[331] SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Hoher Gerichtshof, ich möchte den Gerichtshof um die Erlaubnis bitten, eine kurze Erklärung über die Quelle des Dokuments abgeben zu dürfen, das sich auf Stalag Luft III bezieht und gestern vom Gerichtshof besprochen wurde.
VORSITZENDER: Ja, bitte.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Zur Zeit, als das Beweismaterial für dieses Verfahren gesammelt wurde, war die Sachlage die, daß jede in Betracht kommende Regierung ersucht wurde, Regierungsberichte beizubringen. Solche Regierungsberichte wurden geliefert und tatsächlich auch von den verschiedenen Abteilungen der Anklagebehörden dem Gerichtshof vorgelegt.
Das Dokument über die Erschießung von Gefangenen in Stalag Luft III war ein britischer Regierungsbericht dieser Art. Er wurde auf der Grundlage verschiedener Informationen zusammengestellt, die in den Beilagen enthalten sind. In diesen Informationen war auch das Verhör des Generals Westhoff enthalten, das, wie tausend andere Dokumente, der Kommission der Vereinten Nationen zur Untersuchung von Kriegsverbrechen zur Entscheidung übersandt wurde, ob irgendwelche Schritte in der darin behandelten Angelegenheit unternommen werden sollten.
Dieses Dokument wurde dann von der Kommission der Vereinten Nationen zur Untersuchung von Kriegsverbrechen an die Britische Regierung weitergesandt und als Teil des im britischen Regierungsbericht verarbeiteten Materials behandelt.
Der Bericht der Britischen Regierung ist von mir dahingehend beglaubigt, daß er einen offiziellen Regierungsbericht darstellt. Ich habe die besondere Ermächtigung der Regierung Seiner Majestät in Britannien, eine derartige Beglaubigung vorzunehmen.
Sie ist sehr kurz und es ist vielleicht passend, sie zu verlesen, damit sie im Protokoll erscheint. Ich habe eine Abschrift, die auf amtlichem Kabinettsbriefpapier geschrieben und vom Sekretär des Kabinetts, Sir Edward Bridges, unterzeichnet ist. Das Original ist an den Generalstaatsanwalt gesandt worden, und das Dokument betrifft uns beide. Es kann jedoch kein Zweifel an seiner Echtheit bestehen, und das Original kann notfalls vorgelegt werden. Das Dokument hat folgenden Wortlaut:
»Seiner Majestät Regierung im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland hat den Sehr Ehrenwerten [331] Sir Hartley Shawcross, K. C., M. P., Hauptankläger des Vereinigten Königreichs, gemäß Artikel 14 des Statuts, das der Vereinbarung vom 8. August 1945 anliegt, sowie den Sehr Ehrenwerten Sir David Maxwell-Fyfe, K. C., M. P., stellvertretenden Hauptankläger für das Vereinigte Königreich, ermächtigt, diejenigen Dokumente zu beglaubigen, die beim Prozeß gegen die Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof vorgelegt werden, soweit sie Dokumente Seiner Majestät Regierung im Vereinigten Königreich sind.«
Ich erlaube mir daher die Behauptung aufzustellen, daß auf Grund meiner Beglaubigung das Dokument zu einem Regierungsdokument im Sinne des Artikels 21 des Statuts wurde, und deshalb ein zwingendes Gebot für den Gerichtshof besteht, dieses Dokument amtlich zur Kenntnis zu nehmen. Nach meiner ergebenen Ansicht sollte das Dokument als Beweis zugelassen werden. Es ist dann natürlich Sache der Verteidigung, falls sie es wünscht, einen Zeugen vorzuladen und sodann entsprechende Anträge zu stellen, während es Sache des Gerichtshofs ist, darüber zu entscheiden.
Ich erlaube mir jedoch ergebenst zu behaupten, daß ein Dokument durch meine Beglaubigung zu einem Regierungsdokument im Sinne des Artikels 21 wird, und das Statut es dem Gerichtshof daraufhin zur Pflicht macht, es amtlich zur Kenntnis zu nehmen.
VORSITZENDER: Sir David, der Gerichtshof hat das Dokument gestern zugelassen, aber wir danken Ihnen für Ihre Erklärung. Nichts in den Entscheidungen des Gerichtshofs widerspricht dem, was Sie vorgebracht haben.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Sehr wohl, Euer Lordschaft.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Erlauben Sie mir fortzufahren?
VORSITZENDER: Ja, Oberst Smirnow.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Meine Herren Richter, ich werde mir erlauben, Sie an einige Ziffern zu erinnern, die ich gestern nachmittag verlesen habe. Ich spreche von der Zahl der getöteten Juden in Polen und in der Tschechoslowakei. Ich werde mir erlauben, Sie daran zu erinnern, daß die Zahl, die ich gestern auf Grund des polnischen Berichts nannte, von der Vernichtung von 3 Millionen Juden in Polen spricht. In der Tschechoslowakei sind von 118000 Juden nur 6000 übriggeblieben.
Ich erlaube mir, auf den Bericht der Jugoslawischen Regierung Überzugehen, und werde einen Absatz zitieren, den die Herren Richter auf Seite 75, Absatz 3 Ihres Dokumentenbuches finden können. Ich zitiere:
»Von 75000 jugoslawischen Juden und von ca. 5000 jüdischen Emigranten aus anderen Ländern, die zur Zeit des Überfalls in Jugoslawien waren, das heißt von einer [332] Gesamtzahl von ca. 80000 Juden blieben nach der Besetzung nur ca. 10000 Menschen am Leben.«
Ich bitte den Gerichtshof, zur Bekräftigung der Angaben dieses Teiles meines Vortrags den Zeugen Abram Gerzewitsch Suzkewer vorzuladen. Er ist ein jüdischer Schriftsteller, der zusammen mit seiner Familie ein Opfer der deutsch-faschistischen Verbrecher in dem zeitweilig besetzten Gebiet der Litauischen Sowjet-Republik wurde.
Ich bitte den Gerichtshof, mir zu erlauben, jetzt den Zeugen vorzuführen.
VORSITZENDER: Jawohl.
[Der Zeuge Suzkewer betritt den Zeugenstand.]
VORSITZENDER: Wie heißen Sie?
ZEUGE ABRAM GERZEWITSCH SUZKEWER: Suzkewer.
VORSITZENDER: Sind Sie sowjetischer Staatsbürger?
SUZKEWER: Ja.
VORSITZENDER: Wollen Sie mir nachsprechen?
Ich – und nennen Sie Ihren Namen – Staatsbürger der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken, als Zeuge in diesem Verfahren vorgeladen, verspreche und schwöre, in Gegenwart des Gerichtshofs, daß ich dem Gerichtshof über alles, was ich in dieser Strafsache weiß, nichts als die Wahrheit sagen werde.
[Der Zeuge wiederholt die Eidesformel.]
VORSITZENDER: Sie können sich setzen, wenn Sie es wünschen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Darf ich jetzt zum Verhör übergehen, Herr Vorsitzender?
VORSITZENDER: Jawohl.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie bitte, Zeuge, wo waren Sie zur Zeit der deutschen Besetzung?
SUZKEWER: In der Stadt Wilna.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Haben Sie längere Zeit während der deutschen Besetzung in der Stadt verweilt?
SUZKEWER: Ich bin dort während der deutschen Besetzung vom ersten bis fast zum letzten Tag geblieben.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Waren Sie Zeuge der Judenverfolgung in der Stadt?
SUZKEWER: Ja.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich möchte Sie bitten, dem Gerichtshof darüber etwas zu sagen.
[333] SUZKEWER: Als die Deutschten meine Stadt Wilna besetzten, waren dort ungefähr 80000 Juden. Sofort wurde auf der Wilnaer Straße Nr. 12 ein sogenanntes Sonderkommando eingerichtet, dessen Chefs Schweichenberg und Martin Weiß waren. Die Häscher dieses Sonderkommandos, »Chapun«, wie die Juden sie nannten, drangen bei Tag und bei Nacht in jüdische Wohnungen ein und schleppten Männer heraus, befahlen ihnen, ein Stück Seife und ein Handtuch mitzunehmen und trieben sie in die Richtung des Städtchens Ponari, 8 km von Wilna entfernt, von wo aus fast keiner mehr zurückkehrte. Als die Juden merkten, daß ihre Verwandten nicht zurückkehrten, versteckte sich ein großer Teil der Bevölkerung. Die Deutschen kamen aber mit Polizeihunden an und stöberten sie auf. Viele wurden gefunden, und wer nicht mitkommen wollte, wurde auf der Stelle erschossen. Ich muß hinzufügen, daß die Deutschen behaupteten, die Vernichtung der Juden sei gesetzlich. Am 8. Juli wurde ein Erlaß herausgegeben, nach dem alle Juden ein Zeichen auf dem Rücken zu tragen hatten. Später mußten sie dieses Zeichen auch auf der Brust tragen. Dieser Befehl war vom Kommandanten der Stadt Wilna, Zehnpfennig, unterschrieben. Am zweiten Tage jedoch hat ein anderer Kommandant, Neumann, einen neuen Erlaß herausgegeben, der anordnete, daß man diese Flecken nicht mehr tragen solle, sondern einen gelben Davidstern.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Was heißt das, gelber Davidstern?
SUZKEWER: Der Davidstern ist ein sechseckiger Stern, den man auf dem Rücken und der Brust tragen mußte, um die Juden von der anderen Stadtbevölkerung zu unterscheiden.
Am dritten Tag kam ein neuer Erlaß heraus. Man mußte eine blaue Armbinde mit einem weißen Stern tragen. Aber die Juden wußten nicht, welches Zeichen zu tragen war, weil sie sehr wenig in der Stadt waren, und diejenigen, die dieses Zeichen nicht trugen, wurden verhaftet und man hat sie nie wiedergesehen.
Am 17. Juli 1941 war ich Augenzeuge eines großen Pogroms in Wilna, und zwar in der Nowgorodstraße. Die Anführer dieses Pogroms waren die obengenannten Schweichenberg und Martin Weiß, ein gewisser Herring und ein deutscher Chef der Gestapo, Schönhaber. Sie umzingelten den Bezirk durch Sonderkommandos, trieben alle Männer auf die Straße hinaus und befahlen ihnen, ihre Gürtel abzunehmen und die Hände auf den Kopf zu legen, so:
[Der Zeuge macht die Bewegung.]
Als das ausgeführt war, trieb man sie in das Luktschinagefängnis. Als sich die Juden jedoch auf den Marsch begaben, fingen die Hosen an zu rutschen und sie konnten nicht weitergehen. Wer die Hose mit der Hand hochziehen wollte, wurde auf der Stelle erschossen. Ich habe selbst gesehen, als sich meine Kolonne in Bewegung setzte, daß auf der Straße ungefähr 100 bis [334] 150 Erschossene lagen, und die Blutströme liefen die Straße entlang, als wäre ein roter Regen herabgekommen.
In den ersten Tagen des Monats August 1941 hat mich ein Deutscher auf der Dokumentenstraße, als ich zu meiner Mutter gehen wollte, aufgegriffen und zu mir gesagt: »Komm mit mir. Du wirst in einem Zirkus spielen.« Als ich mit ihm ging, sah ich, daß ein zweiter Deutscher einen alten Juden, den alten Rabbiner dieser Straße, Kassel, anschleppte, und ein dritter Deutscher hatte bereits einen jungen Burschen. Als wir zur alten Synagoge kamen, die in der Straße war, sah ich, daß dort Holz in Form einer Pyramide aufgeschichtet war. Ein Deutscher zog einen Revolver hervor und sagte, wir sollten unsere Kleidung ausziehen. Als wir nackt dastanden, kam er und zündete mit einem Streichholz den Holzstoß an. Dann kam ein weiterer Deutscher und schleppte aus der Synagoge drei Thorarollen heraus, gab uns diese und sagte, daß wir um den Scheiterhaufen tanzen und russische Lieder singen sollten. Hinter uns standen diese drei Deutschen und trieben uns mit den Bajonetten gegen das Feuer und lachten. Als wir fast bewußtlos waren, gingen die Deutschen weg. Aber ich muß sagen, daß die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung in Wilna dann begann, als der Bezirkskommissar Hans Fincks sowie der Referent für jüdische Fragen, Muhrer, nach Wilna kamen.
Am 31. August wurde unter Anführung des Bezirkskommissars und Muhrers...
VORSITZENDER: In welchem Jahre?
SUZKEWER: Im Jahre 1941.
VORSITZENDER: Fahren Sie fort!
SUZKEWER: Unter Anführung des Bezirkskommissars Fincks und Muhrers wurde vom Sonderkommando das alte jüdische Viertel in Wilna umzingelt, und zwar die Rudnitskajastraße, die Jüdische Straße, die Galonzkigasse, die Schabelski- und Straschunastraße, wo ungefähr 8000 bis 10000 Juden wohnten. Ich war damals krank und schlief. Aber plötzlich fühlte ich einen Peitschenhieb. Als ich aus dem Bett sprang, sah ich, daß Schweichenberg vor mir stand, und neben ihm ein großer Hund. Er schlug alle und trieb uns auf den Hof. Als ich in den Hof kam, sah ich viele Frauen, Kinder und Greise, alle Juden, die dort wohnten. Schweichenberg ließ vom Sonderkommando alle umzingeln und sagte, daß er uns zum Ghetto führe. Aber natürlich war das, was der Deutsche sagte, wie immer, eine Lüge.
In Kolonnen nachts durch die Stadt wurden wir zum Lutischtschewgefängnis geführt, und wir wußten alle, daß das nicht das Ghetto bedeutete, sondern den Tod. Als wir im Lutischtschewgefängnis ankamen, in der Nähe des sogenannten Lutischkinmarktes, [335] sahen wir dort ein Spalier von Deutschen mit weißen Stöcken, die bereits dastanden, um uns zu empfangen. Als wir durch das Spalier gingen, wurden wir geschlagen, und wenn jemand hinfiel, so sagte man zum nächsten Juden, er solle ihn aufheben und durch eine große Tür ins Gefängnis tragen. Vor dem Gefängnis lief ich weg. Ich schwamm durch den Fluß Wilja und versteckte mich im Haus meiner Mutter. Meine Frau, die damals im Gefängnis war und die später entfloh, erzählte mir, daß sie dort den bekannten jüdischen Professor Moloch Prilutzky gesehen hat, der im Sterben lag, auch den Präsidenten der jüdischen Gemeinde in Wilna, Dr. Jakob Wigotzky, den jungen jüdischen Historiker Pinkus Kohn, sowie die bekannten Künstler Hasch und Kadisch, die bereits tot waren. Die Deutschen haben alle geprügelt, beraubt und ihre Opfer dann ins Dorf Ponari gefahren.
Am 6. September, um 6 Uhr morgens, haben Tausende von Deutschen unter Anführung des Bezirkskommissars Fincks, Muhrer, Schweichenberg, Martin Weiß und anderer die ganze Stadt umzingelt, sind in die jüdischen Häuser eingebrochen und gaben den jüdischen Einwohnern Befehl, nur das mitzunehmen, was sie tragen konnten. Sie mußten auf die Straße hinausgehen. Dann wurden sie ins Ghetto geführt. Als wir die Wilkomirowskajastraße entlanggingen, sah ich, daß die Deutschen kranke Juden aus dem Krankenhaus in ihren blauen Krankenkitteln herausgebracht hatten. Sie wurden vor die Kolonne gestellt, und ein deutscher Filmoperateur filmte die Szene.
Aber ich muß sagen, daß nicht alle Juden in dieses Ghetto getrieben wurden. Fincks tat dies mit Vorbedacht. Die jüdischen Einwohner einer Straße wurden in ein Ghetto und die einer anderen nach Ponari getrieben. Vorher hatten die Deutschen in Wilna zwei Ghettos eingerichtet. Im ersten Ghetto waren 29000 Juden und im zweiten 15000 Juden. Ungefähr die Hälfte der jüdischen Bevölkerung von Wilna ist nicht bis zum Ghetto gekommen, sondern wurde auf dem Wege erschossen. Ich erinnere mich, als wir im Ghetto ankamen...
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Einen Augenblick! Habe ich Sie richtig verstanden, daß, bevor das Ghetto eingerichtet, die Hälfte der jüdischen Bevölkerung von Wilna bereits ausgerottet war?
SUZKEWER: Ja, das ist richtig.
Bei meiner Ankunft im Ghetto sah ich, daß Martin Weiß mit einem jüdischen Mädchen hineinging, er betrachtete es; als wir weitergingen, nahm er einen Revolver und erschoß es. Das Mädchen hieß Gitele Tarlow.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wie alt war das Mädchen?
SUZKEWER: Das Mädchen war 11 Jahre alt.
Ich muß sagen, daß das Ghetto von den Deutschen nur eingerichtet wurde, um die Bevölkerung bequemer zu vernichten. Der Chef des [336] Ghettos war der Kommissar für jüdische Fragen, Muhrer. Er erließ eine Reihe von verrückten Befehlen. Zum Beispiel: Die Juden durften keine Uhren haben; die Juden durften im Ghetto nicht beten; wenn ein Deutscher vorbeiging, mußte man den Hut abnehmen, aber man durfte ihn nicht anschauen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Waren das amtliche Befehle?
SUZKEWER: Jawohl, es waren Muhrers Befehle.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wurden diese Befehle im Ghetto angeschlagen?
SUZKEWER: Jawohl.
Wenn Muhrer ins Ghetto kam und die jüdischen Werkstätten besuchte, befahl er allen Arbeitern, sich auf den Boden zu legen und wie Hunde zu bellen.
Am Versöhnungstag im Jahre 1941 sind Schweichenberg und das deutsche Sonderkommando in das zweite Ghetto eingedrungen und haben alle alten Männer verhaftet, die in der Synagoge beteten. Sie führten sie nach Ponari. Ich entsinne mich eines Tages, als Schweichenberg in das zweite Ghetto kam, und die Häscher die Juden zusammentrieben.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wer waren diese Häscher?
SUZKEWER: Es waren Soldaten des Sonderkommandos, die die jüdische Bevölkerung des Ghettos Häscher nannte.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Es waren also Soldaten des Sonderkommandos, die die jüdische Bevölkerung des Ghettos Häscher nannte?
SUZKEWER: Ja.
Die Häscher schleppten die Juden aus den Kellern und versuchten, sie nach Ponari zu treiben. Aber die Juden wußten bereits, daß keiner von ihnen zurückkommen würde und wollten, nicht mitgehen. Danach begann Schweichenberg auf die Bevölkerung des Ghettos zu schießen. Neben ihm stand ein großer Hund, und als dieser Schüsse hörte, sprang er Schweichenberg an und versuchte, ihn in die Gurgel zu beißen. Der Hund war anscheinend toll geworden. Dann tötete Schweichenberg den Hund und sagte uns, daß wir den Hund begraben und über seinem Grab weinen sollten. Ja, wir haben damals geweint, daß in dem Grab der Hund und nicht Schweichenberg lag.
Ende Dezember 1941 kam ein Befehl im Ghetto heraus, der den jüdischen Frauen verbot, ein Kind auszutragen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich bitte Sie, Herr Zeuge, zu sagen, in welcher Form dieser Befehl herauskam.
[337] SUZKEWER: Muhrer kam in das Spital in der Straße Nr. 6 und sagte den jüdischen Ärzten, daß ein Befehl aus Berlin gekommen sei, der besagte, daß jüdische Frauen nicht mehr gebären dürften, und wenn die Deutschen erführen, daß eine Frau einem Kinde das Leben geschenkt hat, würde das Kind vernichtet wer den.
Ende Dezember gebar meine Frau im Ghetto einen Jungen. Ich war damals nicht im Ghetto, ich befand mich auf der Flucht vor einer dieser sogenannten Vernichtungsaktionen, und als ich später ins Ghetto zurückkam, erfuhr ich, daß meine Frau zwei Tage vorher ein Kind geboren hatte. Ich bin sofort in das Spital gegangen, aber ich sah, daß das Krankenhaus von Deutschen umzingelt war. Ein schwarzer Wagen stand vor dem Tor. Daneben stand Schweichenberg, und die Häscher des Sonderkommandos schleppten aus dem Spital Greise und Kranke heraus und warfen sie wie Holz in den Wagen. Unter diesen erkannte ich den bekannten jüdischen Schriftsteller und Verleger Grodninsky, der auch in diesen Wagen gezerrt wurde. Als die Deutschen am Abend fortgingen, ging ich in das Spital hinein und sah, daß meine Frau vollständig verweint aussah. Es hatte sich herausgestellt, daß, als sie das Kind gebar, die jüdischen Ärzte bereits den Befehl erhalten hatten, daß keine jüdischen Kinder mehr geboren werden durften. Sie haben dann das Kind mit anderen in einem Zimmer versteckt. Aber als die Kommission kam, haben sie wahrscheinlich das neugeborene Kind schreien hören. Jedenfalls haben sie die Tür aufgebrochen und sind in das Zimmer hineingegangen. Als meine Frau hörte, daß man die Türe aufgebrochen hatte, ist sie sofort aufgesprungen, um zu sehen, was mit dem Kind geschah. Sie sah, wie ein Deutscher das Kind hielt und ihm etwas unter die Nase schmierte. Sodann warf er das Kind auf das Bett und lachte. Als meine Frau das Kind vom Bett aufnahm, hatte es bereits schwarze Lippen. Als ich ins Zimmer kam, habe ich selbst gesehen, daß das Kind tot war. Es war noch warm.
Am nächsten Tag besuchte ich meine Mutter im Ghetto und sah, daß ihr Zimmer leer war. Auf dem Tisch war noch ein offenes Gebetbuch und ein Glas Tee, das sie nicht berührt hatte. Ich erfuhr, daß in derselben Nacht die Deutschen das Haus umzingelt hatten und alle Einwohner herausgeschleppt und nach Ponari getrieben hatten.
In den letzten Tagen des Dezember 1941 machte Muhrer dem Ghetto ein Geschenk. Es war ein Wagen, voll mit Schuhen, die den in Ponari erschossenen Juden gehörten. Unter diesen alten Schuhen, die er den Familien im Ghetto schickte, erkannte ich die Schuhe meiner Mutter.
Bald nachher wurde das zweite Ghetto vollständig vernichtet, und die deutsche Zeitung in Wilna schrieb, daß die Juden in diesem Gebiet einer Epidemie erlegen waren.
[338] Am 23. Dezember 1941, nachts, kam Muhrer und verteilte unter die Bevölkerung des Ghettos 3000 gelbe Billetts, die sogenannten Ausweise. Die Inhaber dieser 3000 gelben Ausweise waren berechtigt, ihre Verwandten bei sich eintragen zu lassen, das heißt, insgesamt zirka 9000 Personen. Im Ghetto befanden sich damals ungefähr 18000 bis 20000 Leute. Diejenigen, die diese gelben Ausweise hatten, gingen am nächsten Morgen zur Arbeit, während die anderen, die im Ghetto waren und diese gelben Ausweise nicht hatten, und nicht in den Tod gehen wollten, im Ghetto selbst niedergemetzelt wurden. Der Rest wurde nach Ponari getrieben.
Ich habe hier ein Dokument, das ich nach der Befreiung Wilnas vorgefunden habe, und das die jüdische Bekleidung in Ponari betrifft. Wenn Sie das Dokument interessiert, kann ich es Ihnen vorlegen.
VORSITZENDER: Haben Sie das Dokument?
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Auch ich kenne dieses Dokument nicht.
SUZKEWER: In diesem Dokument heißt es – ich werde nur einige Zeilen verlesen:
[Der Zeuge verliest das Dokument in deutscher Sprache, nur ein Teil wird übersetzt. Das Dokument wird später als USSR-444 bezeichnet.]
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Zeuge, wenn Sie ein Dokument verlesen, müssen Sie es auch dem Gerichtshof vorlegen, da wir andernfalls nicht imstande sind, uns ein Urteil über dieses Dokument zu bilden.
SUZKEWER: Bitte.
VORSITZENDER: Wollen Sie uns bitte zunächst sagen, wo das Dokument gefunden wurde?
SUZKEWER: Ich habe das Dokument im Gebäude des Gebietskommissars der Stadt Wilna im Juli 1944 gefunden, als die Stadt bereits von den Deutschen gesäubert war.
VORSITZENDER: Wo, sagten Sie, wurde das Dokument gefunden?
SUZKEWER: Im Gebietskommissariat der Stadt Wilna, in der Gedeminstraße.
VORSITZENDER: War es das von den Deutschen besetzte Gebäude?
SUZKEWER: Ja, es war das Hauptquartier des deutschen Gebietskommissars von Wilna. Dort wohnten Hans Fincks und Muhrer.
VORSITZENDER: Lesen Sie den Teil des Dokuments nochmals, den Sie soeben verlesen haben, wir haben ihn nicht gehört.
SUZKEWER: Gewiß, bitte:
[339] »An den Gebietskommissar zu Wilna.
Auf Ihren Befehl desinfiziert unsere Anstalt zur Zeit die alten jüdischen Kleider aus Ponari und übergibt sie der Wilnaer Verwaltung.«
VORSITZENDER: Wollen Sie es bitte vorlegen!
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Zeuge, ich möchte gerne folgendes wissen: Sie sagten, daß zu Anfang der deutschen Besetzung 80000 Juden in Wilna lebten. Wieviele Juden blieben nach der deutschen Besetzung übrig?
SUZKEWER: Nach der Besetzung von Wilna blieben ungefähr 600 Juden übrig.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Das heißt, daß 79400 Menschen hingerichtet wurden?
SUZKEWER: Ja.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Hoher Gerichtshof! Ich habe keine Frage mehr an den Zeugen zu stellen.
VORSITZENDER: Wünscht ein anderer Hauptanklagevertreter eine Frage zu stellen?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich habe keine Fragen.
MR. DODD: Keine Fragen.
VORSITZENDER: Will irgendein Verteidiger eine Frage stellen?
[Keine Antwort.]
Der Zeuge kann sich zurückziehen.
[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]
Bitte, Oberst Smirnow.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender, erlauben Sie mir, meinen Vortrag etwas zu ändern und den der religiösen Verfolgung gewidmeten Teil etwas später vorzutragen. Ich möchte jetzt zu dem Teil übergehen, der sich auf Experimente an lebenden Menschen bezieht. Es ist Seite 47 des russischen Textes.
Bevor ich zu diesem Teil meiner Ausführungen übergehe, möchte ich einige kurze Auszüge aus einem Dokument zur Verlesung bringen, die vorher dem Gerichtshof von meinem amerikanischen Kollegen noch nicht verlesen wurden, da der Hauptteil dieses Dokuments sich auf Experimente bezieht, die bereits von der Amerikanischen Anklagevertretung aus anderen Dokumenten beschrieben wurden. Es handelt sich um ein Dokument, 400-PS, USSR-435 der amerikanischen Anklage, das sich auf Versuche des Dr. Rascher bezieht. Es wurde dem Gerichtshof als Photokopie, die eine Serie von Dokumenten einschließt, vorgelegt. Ich verlese nur zwei Absätze aus diesem Dokument.
[340] Diese beiden Absätze bestätigen die besondere Vorliebe des Dr. Rascher für das Lager Auschwitz. Diese Stelle werden die Herren Richter auf Seite 149, letzter Absatz des Dokumentenbuches finden. Ich beginne mit dem Zitat:
»Am einfachsten wäre es, wenn ich bald zur Waffen-SS überstellt, mit Neff nach Auschwitz fahren würde und dort die Frage der Wiedererwärmung an Land Erfrorener schnell in einem großen Reihenversuch klären würde. Auschwitz ist für einen derartigen Reihenversuch in jeder Beziehung besser geeignet als Dachau, da es dort kälter ist und durch die Größe des Geländes im Lager selbst weniger Aufsehen erregt wird (die Versuchspersonen brüllen, wenn sie sehr frieren).
Wenn es, hochverehrter Reichsführer, in Ihrem Sinne ist, diese für das Landheer wichtigen Versuche in Auschwitz (oder Lublin oder sonst einem Lager im Osten) beschleunigt durchzuführen, so bitte ich gehorsamst, mir bald einen entsprechenden Befehl zu geben, damit die letzte Winterkälte noch genützt werden kann.
Mit gehorsamsten Grüßen bin ich in aufrichtiger Dankbarkeit mit Heil Hitler Ihr Ihnen stets ergebener
S. Rascher.«
Ich möchte den Gerichtshof darauf aufmerksam machen, daß die Anziehungskraft, die das Lager Auschwitz auf Dr. Rascher ausübte, nicht zufällig war. Ich erinnere den Gerichtshof daran, daß Auschwitz die Zentralabteilung des Lagers in der Nähe der Stadt Auschwitz war. Gerade in Auschwitz wurden Versuche in einer derart grausamen Weise an lebenden Leuten durchgeführt, daß diese die Vorgänge in Dachau und anderen Lagern des Reiches weit übertreffen.
Dokument USSR-8 wurde bereits vorgelegt, es ist ein Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission über die grausamen Verbrechen der Deutschen Regierung in Auschwitz. Den einleitenden Teil des Berichts, den ich verlesen werde, finden Sie auf Seite 196 des Dokumentenbuches. Ich verlese jetzt folgenden Absatz:
»Besondere Hospitäler, chirurgische Blocks, histologische Laboratorien und andere Einrichtungen wurden im Lager gebaut, aber nicht, um Menschen zu heilen, sondern sie umzubringen. Deutsche Professoren und Ärzte führten Massenversuche an völlig gesunden Männern, Frauen und Kindern durch: Sie experimentierten an Sterilisierung von Frauen und Kastrierung von Männern, an Kindern, und zahlreiche Leute wurden zwecks künstlicher Erregung mit Krebs, Typhus und Malaria infiziert und später beobachtet. Sie stellten [341] Versuche an lebenden Menschen an, um die Wirkung von Giften festzustellen.«
Ich möchte hervorheben, daß in besonders großem Umfange die Sterilisierung und Kastrierung von Frauen und Männern durchgeführt wurde. Zu diesem Zweck wurden besondere Blocks in dem Lager erstellt.
Ich möchte jetzt zwei kurze Auszüge aus dem Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission verlesen, die die Herren Richter auf der Rückseite von Seite 196 des Dokumentenbuches, fünfter Absatz, finden werden.
Ich zitiere:
»Experimente an Frauen wurden in den Lazarettabteilungen des Lagers Auschwitz vorgenommen. In Block 10 wurden gleichzeitig bis zu 400 weibliche Gefangene gehalten und folgende Versuche an ihnen vorgenommen: Sterilisation durch Röntgenstrahlen mit nachfolgender Entfernung der Eierstöcke, Einimpfung von Krebs in die Gebärmutter, gewaltsame Geburten wurden herbeigeführt sowie die Wirkung der Gegenmittel bei der Röntgenbestrahlung auf die Gebärmutter festgestellt.«
Ich lasse drei Sätze aus und fahre fort:
»In Block 21«, das ist ein anderer Block, der Frauenblock war Nummer 10, »wurden Massenversuche der Kastrierung von Männern gemacht, um die Möglichkeit einer Sterilisierung mit Röntgenstrahlen zu studieren. Die Kastrierung selbst erfolgte einige Zeit nach der Behandlung mit Röntgenstrahlen. Diese Experimente mit Röntgenstrahlen und Kastrierung wurden von Professor Schumann und Dr. Dering ausgeführt. Häufig bestanden die Operationen in der Entfernung einer oder beider Hoden zum Zwecke des Studiums nach der Behandlung mit Röntgenstrahlen.«
Ich bitte den Gerichtshof, mir zu erlauben, zu diesen Beweisen noch einige kurze Auszüge aus den Aussagen des holländischen Staatsbürgers Dr. de Vind vorzulegen, die dem Gerichtshof bereits als USSR-52 vorgelegt wurden. Ich werde nicht die ganze Aussage verlesen, sondern nur die Zahlen. Der Gerichtshof wird sie auf Seite 203, Rückseite des Dokumentenbuches, letzter Absatz der ersten Spalte des Textes, finden.
Ich betone, daß diese Ziffern nur einen Block und zwar Block 10, betreffen. Folgende Frauen waren hier interniert:
»50 Frauen verschiedener Nationalität, die im März 1943 ankamen; 100 griechische Frauen, die im März 1943 ankamen; 110 Belgierinnen, die im April 1943, 50 Französinnen, die im Juli 1943 ankamen; 40 Holländerinnen, die im August 1943,[342] 100 holländische Frauen, die am 15. September 1943, und 100 holländische Frauen, die eine Woche später ankamen; außerdem 12 polnische Frauen.«
Ich erlaube mir, einen weiteren Auszug aus der Aussage des holländischen Arztes Dr. de Vind zu zitieren, die ebenfalls dem Gerichtshof früher als USSR-52 vorgelegt wurde. Ich möchte nur den Teil verlesen, in dem er von Versuchen spricht, die ein gewisser Professor Schumann an 15 Mädchen ausführte. Die Herren Richter werden diese Stelle auf Seite 204 des Dokumentenbuches finden, erste Spalte des Textes, dritter Absatz. Ich beginne das Zitat:
»Professor Schumann, ein Deutscher: Solche Experimente wurden an 15 Mädchen im Alter von 17 bis 18 Jahren angestellt, unter ihnen war Schimmi Bella aus Saloniki, Griechenland und Buena Dora aus Saloniki, Griechenland. Von den 15 Mädchen blieben nur wenige am Leben. Diese befinden sich weiter in deutscher Gewalt, und infolgedessen haben wir über diese brutalen Versuche keine definitiven Angaben; aber folgendes unterliegt keinem Zweifel:
Die jungen Mädchen wurden zwischen zwei Platten gestellt und der Bestrahlung mit Ultrakurzwellen ausgesetzt. Eine Elektrode wurde auf den Unterleib und die andere auf die Hinterbacke gelegt. Der Strahlenfokus wurde direkt gegen die Eierstöcke gerichtet, die infolgedessen verbrannten. Auf Grund der falschen Dosierung entstanden am Unterleib und auf den Hinterbacken ernste Brandwunden. Ein Mädchen starb nach schrecklichem Leiden. Die anderen Mädchen wurden nach Birkenau in die Sanitätsabteilung oder in Arbeitsgruppen gesandt. Einen Monat später kehrten sie nach Auschwitz zurück, wo zwei Kontrolloperationen durchgeführt wurden, ein Längsschnitt und ein Querschnitt. Dabei wurden die Geschlechtsorgane entfernt und auf ihren Zustand untersucht. Als Folge der Zerstörung der Hormone waren die Mädchen physisch vollständig verändert und sahen wie Greisinnen aus.«
Damit beende ich das Zitat.
Versuche von Sterilisation an Frauen und Kastrierung von Männern wurden in Auschwitz schon zu Beginn des Jahres 1942 in großem Umfange gemacht, und eine gewisse Zeitspanne nach der Sterilisation wurden die Männer zum Studium der Gewebe kastriert. Die Bestätigung dieser Tatsache finden Sie in dem Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission über Auschwitz, wo zahlreiche Erklärungen von Häftlingen dieses Lagers vorliegen, die solchen Operationen unterworfen wurden. Der Gerichtshof wird diesen Teil meines Zitats auf Seite 197 des [343] Dokumentenbuches finden, Absatz 2, zweite Spalte des Textes. Ich zitiere zwei Absätze:
»Valigura, eine Versuchsperson, gab an:
›Mehrere Tage nach meiner Verbringung nach Birkenau, ich glaube, es war Anfang Dezember 1942, wurden alle jungen Männer zwischen 18 und 30 Jahren durch Röntgenbestrahlung der Hodensäcke sterilisiert. Ich war auch unter den Sterilisierten. Elf Monate später, das heißt am 1. November 1943, wurde ich kastriert. Mit mir zusammen sind 200 Mann an einem Tage sterilisiert worden.‹
Der Zeuge David Sures aus Saloniki, Griechenland, sagte folgendes aus:
›Ungefähr im Juli 1943 wurde ich zusammen mit zehn anderen Griechen in eine Liste eingetragen und nach Birkenau geschickt. Dort mußten wir uns alle auskleiden und wir wurden mit Röntgenstrahlen sterilisiert. Einen Monat später wurden wir zu der Zentralabteilung des Lagers befohlen, wo alle Sterilisierten chirurgisch kastriert wurden.‹«
Es war natürlich kein Zufall, daß die Massenversuche an Menschen mit Sterilisation und Kastrierung begannen. Dieses war eine natürliche Folgerung der theoretischen Grundsätze der deutschen Faschisten, die Vermehrung der von ihnen unterjocht geglaubten Völker zu unterbinden. Es war ein Teil der hitlerischen Entvölkerungstechnik. Gerade darüber möchte ich als Beweis ein Zitat aus dem Buch von Rauschning: »Die Stimme der Zerstörung« anführen, das bereits früher dem Gerichtshof vorgelegt wurde. Diese Stelle wurde noch nicht verlesen. Die Herren Richter können sie auf Seite 207 Ihres Dokumentenbuches finden. Hitler sagte zu Rauschning:
»Unter Zerstörung verstehe ich nicht unbedingt die Ausrottung dieser Menschen. Ich werde einfach systematische Mittel anwenden, den Nachwuchs dieser Bevölkerung zu unterbinden.«
Ich lasse drei Sätze aus und gehe weiter:
»Es gibt viele Wege, mit deren Hilfe man systema tisch und verhältnismäßig schmerzlos, auf jeden Fall unblutig, das Aussterben unerwünschter Rassen erreichen kann.«
Diese Stellen können Sie auf Seite 137 des Originalbuches finden. Sterilisierung und Kastrierung wurden eine verbrecherische Praxis der Hitler-Leute in den besetzten Gebieten Osteuropas. Zwei dieser Dokumente möchte ich dem Gerichtshof vorlegen.
VORSITZENDER: Oberst Smirnow, würde es jetzt nicht günstig sein, abzubrechen. Der Gerichtshof möchte gern wissen, wie lange [344] Sie Ihrer Meinung nach noch brauchen werden, Ihren Vortrag zu beenden.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender! Ich glaube, daß ich heute die Vorlage des Beweismaterials vollständig beenden werde. Doch möchte ich um die Erlaubnis bitten, heute noch drei Zeugen vernehmen zu dürfen; außerdem wird mein restlicher Vortrag noch eine Stunde dauern. Es ist jedoch sehr schwer für mich, die Zeit genau zu bestimmen, da dies in vielen Fällen von anderen, Ihnen bekannten Umständen, abhängt, die mich zwingen konnten, meine Absichten zu ändern.
VORSITZENDER: Wir werden die Sitzung für 10 Minuten unterbrechen.
[Pause von 10 Minuten.]
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich bitte den Gerichtshof um die Erlaubnis, seine Aufmerksamkeit auf zwei kurze Dokumente zu lenken, die von mir als USSR-400 dem Gerichtshof vorgelegt werden. Es sind Photokopien, und zwar sind sie von der Außerordentlichen staatlichen Kommission beglaubigt. Sie betreffen zwei Mitteilungen von dem Führer der Schutzpolizei, Leutnant Frank, und zwar sind es die Bedingungen, unter denen eine gewisse Zigeunerin Lucia Strasdinsch in der Stadt Libau wohnen durfte.
Das erste Dokument:
»Schutzpolizei-Dienstabteilung Libau. Libau, den 10. Dezember 1941. U. R. dem Präfekt der Stadt Libau.
Es ist entschieden, daß die Zigeunerin Lucia Strasdinsch nur dann wieder hier wohnen darf, wenn sie sich einer Sterilisation unterzieht. Dieses ist ihr zu eröffnen und das Ergebnis hierher zu berichten. Frank, Leutnant der Schutzpolizei und Führer der Schutzpolizei-Dienstabteilung.«
Das zweite Dokument ist ein Bericht des Präfekten der Stadt Libau, H. Grauds, an den Führer der Schutzpolizei-Dienstabteilung. Text:
»Ihr Schreiben vom 10. Dezember 1941, das die Sterilisation der Zigeunerin Lucia Strasdinsch betrifft, zurücksendend, teile ich mit, daß die genann te Person am 9. Januar ds. J. im hiesigen Krankenhaus sterilisiert worden ist, worüber ein Schreiben des Krankenhauses vom 12. Januar ds. J. Nr. 850 hier anliegt.«
Um das Ausmaß der Experimente, die an lebenden Menschen vorgenommen wurden, zu bestätigen, bitte ich den Gerichtshof, seine Aufmerksamkeit auf den Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission über Auschwitz zu wenden. Die Stelle, [345] die ich zitieren möchte, findet der Gerichtshof auf Seite 197 des Dokumentenbuches, Spalte 1, Absatz 2:
Es wird hier gesagt, daß in den Lagerakten eine statistische Übersicht des Lagerkommandanten gefunden wurde. Diese Übersicht ist von dem stellvertretenden Lagerkommandanten, Sella, unterschrieben. Darin befindet sich eine Rubrik »Für Experimente bestimmte Gefangene«. In dieser Rubrik heißt es:
»Frauen unter Experiment: 15. Mai 1944 400, 15. Juni 1944 413, 19. Juni 1944 348 usw.«
Ich möchte den Teil über Experimente an lebenden Menschen mit folgendem abschließen:
Von dem Umfang dieser Experimente gibt ein Dokument Zeugnis, und zwar der Befund der juristisch-medizinischen Kommission. Ein Auszug daraus befindet sich in dem Bericht über das Lager Auschwitz. Die Stelle, die ich anführen möchte, wird der Gerichtshof auf Seite 197 des Dokumentenbuches, Spalte 1, Absatz 5 finden. Ich lasse den Teil aus, der sich auf Sterilisierung und Kastrierung bezieht, denn diese Frage ist erschöpfend behandelt worden, und ich werde jetzt die Punkte 4, 6 und 7 zitieren. Hier wird gesagt, daß in Auschwitz
»... die Wirkung von verschiedenen chemischen Präparaten verschiedener deutscher Firmen studiert wurde. Ein deutscher Arzt, Dr. med. Valentin Erwin, hat ausgesagt, daß es einen Fall gegeben hat, wo für solche Experimente die Vertreter der chemischen Industrie Deutschlands – Glauber, ein Frauenarzt von Königshütte, und Gevel, ein Chemiker, – bei der Lagerverwaltung 150 Frauen gekauft haben.«
Ich lasse Punkt 5 aus und zitiere Punkt 6:
»Experimente an Männern in der Anwendung von chemischen Reizpräparaten auf die Haut des Beines zur künstlichen Erzeugung von Geschwüren und Phlegmonen.«
Punkt 7:
»Eine Anzahl anderer Experimente, wie die künstliche Infizierung mit Malaria, künstliche Befruchtung und so weiter.«
Ich lasse die drei nächsten Seiten meines Vortrags aus, da sie sich auf Einzelheiten dieser Experimente beziehen. Ich möchte mir lediglich erlauben, die Aufmerksamkeit des Gerichtshofs auf andere Verbrechen zu lenken, die von faschistischen Medizinern vollbracht wurden, insbesondere die Ermordung von Geisteskranken. Ich werde nicht viele Beispiele anführen. Der Gerichtshof kann Mitteilungen darüber im Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission finden. Ich möchte lediglich von einem Verbrechen sprechen, das in der Stadt Kiew begangen worden ist. Ich zitiere [346] einen Absatz aus dem Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission der Stadt Kiew, den der Gerichtshof auf Seite 212 des Dokumentenbuches, Absatz 6, Spalte 1, finden wird. Ich zitiere:
»Am 14. Oktober 1941 brach eine von dem deutschen Garnisonsarzt Rikowsky geführte Abteilung von SS-Männern in die Heilanstalt ein. Die Hitleristen trieben 300 Patienten in eins der Gebäude, wo sie mehrere Tage ohne Essen und Trinken festgehalten und dann in einem Graben des Kirilowwaldes erschossen wurden. Die übrigen Patienten wurden am 7. Januar, 27. März und 17. Oktober 1942 ermordet.«
Im folgenden Text des Berichts der Außerordentlichen staatlichen Kommission wird die bereits geprüfte und bestätigte Untersuchung der Erklärungen des Professors Kapustyansky, der Ärztin Dzewaltowska und der Krankenschwester Tröpolska wiedergegeben. Ich lege dem Hohen Gerichtshof als USSR-249 eine Photokopie dieser Erklärung vor und bitte, sie als Beweis zu den Akten zu nehmen. Ich bringe einige Auszüge aus diesem Dokument:
»Während der deutschen Besetzung der Stadt Kiew mußte die Psychiatrische Heilanstalt dieser Stadt tragische Tage verleben, die mit einer völligen Verwüstung und Vernichtung der Heilanstalt endeten. An den armen Geisteskranken wurde eine bis daher der Geschichte unbekannte Gewalttat verübt....«
Ich lasse den weiteren Teil dieses Satzes aus und zitiere den nächsten Satz:
»Im Laufe der Jahre 1941/42 wurden 800 Kranke vernichtet.«
Ich lasse die nächsten 2 Absätze aus und zitiere weiter:
»Am 7. Januar 1942 erschien in der Heilanstalt die Gestapo. Überall auf dem Territorium der Heilanstalt wurden Wachposten aufgestellt. Man durfte das Krankenhaus zu dieser Zeit weder betreten noch verlassen. Der Vertreter der Gestapo verlangte, alle unheilbaren Kranken für den Abtransport nach Schitomir auszusondern.«
Ich lasse den nächsten Satz aus:
»Das was die Kranken erwartete, hat man vor dem Personal streng verheimlicht. Darauf erschienen spezielle Kraftwagen im Krankenhaus. In diese Autos wurden die Kranken, zu 60-70 Personen in jeden Wagen, hineingestoßen. Diese Greueltaten wurden vor den Augen aller, vor den Fenstern der Krankensäle begangen. Man stieß die Kranken in die Autos hinein, dort wurden sie ermordet und ihre Leichen wurden gleich darauf hinausgeworfen. Dieses grauenhafte Vorgehen dauerte 2 Tage lang. In diesen zwei Tagen wurden 365 Mann um gebracht. Die Kranken, die den [347] Verstand nicht ganz verloren hatten, erkannten bald die Wahrheit. Man konnte herzzerreißende Szenen beobachten. So hat ein junges Mädchen, die Kranke J., trotz aller Bemühungen des Arztes doch verstanden, daß ihrer der Tod harrt; sie ging aus dem Krankenzimmer hinaus, umarmte den Arzt und fragte ihn leise: ›Ist das das Ende?‹ Totenbleich ging das Mädchen zum Auto, und die Hilfe anderer ablehnend, stieg es in den Wagen ein. Dem ganzen Personal wurde im voraus gesagt, daß jegliche Kritik und jede Äußerung der Unzufriedenheit hier durchaus nicht angebracht seien und als Sabotage angesehen werden.«
Ich zitiere noch einen Satz aus dieser Mitteilung:
»Es war eine charakteristische Besonderheit, daß diese in ihrer Scheußlichkeit beispiellose Ermordung am Weihnachtstage stattfand, als unter den deutschen Soldaten Weihnachtsbäume verteilt wurden, und auf den Riemenschnallen der Täter prangte die Aufschrift ›Gott mit uns‹.«
Ich beende damit dieses Zitat. Ich lasse die nächsten vier Seiten des Textes meines Vortrages aus, da sie von analogen Fällen der Vernichtung von Geisteskranken an anderen Stellen des Landes sprechen. Die Methode war stets die gleiche wie in Kiew. Ich möchte nur den Gerichtshof bitten, die Photokopien von drei deutschen Dokumenten, die von der Außerordentlichen staatlichen Kommission beglaubigt sind, als Beweis zuzulassen. Diese Dokumente zeugen davon, daß für die Berichterstattung über die Vernichtung der Geisteskranken besonders einheitliche Formulare ausgearbeitet wurden. Ich lege diese Dokumente vor. Das erste Dokument lege ich als USSR-397 vor. Der Gerichtshof wird dieses Dokument auf Seite 218 des Dokumentenbuches finden. Ich zitiere den Text des Dokuments:
»An das Rigaer Standesamt in Riga.«
Ich lasse den nächsten Absatz aus.
»Ich bescheinige hiermit, daß die in beigefügter Anlage aufgeführten 368 unheilbaren Geisteskranken am 29. 1. 1942 verstorben sind.
Unterschrift: Kirste, SS-Sturmbannführer.«
Das zweite Dokument wird als USSR-410 vorgelegt. Es ist ein Brief des Kommandeurs der Sicherheitspolizei u. d. SD, Nr. 357/42g, datiert vom 28. Mai 1942. Ich verlese den einzigen Absatz des Textes:
»Ich bescheinige hiermit, daß die in beigefügter Anlage aufgeführten 243 unheilbaren Geisteskranken am 14. 4. 1942 verstorben sind.
Unterschrift: Kirste, SS-Sturmbannführer.«
[348] Das dritte Dokument wird als USSR-398 vorgelegt. Es ist der Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Lettland vom 15. März 1943. Ich verlese den einen Absatz dieses Textes:
»Ich bescheinige hiermit, daß die in beigefügter Anlage aufgeführten 98 unheilbaren Geisteskranken am 22. 10. 1942 verstorben sind.
Unterschrift: Kirste, SS-Sturmbannführer.«
Ich glaube, ich kann auch weitere eineinhalb Seiten meines Berichtes auslassen, aber ich bitte den Gerichtshof, als USSR-406 ein Dokument als Beweis zuzulassen, ohne daß ich es verlese. Das Dokument, das ich vorlege, betrifft Experimente an lebenden Menschen, die in einem anderen Lager, in Ravensbrück, vorgenommen wurden. Es ist das Material, das von der Polnischen staatlichen Kommission zur Untersuchung der Verbrechen zusammengestellt worden ist. Es enthält sehr charakteristische Photoaufnahmen. Ich brauche dem keinen weiteren Kommentar beizufügen. Ich bitte den Gerichtshof, die polnische Staatsangehörige Schmaglewskaja als Zeugin zu rufen. Wir möchten nur eine Frage von ihr behandelt wissen, und zwar die Behandlung, die den Kindern in den faschistischen Lagern zuteil wurde.
Gestatten Sie, Herr Vorsitzender, daß ich die Zeugin rufe?
VORSITZENDER: Jawohl.
[Die Zeugin Schmaglewskaja betritt den Zeugenstand.]
VORSITZENDER: Wollen Sie mir zuerst Ihren Namen nennen?
ZEUGIN SEVERINA SCHMAGLEWSKAJA: Severina Schmaglewskaja.
VORSITZENDER: Wollen Sie mir diesen Eid nachsprechen: Ich schwöre hiermit bei Gott, dem Allmächtigen, daß ich vor diesem Gerichte die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen und nichts verheimlichen werde, das mir bekannt ist, so wahr mir Gott helfe. Amen.
[Die Zeugin spricht die Eidesformel nach.]
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie mir bitte, Zeugin, waren Sie Häftling im Konzentrationslager Auschwitz?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wie lange sind Sie in Auschwitz gewesen?
SCHMAGLEWSKAJA: Vom 7. Oktober 1942 bis Januar 1945.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Können Sie beweisen, daß Sie Häftling im Konzentrationslager Auschwitz waren?
[349] SCHMAGLEWSKAJA: Ich habe eine Nummer, die hier auf meinen Arm tätowiert ist.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ist das jene Nummer, die die Häftlinge in Auschwitz die »Visitenkarte« nannten?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, Zeugin, waren Sie Augenzeugin der Behandlung, die die SS-Leute den Kindern zuteil werden ließen?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Bitte, erzählen Sie uns etwas davon!
SCHMAGLEWSKAJA: Ich kann von Kindern erzählen, die im Konzentrationslager geboren wurden, und von Kindern, die mit jüdischen Transporten ins Konzentrationslager gebracht wurden. Ich kann von Kindern erzählen, die direkt ins Krematorium geführt wurden, und auch von Kindern berichten, die im Konzentrationslager als Internierte lebten.
Schon im Dezember 1942, als ich zur Arbeit ging, ungefähr zehn Kilometer von Birkenau...
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Entschuldigen Sie, darf ich Sie unterbrechen? Sie waren also in der Abteilung Birkenau?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja, ich war im Lager Birkenau; das ist ein Teil des Lagers Auschwitz, es hieß Auschwitz Nummer 2.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Fahren Sie bitte fort!
SCHMAGLEWSKAJA: Ich sah eine Frau, die schwanger war, und zwar im letzten Monat ihrer Schwangerschaft. Man sah es ihr an. Diese Frau mußte mit den anderen zehn Kilometer bis zur Arbeitsstelle gehen, dort mußte sie den ganzen Tag mit einer Schaufel in der Hand Gruben graben. Sie war schon krank, sie bat den Vorarbeiter, einen deutschen Zivilisten, er solle ihr erlauben, sich auszuruhen. Er tat dies nicht, lachte und stieß sie gemeinsam mit einem andern SS-Mann herum und begann, sie in ihrer Arbeit besonders streng zu beaufsichtigen; so war die Lage bei allen Frauen, die schwanger waren, und nur im letzten Augenblick wurde ihnen erlaubt, nicht zur Arbeit zu erscheinen.
Im Lager geborene Kinder wurden, soweit es sich um jüdische Kinder handelte, sofort getötet.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich bitte um Entschuldigung, was heißt »sofort getötet«?
SCHMAGLEWSKAJA: Die Kinder wurden den Müttern sofort weggenommen.
[350] OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wann? Wenn die Transporte ankamen?
SCHMAGLEWSKAJA: Nein, ich spreche von Kindern, die im Konzentrationslager geboren wurden. Die Kinder wurden den Müttern ein paar Minuten nach der Geburt weggenommen, und diese haben die Kinder niemals wieder gesehen. Ein paar Tage später mußte die Mutter wieder zur Arbeit.
Im Jahre 1942 gab es noch keine besonderen Blocks für Kinder; Anfang 1943, als man begann, die Häftlinge zu tätowieren, wurden die im Konzentrationslager geborenen Kinder ebenfalls tätowiert, und zwar auf den Beinen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Warum auf den Beinen?
SCHMAGLEWSKAJA: Da die Kinder sehr klein waren und die Nummern aus fünf Ziffern bestanden, war auf den kleinen Armen nicht Platz genug, daher wurde die Tätowierung auf den Beinen der Kinder vorgenommen. Die Kinder hatten keine eigenen, sondern dieselben Ordnungsnummern wie die Erwachsenen.
Diese Kinder wurden in besondere Blocks gebracht, und nach ein paar Wochen, manchmal nach einem Monat, aus dem Konzentrationslager weggeführt.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wohin?
SCHMAGLEWSKAJA: Wir haben es nie feststellen können, wohin diese Kinder gebracht wurden. Sie wurden während der ganzen Zeit, in der das Lager bestand, abtransportiert, das heißt, im Jahre 1943 und 1944; der letzte Kindertransport fand im Januar 1945 statt.
Es waren nicht nur polnische Kinder, denn es ist bekannt, daß in Birkenau Frauen interniert waren, die aus ganz Europa kamen. Bis zum heutigen Tag ist es nicht bekannt, ob diese Kinder am Leben geblieben sind oder nicht. Im Namen aller Frauen, die im Konzentrationslager zu Müttern geworden sind, möchte ich heute die Deutschen fragen: »Wo sind diese Kinder?«
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Zeugin, waren Sie Augenzeuge, als Kinder in die Gaskammern geschickt wurden?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja, ich arbeitete sehr nahe am Eisenbahngeleise, das zum Krematorium führte. Manchmal kam ich morgens in die Nähe der deutschen Latrinen, und von dort konnte ich sehen, wie die Transporte einliefen. Da habe ich beobachtet, daß zusammen mit ins Konzentrationslager eingelieferten Juden auch viele Kinder ankamen, manchmal waren es Familien und zwar Familien mit mehreren Kindern. Der Gerichtshof wird sicherlich wissen, daß die Menschen ausgesondert wurden, ehe sie ins Krematorium kamen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wurde diese Auswahl von Ärzten vorgenommen?
[351] SCHMAGLEWSKAJA: Nicht immer von Ärzten, manchmal waren es SS-Leute.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Aber auch von Ärzten?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja, auch von Ärzten. Während solcher Auswahl wurden die jüngsten und gesündesten jüdischen Frauen in sehr geringer Zahl ins Lager eingeliefert. Die Frauen aber, die Kinder auf den Armen trugen oder Kinderwagen schoben, und diejenigen, die erwachsene Kinder hatten, wurden zusammen mit diesen Kindern ins Krematorium geschickt. Die Kinder wurden vor den Krematorien von den Eltern getrennt und gesondert in die Gaskammern geführt.
Zu der Zeit, als die meisten Juden in Gaskammern vernichtet wurden, wurde ein Befehl erlassen, die Kinder in die Öfen des Krematoriums oder in die Gräben um das Krematorium herum zu werfen, ohne sie vorher zu vergasen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wie soll man das verstehen, wurden die Kinder lebend hineingeworfen oder vor der Verbrennung auf andere Weise getötet?
SCHMAGLEWSKAJA: Jawohl, die Kinder wurden lebend in den Graben geworfen. Das Geschrei dieser Kinder konnte man im ganzen Lager hören. Es ist schwer zu sagen, wieviele Kinder auf diese Weise umgekommen sind.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Warum wurde das so gemacht? Weil die Gaskammern so überfüllt waren?
SCHMAGLEWSKAJA: Darauf ist schwer zu antworten. Ich weiß nicht, ob die Deutschen Gas sparen wollten, oder weil es keinen Platz mehr in den Gaskammern gab, ich weiß es nicht. Ich möchte hinzufügen, daß man die Anzahl der Kinder nicht, wie zum Beispiel die der Juden, feststellen konnte, da die Transporte direkt ins Krematorium geführt, nicht registriert und daher nicht tätowiert wurden. Sehr oft wurden sie nicht einmal gezählt. Wir, die Häftlinge, versuchten oft, uns über die Anzahl der Menschen, die in den Gaskammern umkamen, Rechenschaft zu geben, aber die Zahl der umgebrachten Kinder konnten wir nur nach der Anzahl der Kinderwagen schätzen, die ins Magazin kamen. Manchmal waren es Hunderte, manchmal Tausende von Kinderwagen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Pro Tag?
SCHMAGLEWSKAJA: Die Zahl war nicht immer gleich. Es gab Tage, wo die Gaskammern von früh morgens bis spät abends arbeiteten. Ich möchte noch von den Kindern sprechen, die sich in nicht geringer Anzahl als Häftlinge in den Lagern befanden.
Anfang 1943 kamen in das Lager zusammen mit ihren Eltern polnische Kinder aus Zamojschewna. Gleichzeitig kamen auch [352] russische Kinder aus den von den Deutschen besetzten Gebieten an. Später wurden diese Kinder, die zu den früher Genannten hinzukamen, noch um eine kleinere Anzahl jüdischer Kinder vermehrt. In kleinerer Zahl konnte man im Konzentrationslager auch italienische Kinder finden. Die Lage dieser Kinder war genau so schwer wie die der Erwachsenen, vielleicht sogar noch schwerer. Diese Kinder bekamen keine Pakete, da es keinen gab, der ihnen solche Pakete schicken konnte. Sendungen des Roten Kreuzes erreichten die Häftlinge niemals. Im Jahre 1944 begannen italienische und französische Kinder in großer Anzahl im KZ einzutreffen. Alle diese Kinder hatten Ekzeme, lymphatische Geschwüre, Skorbut, litten an Hunger, waren schlecht angezogen, oft barfuß und hatten keine Möglichkeit, sich zu waschen.
Zur Zeit des Warschauer Aufstandes trafen im Konzentrationslager als Häftlinge Kinder aus Warschau ein. Das kleinste Kind war ein Junge von 6 Jahren. Diese Kinder wurden in eine besondere Baracke gebracht, und als der systematische Abtransport der Häftlinge von Birkenau in das Innere Deutschlands begann, wurden diese Kinder zu schweren Arbeiten benutzt.
Zur gleichen Zeit trafen Kinder ungarischer Juden im Konzentrationslager ein; sie arbeiteten zusammen mit den Kindern aus Warschau, die nach dem Warschauer Aufstand angekommen waren. Diese Kinder arbeiteten an zwei Karren, die sie ziehen mußten. So fuhren sie Kohle, eiserne Maschinen, auch Fußbodenbretter und andere schwere Gegenstände von einem Lager ins andere. Sie mußten auch Baracken auseinandernehmen. Das geschah natürlich erst bei der Liquidierung des Lagers. Diese Kinder blieben bis zum Schluß im Konzentrationslager; im Januar 1945 wurden sie evakuiert. Sie mußten zu Fuß nach Deutschland unter genau so schweren Verhältnissen wie die Front zurückgehen. Unter Bewachung der SS gingen sie zu Fuß, hatten keine Nahrung und mußten ungefähr dreißig Kilometer pro Tag zurücklegen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Starben während dieses Marsches Kinder an Erschöpfung?
SCHMAGLEWSKAJA: Ich war nicht einer Gruppe zugeteilt, in der sich Kinder befanden, da ich es fertig brachte, am zweiten Tag des Evakuierungsmarsches wegzulaufen.
Ich möchte noch etwas über die Methoden der Demoralisierung der Häftlinge im KZ sagen. Alles, was die Häftlinge in den Konzentrationslagern zu erleiden hatten, war das Resultat eines Systems, der Erniedrigung des Menschen.
Die Eisenbahnwagen, in denen die Häftlinge ins Konzentrationslager kamen, waren Viehwagen. Wenn sich die Züge in Bewegung setzten, wurden diese Viehwagen hermetisch mit Nägeln verschlossen. [353] In jedem dieser Wagen befanden sich viele Menschen. Die SS-Bewachung berücksichtigte keineswegs, daß Menschen auch physische Bedürfnisse haben. Es kam vor, daß manche dieser Menschen die nötigen Töpfe mit sich führten. Sie mußten diese Töpfe oft für ihre physischen Bedürfnisse gebrauchen.
Während geraumer Zeit arbeitete ich in einem Lagerraum, wo das Küchengeschirr der Häftlinge eingeliefert wurde.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wollen Sie sagen, daß Sie in einem Lagerraum arbeiteten, in dem das Küchengeschirr der Ermordeten eingeliefert wurde?
SCHMAGLEWSKAJA: Nein, in dieses Lager wurde bloß das Küchengeschirr gebracht, das die Leute bei ihrer Ankunft im Konzentrationslager mit sich führten.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ist ihnen das Geschirr weggenommen worden?
SCHMAGLEWSKAJA: Ich wollte sagen, daß manche dieser Töpfe noch Nahrungsmittel und auch menschliche Ausscheidungen enthielten. Jede der Arbeiterinnen bekam einen Eimer kalten Wassers und mußte während eines halben Tages zahlreiches Küchengeschirr waschen. Diese Töpfe, die öfters nicht gut gewaschen sein konnten, wurden an die Menschen weitergegeben, die gerade in den Konzentrationslagern eintrafen. Aus diesem Geschirr mußten sie essen. Deshalb erkrankten sie manchmal in den ersten Tagen schon an Ruhr und anderen Krankheiten.
VORSITZENDER: Oberst Smirnow, ich glaube nicht, daß der Gerichtshof so viele Einzelheiten über diese häuslichen Dinge zu hören wünscht.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Die Zeugin wurde nur vorgeladen, um über die Behandlung der Kinder in den Konzentrationslagern auszusagen.
VORSITZENDER: Wollen Sie die Aussage der Zeugin auf der Linie halten, die Sie einzuschlagen wünschen?
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, Zeugin, können Sie noch etwas anderes über die Stellung der Deutschen gegenüber den Kindern in den Lagern hinzufügen? Haben Sie uns schon alles erzählt, was Sie über diese Frage wissen?
SCHMAGLEWSKAJA: Ich möchte noch sagen, daß die Kinder dem gleichen System der Demoralisierung und Erniedrigung durch Hungern unterworfen wurden, wie die Erwachsenen. Sie waren so hungrig, daß sie in Abfällen nach etwas Nahrung suchten, nach Kartoffelschalen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, Zeugin, können Sie mit Ihrer Aussage bezeugen, daß die Zahl der verbleibenden [354] Kinderwagen von ermordeten Kindern sich manchmal auf 1000 per Tag belief?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja, es gab solche Tage.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender, ich habe an die Zeugin keine weiteren Fragen mehr zu stellen.
VORSITZENDER: Will einer der Hauptanklagevertreter die Zeugin befragen?
[Keine Antwort.]
Wünscht einer der Verteidiger Fragen zu stellen?
[Keine Antwort.]
Die Zeugin kann sich zurückziehen.
[Die Zeugin verläßt den Zeugenstand.]
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender! Ich möchte mit dem Teil meines Vortrags beginnen, der sich mit der Schaffung geheimer Stellen zur Vernichtung friedlicher Bürger durch die deutschen Faschisten beschäftigt.
Es handelt sich hier nicht um Konzentrationslager, weil die Menschen an diesen Stellen gewöhnlich nicht länger als zehn Minuten oder höchstens 2 Stunden lebten. Aus der Zahl dieser schrecklichen Sammelstellen, die von den deutschen Faschisten eingerichtet wurden, möchte ich dem Gerichtshof den Beweis über zwei derartige Stellen geben, und zwar über das polnische Dorf Kulm und über Treblinka. In diesem Zusammenhang möchte ich den Gerichtshof bitten, einen der Zeugen zu laden, dessen Aussage wohl interessant ist, weil er als jemand betrachtet werden kann, der aus der anderen Welt zurückgekehrt ist, denn der Weg nach Treblinka wurde selbst von den deutschen Henkern der »Himmelfahrtsweg« genannt. Ich spreche von dem Zeugen Rajzman, einem polnischen Bürger, und ich bitte den Gerichtshof, diesen Zeugen zuzulassen, damit er befragt werden kann.
VORSITZENDER: Es ist nunmehr 12.45 Uhr und wohl besser, wenn wir diesen Zeugen um 14.00 Uhr hören. Wir wollen jetzt vertagen.
[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]
Buchempfehlung
Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro