892] Generation älter als sein Landsmann Demokrit, also wohl ein Altersgenosse Leukipps, hat er im Alter von etwa dreißig Jahren seine Lehrtätigkeit und damit sein Wanderleben begonnen. Nach Athen ist er wiederholt gekommen und hat hier reichen Zulauf gefunden. Wir finden ihn im regen Verkehr mit vielen der angesehensten Männer, so mit Perikles (o. S. 698). Auch die Angabe, daß er mit Euripides in engen Beziehungen stand – in sein Haus wird von einigen die Vorlesung seiner Schrift über die Götter verlegt –, ist zweifellos richtig; die beiden geistig so nahe verwandten Männer mußten sich finden. Daß Protagoras zu den Berühmtheiten gehörte, die an der Gründung von Thurii teilnahmen, und die Gesetze des neuen Gemeinwesens redigiert haben soll, ist früher berichtet (o. S. 676f.). – Vielleicht noch einige Jahre älter als Protagoras war Gorgias von Leontini (o. S. 620), der im Westen dieselbe Rolle spielte. Nach Athen (und wohl überhaupt in den Osten) ist er zuerst 427 als Gesandter seiner Heimat gekommen. Beide Männer können keinerlei Einfluß aufeinander geübt haben und mögen sich im Leben kaum begegnet sein; daß sie dennoch in ihrer Tätigkeit und in ihren Grundanschauungen sich so eng berühren, zeigt nur um so deutlicher, daß die Sophistik nicht die Schöpfung eines Einzelnen, sondern ein notwendiges Produkt der griechischen Kulturentwicklung gewesen ist. – Zu der nächsten, nach der Entscheidung des Perserkriegs geborenen Generation, die schon von Protagoras beeinflußt ist, gehören vor allem Prodikos von Keos, wohl etwas älter als Sokrates1029, mehrfach als Gesandter seiner Heimatinsel in Athen tätig und hier lange Jahre als Lehrer wirkend, und der wohl etwas jüngere Hippias von Elis, der gleichfalls von seiner Vaterstadt vielfach zu diplomatischen Diensten verwendet wurde, namentlich bei Verhandlungen mit Sparta. Sodann Thrasymachos von Chalkedon, der 427 in Athen von der Komödie angegriffen wird1030. Ferner Antiphon von Athen,[893] »der Sophist«, zum Unterschied von dem berühmten »Redner«, ein Zeitgenosse des Sokrates1031, Euenos von Paros1032, der zugleich als Elegiker aufgetreten ist, und daneben nicht wenige Schüler der berühmten Meister. Seit etwa der Mitte des Peloponnesischen Kriegs hat sich der neue Beruf vollkommen eingebürgert und überall den breitesten Nährboden gewonnen.

Die erste und dringendste Aufgabe, der jeder Sophist genügen mußte, war die rhetorische Ausbildung seiner Schüler. Wer im Leben wirken wollte, mußte vor allem die volle Herrschaft über die Sprache gewinnen. Es ist keins der geringsten Verdienste der Sophisten, daß sie den durchgebildeten Prosastil, den vollendeten Periodenbau geschaffen und dadurch allen Literatursprachen späterer Zeiten die Normen gegeben haben. Ohne Künsteleien konnte das freilich nicht abgehen; der geschraubte und gezierte Stil des Gorgias ward schon erwähnt (o. S. 620). Er berauscht sich in der unabsehbar sich erschließenden Fülle der Sprachformen und ihrer Rhythmen, in Gleichklängen, etymologischen Anklängen, Antithesen. Ähnlich redete und schrieb Prodikos, dessen Spezialität die Unterscheidung der Synonymen war; einfacher vermutlich Protagoras und die anderen, und vor allem Thrasymachos, der eigentliche Begründer des künstlerisch abgerundeten Periodenbaus. Zugleich aber brauchte man für den Wandervortrag eine feste sprachliche Form, die der Fülle der lokalen Dialekte gegenüber allgemeinverständlich und auch in der Praxis in möglichst weiten Kreisen anwendbar war. Bisher war der ionische Dialekt die Sprache der Prosaliteratur gewesen, und ihn hat auch Protagoras verwendet, während Hippias vielleicht dorisch schrieb. Aber im politischen Leben hatte Ionien seine dominierende Stellung längst an Athen verloren; hier lag materiell wie geistig der Schwerpunkt der Gegenwart und aller zukünftigen Entwicklung. So konnte die Sprache der modernen Bildung nur der attische Dialekt sein. Gorgias hat seinen praktischen Blick [894] auch darin bewiesen, daß er, ein sizilischer Ionier, obwohl er erst in älteren Jahren, 427 zum erstenmal, nach Athen kam, doch seine Schriften attisch schrieb, wahrscheinlich schon lange bevor er den Boden Athens betrat. Dasselbe haben natürlich diejenigen Sophisten getan, welche sich als Lehrer der Bildung, wie Prodikos, oder gar speziell als Lehrer der Redekunst, wie Thrasymachos, zu längerem Aufenthalt in Athen niederließen. Bald traten ihnen Athener zur Seite, welche den gleichen Beruf ergriffen und gelegentlich Reden, die ihnen formell besonders gelungen oder inhaltlich besonders wichtig schienen, nachträglich als Broschüren veröffentlichten, so zuerst Antiphon von Rhamnus. Wenn der attische Dialekt die Literatursprache der Hellenen geworden ist und schon zu Ende des 5. Jahrhunderts das Ionische verdrängt hat, so ist das gleichfalls ein Werk der Sophisten, die auch hier erkannt und ausgeführt haben, was die Zeit forderte.

Was für Gebiete sonst der Sophist in den Kreis seines Unterrichts und seiner Prunkreden ziehen will, hängt von seinen individuellen Neigungen und seiner Begabung ab. Am vielseitigsten war Hippias, der Arithmetik und Geometrie, Astronomie und Musik lehrte, und daneben ein lebhaftes historisches Interesse zeigte. Außerdem hat er eine Mnemotechnik erfunden. So ist er der Hauptvertreter einer enzyklopädischen Bildung. Seine ethischen Vorträge knüpfte er gern an Homer an; in Sparta, wo man von anderen Dingen nichts wissen wollte, trug er Sagengeschichte vor. Er hat eine ganze Anzahl historischer Schriften verfaßt, Sammlungen von Anekdoten und merkwürdigen Sitten: »von diesen Dingen«, lautet ein größeres Fragment, »hat einiges vielleicht Orpheus, anderes Musäos in Kürze an verschiedenen Stellen berichtet, anderes Hesiod, Homer oder andere Dichter, anderes Prosawerke, Hellenen und Barbaren; ich aber will aus diesen das Hauptsächlichste und Gleichartige zusammenstellen und so eine neue und vielgestaltige Erzählung schaffen«. Die Lykurglegende hat er weitergebildet; auch die älteste Bearbeitung der Olympionikenliste stammt von ihm. Ferner hat er in sehr geistreicher Weise eine Kurve konstruiert, welche die Dreiteilung des rechten Winkels und später auch die Quadratur des Kreises ermöglichte, [895] freilich nicht nach strenger, nur mit Lineal und Zirkel operierender geometrischer Methode (u. S. 902, 4). Antiphon der Sophist befaßte sich mit Naturerklärung, in der er sehr primitiven Anschauungen huldigte, aber auch mit Traumdeutung und ähnlichen Dingen und daneben mit der Quadratur des Kreises. Prodikos kultivierte neben der Synonymik vor allem die Ethik; aber er hat auch über den Ursprung der Religion geschrieben (s.u. S. 903). Lediglich auf die rhetorische Ausbildung beschränkten sich Gorgias und seine Schüler Polos und Likymnios, sowie Thrasymachos – »die Weisheit«, deren dieser sich in seiner Grabschrift als seiner »Kunst« rühmt, ist nichts anderes als die Rhetorik –; aber doch hat Gorgias in seiner philosophischen Schrift »Über die Natur oder das Nichtseiende« (o. S. 620, 2) sich die theoretische Grundlage für seine Lehre geschaffen. Auf naturwissenschaftliche Spekulationen und auf die Fachwissenschaften einzugehen hat auch Protagoras abgelehnt, wenn er sie auch nicht selten gestreift hat; aber er stellte sich das höhere Ziel, den Schüler für das praktische und politische Leben nicht nur intellektuell, sondern auch sittlich auszubilden, und denselben Anspruch haben auch die meisten anderen der modernen Lehrer erhoben. Daher haben die meisten von ihnen eine Anzahl von Vorträgen und Schriften über ethische Fragen hinterlassen; von Prodikos z.B. stammt die berühmte Erzählung von Herakles am Scheideweg, während Hippias seine moralischen Lehren in eine Unterweisung des Neoptolemos durch Nestor einkleidete. Die einschlägigen Schriften Antiphons, vor allem die über die Eintracht, sind in späterer Zeit noch viel gelesen worden.

So weit die einzelnen Sophisten in ihren wissenschaftlichen Ansichten und in ihrem Lehrbetrieb auseinandergehen mochten, sie alle wurzeln in derselben Grundanschauung vom menschlichen Leben und den menschlichen Dingen. Mit ihnen hält der Subjektivismus und Individualismus seinen Einzug in die griechische Welt, und zwar, im schärfsten Gegensatz zu den Lehren der Philosophen, als ein aus der praktischen Wirksamkeit erwachsenes und für sie berechnetes System. Nicht um das Wesen der Dinge handelt es sich und nicht um ewige, den Menschen beherrschende [896] Begriffe, sondern um die Auffassung, die der einzelne Mensch mit den Dingen und den Begriffen verbindet, nicht um das, was sie an sich sind, sondern darum, wie sie erscheinen. Nur unter dieser Voraussetzung ist ihre Lehrtätigkeit überhaupt möglich. Überall in den Fragen dieser Welt stehen zwei Auffassungen sich diametral gegenüber; von diesen gilt es diejenige zu ergreifen und durchzuführen, die den Intentionen des einzelnen Individuums entspricht. Denn eine absolute, schlechthin richtige und verbindliche Auffassung gibt es nicht, sondern alles ist relativ; sonst würde kein Mensch den anderen beeinflussen, überzeugen, überreden können. Wir haben schon gesehen, wie Gorgias aus den Lehren der Philosophen des Westens, vor allem der Eleaten und des Empedokles, die letzte Konsequenz zog: wenn überhaupt in der Welt nichts existierte, so blieb nur ein Meinen übrig. Dann ergab sich die Folgerung von selbst, daß es nur auf die Beherrschung der Kunst ankommt, den Menschen die Meinung beizubringen, die man durchzusetzen wünscht; dann ist, wie Euripides sagt (o. S. 890), nicht Pindars »Sitte«, sondern die Überredungskunst, die Beredsamkeit der alleinige Tyrann aller Menschen und die höchste aller Künste, weit wichtiger und mächtiger als die praktischen Künste der Ärzte, der Baumeister, der Feldherrn, der Staatsmänner. Weit tiefer hat Protagoras die Frage beantwortet; er hat den wahren Kern des Problems klargestellt. Der berühmte Eingangssatz seiner Schrift »Die Wahrheit« lautet: »Aller Dinge Maß ist der Mensch, der Seienden, daß sie sind, der nicht Seienden, daß sie nicht sind« – d.h. alle durch die Sinne vermittelte Wahrnehmung und daher auch jede Erkenntnis ist nur subjektiv, und jede positive wie negative Aussage, sowohl wenn sie die Existenz eines (Gegenstands betrifft als wenn sie ihm einen bestimmten Inhalt beilegt – denn beides ist, wie bei den Eleaten, noch nicht geschieden –, enthält daher keine absolute, sondern nur eine relative, lediglich für die Person des Aussagenden gültige Wahrheit. Wie er die Dinge wahrnimmt und beurteilt, so sind sie, aber nur für ihn; er ist der Maßstab der Dinge, eine allgemeingültige Erkenntnis gibt es nicht. Protagoras hat zweifellos die bisherige Entwicklung der Philosophie gekannt, wie die Seinslehre der Eleaten, [897] die sein Satz in scharf pointierter Formulierung abweist, so die naturwissenschaftlichen Systeme; wie er auf Demokrit eingewirkt hat (o. S. 879), so wird umgekehrt Leukipp auf ihn gewirkt haben. Auch eine Weiterbildung der Gedanken Heraklits kann man in seinem Satz finden. Daß die Versuche, zu einer einheitlichen Naturerkenntnis zu gelangen, zu einer Fülle diametral widersprechender Systeme führten, die alle mit dem Anspruch absoluter Wahrheit auftraten, aber alle nur für die sie vertretenden Persönlichkeiten Überzeugungskraft hatten und tatsächlich sich alle gegenseitig aufzuheben schienen, bot dem Subjektivismus eine willkommene Stütze. Aber erwachsen ist er nicht aus dem Streben nach Naturerkenntnis, sondern aus dem Widerstreit der Meinungen, den das praktische Leben tagtäglich zeigte, und aus gesteigerter Selbstbeobachtung. In den Werturteilen meint der Mensch eine unzweifelhafte Wahrheit auszusprechen, und doch schwanken sie ununterbrochen von Mensch zu Mensch und innerhalb jedes Einzelnen; und die allgemeinen Begriffe, an denen der Mensch die Dinge messen will: gut, schön, angenehm, nützlich usw., und selbst die rein sinnlichen Urteile wie süß, warm, feucht usw., sie bedeuten jedem etwas anderes und ändern sich fortwährend, je nach der momentanen Situation, nach der Stimmung, dem Befinden, den äußeren Bedingungen und der Intensität der Wahrnehmung. Nicht in ihnen kann die Wahrheit enthalten sein, sondern nur in der Person des jedesmal Urteilenden; mithin hat das Urteil auch nur für diesen Gültigkeit und auch für den Moment, in dem es ausgesprochen wird. So hat Protagoras den scheinbar so einfachen und in Wirklichkeit ebenso schweren wie folgenreichen Schritt getan von der energischen Betonung der eigenen Persönlichkeit und des eigenen Urteils, die uns am gewaltigsten bei Heraklit entgegentrat, zu der Anerkennung einer jeden Persönlichkeit und ihrer Gedankenwelt. Damit ist der Individualismus theoretisch begründet; die Frage ist aufgeworfen nach der Berechtigung und dem Wert der Anschauungen und Urteile eines jeden Menschen, mag er geistig hoch oder niedrig stehen, mag er befangen und von Täuschungen beeinflußt sein oder nicht. Sie kann nicht wieder verstummen und kann ihre Lösung nur finden,[898] wenn es gelingt, die Bedingungen klarzulegen, unter denen jedes menschliche Urteil zustande kommt, wenn durch psychologische Analyse der Gedankenwelt ein innerer Maßstab gefunden ist, an dem jedes Urteil gemessen wird. Davon war Protagoras noch weit entfernt. Aber auch für ihn war die Konsequenz seines Satzes nicht, daß nun jede Möglichkeit der Diskussion aufhöre, weil ein jeder von seinem Standpunkt aus recht habe – dann hätte er ja überhaupt nicht als Erzieher auftreten können –, sondern daß es die Aufgabe des Lehrers sei, das subjektiv jederzeit berechtigte, und daher, so lange es besteht, auch für den Aussagenden gültige Urteil des Schülers zu läutern, ihn von einem niederen und schlechteren zu einem höheren und besseren Urteil zu führen. Hier offenbart sich eben die Naturanlage jedes einzelnen Menschen, mit der der Lehrer rechnen muß. »Naturanlage und Übung bedarf die Erziehung, und von Jugend auf muß man lernen«, sagt Protagoras1033, intellektuell wie sittlich; nur wenn beides zusammenkommt, kann er die Höhe der Bildung und der Tugend erreichen. Da war denn allerdings der Einwand vollkommen berechtigt, den Sokrates gegen ihn erhob und Plato theoretisch begründete, daß er damit doch einen Maßstab anerkenne, der über dem subjektiven Urteil des Einzelnen stehe, daß den objektiven Begriffen doch eine allgemeine Realität zukommen müsse. Aber diese Folgerung hat Protagoras nicht gezogen: man darf von dem Begründer einer neuen Weltanschauung nicht verlangen, daß er sie sogleich bis in ihre letzten Konsequenzen durchbilde und alle Probleme löse, die sich auf ihrem Boden erheben. Die Folge aber war, daß in der Wirkung der neuen Erkenntnis die negativen und zersetzenden Konsequenzen durchaus überwogen1034.

[899] Protagoras' Satz ist, mochte es den Einzelnen bewußt sein oder nicht, in Theorie und Praxis die Basis der gesamten Sophistik. Real sind nur die Sinneseindrücke; diese sind aber unsicher und schwankend und gelten nur für den jedesmal Wahrnehmenden; daher gibt es keine absolute, sondern nur relative Erkenntnis. Daraus ergibt sich die Konsequenz: »über jede Frage gibt es zwei entgegengesetzte Reden (Argumentationen)«. Das hat Protagoras in seinen »niederwerfenden Reden«1035 an einzelnen Beispielen näher ausgeführt. Des weiteren folgt, daß alle Werturteile und daher auch alle sittlichen Begriffe nicht von Natur existieren, sondern auf menschlicher Konvention, auf »Satzung« beruhen. Beiden Sätzen sind wir schon wiederholt begegnet; sie sind nicht aus der Sophistik erwachsen, sondern von ihr aus der geistigen Entwicklung der Zeit aufgenommen und in feste Form gebracht. Sie werden geradezu zu Modethemen der Zeit; mit großer Virtuosität hat Euripides sie immer aufs neue behandelt. Auch die Philosophen können sie nicht mehr außer acht lassen; als der erste von ihnen, der gesagt habe, die Begriffe des Gerechten und [900] Schimpflichen beruhten nicht auf Natur, sondern auf Satzung, wird Archelaos von Athen (o. S. 876) genannt1036. »Wir alle«, läßt Plato1037 z.B. den Hippias sagen, »sind Verwandte und Mitbürger von Natur, aber nicht nach dem Gesetz; denn von Natur ist das Gleiche dem Gleichen verwandt, das Gesetz aber, als Herrscher über die Menschen«, – der so oft zitierte Pindarische Satz – »erzwingt vieles gegen die Natur«. Daher haben alle in den einzelnen Staaten bestehenden Gesetze nur relative Gültigkeit; sie sind Menschenwerk und werden fortwährend nach den menschlichen Bedürfnissen geändert. Auch die »ungeschriebenen Gesetze«, die von allen oder doch den meisten Menschen beobachtet werden, beruhen nur auf uralter, allen gemeinsamer Konvention – und auch hier zeigt die erweiterte Erfahrung, wie schon Herodot ausgesprochen und unter anderem Hippias weiter ausgeführt hat (o. S. 895), daß die Anschauungen sich diametral entgegenstehen und daß, was dem einen Volke als der größte Frevel gilt, bei anderen geheiligte Sitte ist – z.B. die Ehe unter den Blutsverwandten bei den Persern oder der Brauch der Magier, die Leichen den Vögeln zum Fraße hinzusetzen, oder gar bei wilden Völkern, die Eltern totzuschlagen und zu verzehren. Eine weitere Konsequenz war, daß auch die Sprache eine Schöpfung des Menschen ist und nur auf Konvention beruht; daraus ergab sich einerseits die Synonymik des Prodikos, der die Worte nur in dem Sinne gebrauchen will, in dem die sprachlichen Gesetzgeber sie geschaffen haben, andererseits die Berechtigung, Fehler, die diese Gesetzgeber begangen haben, zu korrigieren, z.B. in der Bezeichnung der Geschlechter; das hat namentlich Protagoras gefordert. Auch auf die Götter wird die Lehre angewandt. Darüber ist man einig, weit über die Kreise der Sophistik hinaus, daß auch sie und mit ihnen der Kultus nur auf Konvention beruht – diese Ansicht tritt schon bei Herodot hervor. Prodikos meinte die Götter aus der Verehrung der den Menschen nützlichen Naturdinge ableiten zu können: Sonne, Mond, Quellen, Wasser, Wein, Brot u.a. – er berief sich darauf, daß die [901] Ägypter den Nil verehren1038. Tiefer griff auch hier Protagoras: »über die Götter bin ich nicht imstande etwas zu wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind. Denn vieles ist, was das Wissen hindert, die Unklarheit (gemeint ist wohl die Unerkennbarkeit des Gegenstandes) und die Kürze des menschlichen Lebens.« Die Konsequenz für die Formen der Anschauung hat in höchst anerkennenswerter Weise Antiphon gezogen, trotz seiner dürftigen Naturphilosophie: er erklärte die Zeit und die Ausdehnung, z.B. die Länge einer Linie, nicht für Realitäten, die an sich existieren, sondern für Begriffe des Erkenntnisvermögens, der γνώμη1039. Die größte Schwierigkeit für den Sensualismus und Subjektivismus bildete die Existenz der Mathematik, die nicht nur eine absolute und allgemeingültige Wahrheit zu geben, sondern sogar den Sinneseindrücken die Norm vorzuschreiben und sie zu rektifizieren behauptete; notwendig mußten die Sophisten das bestreiten und sich demgegenüber auf die sinnliche Anschauung berufen. So erfahren wir, daß Protagoras, auf den Augenschein gestützt, behauptete, daß die Tangente den Kreis in mehr als einem Punkte berühre1040. Dem entspricht es, daß Hippias ein geometrisches Problem durch eine mechanische Konstruktion löste, deren Verwendbarkeit die strenge Wissenschaft niemals anerkennen konnte (o. S. 895f.), und daß Antiphon die Quadratur des Kreises sehr einfach dadurch lösen wollte, daß er in den Kreis so lange reguläre Polygone von immer größerer Seitenzahl einschrieb, bis das letzte für das Auge von der Kreislinie nicht mehr zu unterscheiden war1041.

[902] So haben die Sophisten eine große Zahl anregender Gedanken in die Welt geworfen; und vor allem haben sie das Denken gründlich aufgerüttelt, indem sie mit ihrer Methode, jede Frage von zwei Seiten zu behandeln, überall den überkommenen Anschauungen entgegentraten und alles und jedes in Frage stellten. Nur freilich darf man über ihren bedeutenden Leistungen die unerfreulichen Seiten ihres Wirkens nicht übersehen, wie das von modernen Apologeten nur zu oft geschehen ist. Das Problematische und die Disharmonie, die sie in der Diskussion hervorkehren, bilden den Kern ihres Wesens. Überall dominiert, in schroffstem Gegensatz zu den sachlichen Interessen der Philosophen, die Persönlichkeit des Lehrers, der das Renommieren nicht lassen kann und nicht lassen darf, wenn er den materiellen Erfolg haben will, der für ihn trotz allem doch die Hauptsache ist. Das Disputieren, die Kunst, den Gegner und den gewöhnlichen Laienverstand zu überrumpeln und zu blenden, wird zur Hauptsache. Die Folge ist, daß die formalistische Virtuosität nur zu oft dazu dienen muß, die Dürftigkeit des Gehalts zu verhüllen. Allbekannt ist die Schalheit der sophistischen Trugschlüsse; eine Frage wirklich ernsthaft durchzudenken, haben die wenigsten Fähigkeit und Neigung. Auch in Protagoras' Schriften mögen diese Schattenseiten oft stark hervorgetreten sein; trotzdem würden ohne Zweifel, da er wirklich ein bedeutender Denker war, seine Schriften, wären sie erhalten, auch uns einen großen Genuß gewähren. Ob aber von Hippias und Prodikos das gleiche gesagt werden kann, ist mindestens recht fraglich. Erhalten sind uns von der älteren sophistischen Literatur außer ein paar kleinen rhetorischen Kunststücken des Gorgias (o. S. 620, 2) und drei unter Antiphons Namen überlieferten, aber nicht von ihm herrührenden Musterbeispielen für Mordprozesse, bei denen die erschöpfende theoretische Erörterung schwieriger Situationen, in Weiterbildung der Art des Tisias (o. S. 620), dem Verfasser die Hauptsache ist1042, nur noch zwei Aufsätze. Der eine ist eine Verteidigung der Medizin gegen die Angriffe derer, «die ein Gewerbe daraus machen, die Gewerbe zu schmähen, um so ihre eigene Gelahrtheit [903] zur Schau zu stellen». Ihr Verfasser zeigt die Kunst des Sophisten, über jeden Gegenstand – er hat wie Protagoras auch andere Berufe in seinen öffentlichen Vorträgen in derselben Weise behandelt – mit Geschick zu reden und dabei ein geistreiches Paradoxon (daß der Arzt diejenigen, deren die Krankheit schon völlig Herr geworden ist, überhaupt nicht behandeln soll) gewandt zu verteidigen, in hellem Licht. Verwandt, aber von Ärzten verfaßt, die sich ganz der modernen Zeitströmung hingaben, sind eine große Zahl anderer Schriften der Hippokratischen Sammlung1043. Noch lebendiger in das Getriebe der Sophistik führt uns die kleine, unter dem Namen διαλέξεις überlieferte Schrift, die kurz nach dem Ende des Peloponnesischen Kriegs verfaßt ist und an Lehren des Hippias anklingt, namentlich in der zum Schluß angepriesenen Mnemotechnik, ja vielleicht von ihm selbst herrührt. Zum Teil mit den törichtsten Argumenten wird hier der Reihe nach bewiesen, daß gut und schlecht, schön und häßlich, gerecht und ungerecht, wahr und falsch dasselbe und nicht dasselbe ist. Dagegen die Behauptung, »daß Verrückte und Vernünftige, Weise und Toren dasselbe tun und reden« und daß alles zugleich sei und nicht sei, will der Verfasser nicht anerkennen, und ebensowenig die weitverbreitete Behauptung, daß »Weisheit und Tugend weder lehrbar noch lernbar seien« – das würde ja auch die Lehrtätigkeit der Sophisten unmöglich machen. Nach einer Polemik gegen die Losämter der Demokratie, welche die Unterschiede der Befähigung und Gesinnung nicht berücksichtigen, führt er dann den sophistischen Hauptsatz aus, daß »es Aufgabe desselben Mannes und derselben Kunst« – nämlich, wie sogleich gesagt wird, »dessen, der die Kunst der Reden versteht« – «ist, in kurzen Worten zu diskutieren und die Wahrheit der Dinge zu wissen und richtige Urteile zu sprechen und Volksreden halten zu können und die Redekunst zu verstehen und über die Natur des Alls, wie es ist [904] und geworden ist, zu lehren». Kurzum, «er muß alles verstehen». So ist die kleine Schrift recht eigentlich ein Kompendium der gesamten Sophistenkunst und führt uns die innere Hohlheit und zugleich die selbstgefällige Gespreiztheit, zu der dies ganze Treiben nur zu bald entartet ist, in ihrer vollen Glorie vor Augen. Darin besteht der außerordentliche Wert der Schrift: sie beweist, daß Platos Schilderungen keineswegs Karikaturen sind, sondern getreue Schilderungen nach dem Leben1044.

Der Erfolg, den die Sophisten erzielt haben, war außerordentlich. Das Bildungsbedürfnis war allgemein geworden, und wenn sie auch überall Opposition hervorriefen, so strömte ihnen doch alles zu, wo immer sie erschienen, in großen und kleinen Orten, im Westen wie im Osten. »Als ich nach Sizilien kam«, läßt Plato den Hippias sagen, »habe ich, obwohl Protagoras dort war und auf der Höhe seines Ruhmes stand, als viel jüngerer Mann doch in ganz kurzer Zeit nicht weniger als 150 Minen (14500 Mark) gemacht, davon an einem ganz kleinen Orte, der Sikelerstadt Inykon (o. S. 613), nicht weniger als zwanzig ... Überhaupt glaube ich mehr Geld gemacht zu haben als irgend zwei andere Sophisten zusammengenommen.« Alle vier Jahre erschien er in Olympia, um hier bei den Nationalspielen über jedes vom Publikum gewünschte Thema zu reden und zu disputieren. Ähnliche Resultate hatten Protagoras, Gorgias, Prodikos aufzuweisen. Gorgias hat in seinen späteren Jahren im griechischen Mutterlande, zuletzt in Thessalien, wo er sich auf seine alten Tage dauernd niederließ, überall den gewaltigsten Erfolg geerntet und den Weihrauch, den man ihm darbrachte, mit vollen Zügen eingesogen. In Delphi hat er selbst sich eine goldene Statue errichtet1045, »nicht als Beweis seines Reichtums, sondern der Frömmigkeit seines Charakters«, [905] wie sein Großneffe hervorzuheben nicht vergißt, als er in Olympia ein Standbild seines berühmten Verwandten und Lehrers aufstellte, »der eine schönere Kunst als irgendein anderer Sterblicher erfunden hat, um den Geist für die Wettkämpfe der Tugend zu üben«1046. Es konnte kaum anders sein: alle praktischen und alle idealen Bedürfnisse der Nation vereinigten sich, um der Sophistik einen beispiellosen Triumphzug durch ganz Hellas zu bereiten. Für den Erfolg im Leben brauchte man die neue Kunst dringender als Geld und Brot, da sie beides verschaffte. Zugleich aber hatte die geistige Entwicklung überall dahin geführt, das Alte in Frage zu stellen und als veraltet beiseitezuwerfen; dringend bedurfte man einer neuen, auf ganz anderen Grundlagen aufgebauten Kultur. Der Bildungstrieb war erwacht. Der persönliche Ehrgeiz, der sich früher im gymnastischen Sport, im Wettrennen, in der Freigebigkeit oder in dem Streben nach einer gesegneten, alle anderen überflügelnden Wirksamkeit im Kreise der Mitbürger entfaltet hatte, warf sich jetzt mit aller Macht auf die neue Bildung, die der schrankenlosen Entfaltung der Individualität zugleich das Programm und die intellektuelle Rechtfertigung gab. Man wollte mit aller Gewalt gebildet sein und mehr noch gebildet erscheinen, hinter niemand zurückstehen, sich sonnen im Lichte seines Geistes, den Kameraden und namentlich der Masse zeigen, wie sehr man sie überrage. Schon war der bisherige Träger der Kultur, die Poesie, in die neuen Bahnen eingemündet; Euripides, in derselben Zeitströmung wurzelnd, hat der Sophistik den Boden bereitet und sie gefördert wie kein anderer, nicht nur in Athen, sondern von hier aus in ganz Hellas. Daher hat er eben, dem inneren Zwange seines Wesens gehorchend, er mochte wollen oder nicht, das Drama zerschlagen, um der Diskussion der Probleme Raum zu schaffen. Mit ihm endet die führende Stellung der griechischen Poesie, und an ihre Stelle tritt zunächst die sophistische Literatur. Wie ein wilder Taumel, wie eine verheerende Epidemie ergreift die Sophistik die ganze Griechenwelt; man berauscht sich an dem Klang der Rede, [906] an der Kunst der Wortfügung, am spitzfindigen Wortgefecht in einer Weise, die jeder anderen Epoche als der eines akuten Gärungsprozesses völlig unbegreiflich erscheint. Oft erhält man den Eindruck, als sei aller Geschmack und aller Sinn für das Vernünftige und Wahre der Nation abhanden gekommen1047.

In den Absichten der Begründer der Sophistik lag dies Ergebnis ihrer Tätigkeit nicht; sie wollten aufklären und erziehen und dabei vielleicht blenden, aber nicht die Köpfe verwirren oder gar die sittlichen Begriffe ins Schwanken bringen. Protagoras war zweifellos ein Ehrenmann; er folgte einem inneren Triebe so gut wie Euripides, wenn er als Lehrer auftrat. Auch in seinen Honorarforderungen wahrte er den Anstand; wenn der Schüler sie übertrieben fand, ließ er diesen selbst, nachdem er im Tempel geschworen hatte, ehrlich zu verfahren, den Wert des Unterrichts abschätzen. Prodikos war von ernsten, zum Pessimismus neigend sittlichen Anschauungen erfüllt. Gorgias war ein besonnener Praktiker, der sich nie irgendeinen Exzeß zuschulden kommen ließ und sich bis ins höchste Alter die Gesundheit und die Klarheit des Geistes erhielt. Die Moral, welche die Sophisten lehrten, entsprach durchaus den sittlichen Anschauungen der Zeit, ja ging vielleicht in manchen Punkten darüber hinaus: mit völlig berechtigtem Abscheu konnten sie alle den Vorwurf abweisen, daß sie ihre Schüler zur Unsittlichkeit erzögen. Wenn sie ihnen die Kunst beibrachten, jede Ansicht vertreten und jeder Zeit durchsetzen zu können, so ist doch bei Protagoras und anderen kein Zweifel, daß ihre Absicht nur war, dem Schüler die Fähigkeit zu geben, die bessere Ansicht durchzusetzen und höhere und berechtigte Ziele zu erstreben. Aber die Konsequenzen ihrer eigenen [907] Lehre sprachen gegen sie; wenn die individuelle Auffassung immer und überall berechtigt war, ja allein die Wahrheit bestimmte, wenn es eine absolute Wahrheit nicht gab, was ist dann dieses Bessere und diese Tugend, die die Sophisten lehren wollen? Wo gab es dann noch eine Garantie, daß der Schüler nicht die niedrigsten und verwerflichsten Ziele als die allein berechtigten hinstellte? Wenn Protagoras selbst seine Kunst dahin formulierte, er lehre »die schwächere Sache zur stärkeren zu machen«, so war es zwar nicht in seinem Sinn, aber doch unvermeidlich und auch nicht unberechtigt, daß die Gegner den Satz ethisch faßten und behaupteten, er lehre die ungerechte Sache über die gerechte siegen zu machen. Ob Plato berechtigt war, wenn er die letzte Konsequenz des Individualismus, die sittlichen Begriffe seien nur Blendwerk für die Menge, und jede überlegene Einzelpersönlichkeit habe das Recht, nur ihrem Begehren zu folgen und sich unbekümmert um alle Moral durchzusetzen, dem Thrasymachos in den Mund legt, wissen wir nicht; aber die Konsequenz der sophistischen Lehre war es allerdings, und manche Schüler der Sophisten, wie Alkibiades und Kritias, haben sie gezogen. Wirklich folgerichtig verfuhr hier nur Gorgias, der gewiegte Praktiker, der den Anspruch, Tugend lehren zu wollen, als lächerlich verachtete. Er will seinen Schülern nur die Redekunst beibringen und nichts anderes; wozu sie sie verwerten, ist ihre Sache, und dafür ist er ebensowenig verantwortlich wie irgendein Handwerker für den Mißbrauch des von ihm gearbeiteten und verkauften Werkzeugs (Plato Meno 95 c. Gorgias 456ff.). Aber das Volksgewissen durfte sich bei einer derartigen Apologie nicht beruhigen: im letzten Grunde waren die Lehrer und vor allem die Lehre doch verantwortlich für das, was die Schüler mit ihr anfingen. Ein Stehenbleiben auf dem Standpunkt der Sophisten wäre gleichbedeutend gewesen mit dem moralischen und intellektuellen Untergang der Nation.

So war der Konflikt unvermeidlich. Der Kampfboden war gegeben: Athen hatte zu zeigen, ob es der Nation noch mehr bieten könne als die politische Führung und glänzende Festlichkeiten auf der Grundlage der alten Kultur, ob es wirklich sei, [908] was es zu sein behauptete, die Bildungsstätte für ganz Hellas. Aber dieses entscheidende Ringen auf geistigem Gebiet ist so innig verflochten mit dem gleichzeitig ausbrechenden politischen Entscheidungskämpfe, daß beide nur im engeren Zusammenhang dargestellt werden können.

Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Meine Erinnerungen an Grillparzer

Meine Erinnerungen an Grillparzer

Autobiografisches aus dem besonderen Verhältnis der Autorin zu Franz Grillparzer, der sie vor ihrem großen Erfolg immerwieder zum weiteren Schreiben ermutigt hatte.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon