[61] Den Bildern aus dem Elternhause füge ich noch ein paar Mitteilungen über die Verwandten hinzu, bei denen ich aus- und einging.
Im selben Ort wohnten eine Viertelstunde nach Osten die Geschwister des Vaters, drei Schwestern und Onkel Ipke, der jüngste von allen. Sie waren, wie schon berichtet ist, als mein Vater heiratete, auf der Stelle geblieben, in die sich die Familie nach der großen Flut 1825 gerettet hatte; der Vater hatte sie dem jüngeren Bruder vor allem wohl um der Schwestern willen überlassen und sich selber einen anderen Wohnsitz gesucht: er wollte ihnen nicht die Heimat nehmen. Sie blieben unverheiratet beieinander; sie fühlten sich ihr Leben lang wie eine Art Fremdenkolonie auf dem Festland, wie sie denn auch vielfach, nach mehr als dreißigjähriger Ansässigkeit, noch die »Halligleut« genannt wurden; so fest war in jener Zeit der Heimatzusammenhang.
Ich war bei den Tanten natürlich wie Kind im Hause; ja ich wurde als der Sohn ihres über alles verehrten und geliebten ältesten Bruders, unter dessen Obhut und Führung sie nach des Vaters Tode zwanzig Jahre gelebt hatten, vielleicht zärtlicher geliebt und gehegt, als eigene Kinder es geworden wären. Jedenfalls wurde mir bei ihnen mehr Freiheit und Nachsicht zuteil als zu Hause, wo die Mutter unter dem Gefühl der Verantwortlichkeit mich strenger hielt. Natürlich merkte das der kleine Rechner bald, und so ging ich wohl auch einmal ohne Vorwissen und Erlaubnis der Mutter zu ihnen, um so mehr als ich dort auch fand, was ich zu Hause nicht hatte: eine Spielgefährtin. Die Tanten hatten die älteste Tochter einer im Dorf verheirateten älteren Schwester zu sich genommen, als diese seit der Geburt jüngerer Kinder kränklich blieb. Meine Cousine Tine, sie ist in diesem Jahre (1907) herzlich betrauert von uns gegangen, ist viele Jahre meine nächste und liebste Spielgenossin gewesen; ein paar Jahre älter als ich, wußte sie mich mit angeborener Sicherheit und Liebenswürdigkeit zu leiten[61] und zu beschäftigen. »Tine, was sollen wir nun?« das sei, so ist mir oft nachher gesagt worden, meine immer wiederkehrende Frage gewesen. Als ich in die erste Schule kam, die von dem Hause meiner Tanten bloß ein paar Schritte entfernt lag, war ich sehr häufig ihr immer willkommner Mittagsgast, und war das Wetter im Winter zu schlecht, so durfte ich auch zu Nacht hinübergehen. Als ich später einmal während anhaltender Krankheit der Mutter wohl ein ganzes Vierteljahr bei ihnen gewesen war, kostete es nachher sehr entschiedenes Auftreten der Mutter, um mich wieder in das Elternhaus zurückzugewöhnen.
Die älteste der Schwestern hieß Brodine, wohl eine etwas willkürlich gebildete weibliche Form zu dem männlichen Broder, einem häufigen Vornamen, zu dem das eigentlich weibliche Seitenstück Soster (Schwester) ist, auch ein nicht ungewöhnlicher Name; nimmt man Namen wie Poppe, Sanke (Söhnchen) hinzu, so sieht man: es ist nicht ein Überschwang der Phantasie, der sie erfunden hat, sondern die Hausbezeichnung des Kindes blieb als allgemeiner Name, ähnlich wie bei den Römern. Tante Brodine war eine sehr merkwürdige Frau; streng abgeschlossen nach außen, führte sie ein eigenes Innenleben. Während sie sonst wenig sprach und immer mit abgewendetem Blick, erzählte sie uns Kindern, die wir mit ihr in einem großen Wandbett schliefen, gern sowohl aus der eigenen Jugend und ihren Erlebnissen, von der Hallig, von der Schiffahrt, von der Flut, als allerlei Geschichten, die sie mit treuem Gedächtnis bewahrte. Sie hatte ein ungemein sicheres Gedächtnis; die Bibel hatte sie durch und durch inne, es wurden unter uns wohl biblische Namen im Spiel gefragt: sie wußte sie alle mit allen ihren Beziehungen, von Kedor Laomer bis zu den drei Töchtern Hiobs; aber auch weltliche Dinge waren ihr aus dem Schulunterricht sicher haften geblieben. Als ich von Erlangen als Student in die Ferien kam und sie besuchte, wußte sie gleich Bescheid: »Erlangen«, wie sie aussprach, »Ansbach und Baireuth.« Im Haushalt hatte sie die Küchenverwaltung, bis sie sich in ihren späteren Tagen auf ihr Stübchen im Backhaus zurückzog, ganz der Einsamkeit und der Erinnerung lebend; im Winter saß sie ohne Licht stundenlang regungslos in ihrem alten Armstuhl, dabei ganz freundlich und teilnehmend, wenn man sie aufsuchte. Aber sie hatte kein Bedürfnis, weder nach Unterhaltung noch Arbeit. Was in ihr vorging und womit sie sich innerlich beschäftigte, sie hat es keinem Menschen mitgeteilt.[62]
Die zweite Tante, meinem Vater im Alter am nächsten folgend, hieß Paulene. Sie war die Güte selbst, ich habe von ihr nie ein hartes oder auch nur ein minder freundliches Wort weder gegen jemand, noch über jemand in seiner Abwesenheit gehört. Eine tiefe, ganz innerliche Frömmigkeit machte ihr Wesen aus, sie sprach nicht viel davon, aber sie lebte ganz darin. Am Morgen ihres Todestages sagte sie mit ruhiger und freudiger Zuversicht zu den Geschwistern: »Heute wird mich mein Jesus holen.« Sie lebte längst mehr im Jenseits, als im Diesseitigen. Für mich hat sie immer die zärtlichste Zuneigung gehabt; als ich der Heimat den Rücken kehrte, hat es vielleicht niemand tiefer gefühlt, auch wenn sie es nicht sagte: überflüssiges Bereden und Beraten war überhaupt in diesem Hause nicht üblich. Jeder muß seinen Weg selbst finden, so galt es auch unter den Geschwistern: Zurückhaltung und Diskretion ist der erste Beweis guter Gesinnung; dem andern dreinreden ist unziemlich.
Tante Josine, deren Namen doch wohl biblischen Ursprungs ist, mit dem König Josias zusammenhangend, der ebenso, wenn auch seltener als der alte Joachim in friesischen Taufnamen wiederkehrte, trat hinter den Schwestern zurück; sie war eine weniger bedeutende und innerlich reiche Natur. Lange Jahre hat sie dem Bruder bei der Feldarbeit geholfen, bis sich die Schwächen des Alters einstellten. Da eine Magd nicht gehalten wurde / die Geschwister mochten keine fremden Leute in ihrem Kreise haben, sie hielten oft, außer Tagelöhnern, nur einen Hütejungen / so war immer ein Übermaß von Arbeit zu tun: neben der Feldarbeit die Milchwirtschaft mit sechs bis acht Kühen, so daß im Sommer der Tag wohl von vier Uhr morgens bis 10 Uhr abends dauerte. Dennoch nie ein Wort des Unmuts über ein Zuviel: das ist nun so und von jeher so gewesen und damit muß man fertig werden. Wozu vergebliches Klagen? Wir wollen es so, und wir haben es so, wie wir wollen.
Der Herr des Hauses war Onkel Ipke; er steht mir als eine jugendlich elastische Gestalt vor Augen, wie er denn bis an sein Lebensende die jugendliche Farbe des Haares und des Gesichts behalten hat. Er hatte ungern den Bauernhaushalt übernommen; er wollte irgendwo an einem Wasser sich niederlassen und Fischer werden. Er ist doch ein leidenschaftlicher Bauer geworden; sein Betrieb war größer als der des Vaters; vor allem zog er auch junge Pferde und gräste jütische Kühe; er kam daher viel mehr als der Vater in den Marktverkehr[63] hinein, vor dem dieser stets eine starke Abneigung hatte. Ich bin öfter mit dem Onkel auf die Märkte gekommen; er war ein sehr sicherer Beurteiler und ein zäher Händler; ohne viel Worte zu machen, wußte er seinen Willen durchzusetzen. Dabei arbeitete er im übrigen hart wie ein Knecht; es war ihm nichts zuviel und nichts zu schwer: mir ist nie wohler, pflegte er zu sagen, als wenn ich tüchtig arbeite, das Stillsitzen kann ich nicht vertragen. Er wunderte sich wohl im stillen über den Vater, der im Winter den ganzen langen Tag über seinen Papieren sitzen konnte, ohne auch nur einmal vor die Tür zu gehen. Onkel Ipke las wenig und schrieb gar nicht; er war den ganzen Tag im Stall und in der Scheune tätig, und auch das Dreschen, eine Arbeit, von der sich der Bauer sonst dispensiert, ließ er sich nicht nehmen. Bis in sein höchstes Alter tat er im Sommer über draußen alle Arbeit. Da er als der letzte von den Geschwistern starb, so fehlte es ihm zuletzt zu Hause sehr an nötiger Pflege; er konnte sich nicht entschließen eine Fremde ins Haus zu nehmen und sorgte selbst, so gut oder übel es ging, für die Küche. Die Verwandten redeten ihm wohl zu, sich anders einzurichten; aber er blieb bei seiner Art, ruhig, aber bestimmt jede Beratung in seinen Angelegenheiten ablehnend. Wer von außen in das kleine dürftige Haus hineinsah, das er sich nach Verkauf des alten Besitzes gekauft hatte, mußte denken, ein armer Tagelöhner wohne hier. Er hätte sich, ohne seinen Besitz an Kapitalien und Papieren zu erschöpfen, ein sehr ansehnliches Rittergut kaufen können; so war das Vermögen der Geschwister bei steigender Konjunktur und bei strenger Sparsamkeit in den langen Jahren gewachsen. Sinn und Bedürfnisse hatten sich völlig unabhängig von der Umgebung durchaus auf dem alten Fuß gehalten.
Das alte Haus, in dem die Geschwister über 60 Jahre wohnten, war recht stattlich, viel stattlicher und reicher als unser Haus. Es war offenbar aus vollen Mitteln gebaut. Die geräumige Wohnstube zeigte eine reiche Holztäfelung im Stil des 18. Jahrhunderts, Türen und Bettläden waren mit Malereien versehen, Städte mit Türmen, Dörfer mit Mühlen usw. darstellend. Mit den alten Sesseln und Stühlen ausgestattet, die mit ihren gewundenen Säulenbeinen und ihrer bemalten Lederpolsterung auf das 17. Jahrhundert zurückwiesen, machte das Ganze einen altmodisch-vornehmen Eindruck. Der große Pesel enthielt manches alte Stück, das die Aufmerksamkeit des Knaben auf sich zog: einen großen Sekretär, auf dem eine gewappnete weibliche[64] Figur aus Gips, eine Minerva, wie ich später lernte, stand, ein paar alte blauweiße Bettvorhänge, auf denen eine Menge Figuren und Geschichten biblischer Herkunft gestickt waren usw. Auch die Schränke gaben Altertümliches und Fremdartiges her, das wohl einmal auf Wunsch gezeigt wurde: bunte Seidenkleider mit Silberschmuck von Filigran, Bernsteingeräte und Schmucksachen und Ähnliches. Einiges davon ist noch im Familienbesitz, das meiste an Händler verschleudert worden, die seit den 60er Jahren die Gegend absuchten und mit schrecklicher Beharrlichkeit den Willen auch der Widerstandsfähigsten brachen: man muß sie doch los werden.
Der Hauptanziehungspunkt für mich war jedoch der Bücherschrank; in einem großen Wandschrank über einer der Wandbettstellen der Wohnstube waren die Bücher und Papiere aufbewahrt, die man von Oland mit herübergerettet hatte. Es waren fast lauter Bücher geistlichen Inhalts, höchst gewichtige Predigtbücher bildeten den Hauptbestand; viele zeigten die Spuren der Flut, wasserdurchtränkte und sich auflösende Blätter redeten von dem, was sie durchgemacht hatten. Daneben fand sich aber auch für mich Genießbareres; so erinnere ich mich zahlreicher Bände Baseler Missionsberichte; ferner eines dicken Buches mit Betrachtungen auf jeden Tag des Jahres, über die aber allemal irgendein Holzschnitt, ein Kompaß oder eine Windmühle, oder ein Bienenkorb gesetzt war, an den die geistliche Betrachtung mehr oder minder sinnreich anknüpfte. Ich weiß den Titel nicht mehr, sehe aber noch diesen und jenen Holzschnitt. Endlich waren zahlreiche Familienpapiere da, besonders eine Menge Skripturen vom Großvater Ipke Petersen, der auch noch in der Erinnerung der Tanten lebendig war. Abwechselnd Schiffer und Küster auf Oland, hatte er einen erstaunlichen Drang gefühlt, von seinem Innenleben auch schriftlich sich Rechenschaft zu geben. Eine Menge davon ist noch in meinem Besitz. In diesen Schrank pflegte ich als Knabe hinaufzuklettern und konnte dann stundenlang oben bleiben und in den Schätzen blättern und lesen. Die Tanten haben wohl einmal, wenn sie mich nur mit Mühe herunterbrachten, gesagt: der wird einmal Prediger werden, zum Bauer taugt er nicht.
Ein zweites Verwandtenhaus im Ort war das des Schwagers meines Vaters, des Vaters der obengenannten Cousine Tine. Ich kam seltener hin, die Eltern standen sich nicht sehr nahe, doch haften auch an ihm manche Eindrücke. Und es war ein nicht uninteressantes Haus. Schon[65] das Haus selbst, es mochte aus dem Anfang des 17., vielleicht auch noch aus dem 16. Jahrhundert stammen. Die Räume waren niedrig, die Mauern nicht so hoch wie später üblich aufgeführt, die Fenster daher mehr breit als hoch, mit kleinen bleigerahmten Scheiben; über den Fenstern ging das Dach schräg aufwärts, inwendig in den Stuben verkleidet durch eine schräge Holztäfelung. Noch tiefer als auf der Südseite ging das Dach auf der Nordseite herunter, so daß die Tür, die hier ins Freie führte, nur eine Höhe von kaum 11/2 Meter hatte. Es ging die Sage: die siegreichen Dänen hätten einst verboten, höhere Türen zu bauen, damit die Friesen, wenn sie nach Norden hinausträten, sich jedesmal bücken müßten und damit an ihre Unterwerfung erinnert würden. In der Stube lief rings um die Wände eine Holzbank oder vielmehr eine Lade, die gleich als Sitz diente. Die Wände waren mit alten Majolika- und Zinnschüsseln verziert. Auch die Wirtschaftsräume waren niedrig, zeigten aber Eichenbalken, wie es sie im Lande nicht mehr gab.
Auch die Bewohner des Hauses waren nicht ohne Interesse. Zwar die Mutter, die Schwester meines Vaters, war kränklich und stand unter dem Druck, sie trat wenig hervor und starb früh; seitdem mußte Tine nach Haus kommen und den Haushalt führen. Der Mann, Sönke Pferdedoktor, wie er in der ganzen Umgegend hieß, war weit und breit bekannt. Er war im Besitz der Kunst kranke Pferde und Vieh zu heilen. Er hatte sie nicht auf einer Schule gelernt, sondern von seinem Vater geerbt, der sie wohl wieder vom Vater hatte. Wieviel Vertrauen sie verdiente, weiß ich nicht, sie fand aber ein außerordentlich großes und verbreitetes; freilich kostete die Beratung nichts, der nicht gelernte Tierarzt durfte nicht gegen Entgelt praktizieren, und bei der Apotheke machte er den Leuten auch keine Kosten, seine Heilmittel waren einfach: das gewöhnlichste wohl der Aderlaß, den er selbst rasch und sicher ausführte, nicht selten, bis das Tier zu schwanken anfing. Innerlich wurde Bier und Butter, zusammengekocht, gegeben, der Trank pflegte den Tieren mit einer Flasche durch den Mund oder auch durch die Nase eingegossen zu werden; dazu kamen Klistiere, Salben, wobei grüne Seife eine beträchtliche Rolle spielte, und anderes. Die Heilerfolge waren wohl nicht selten überraschend. Jedenfalls, die Leute brachten kranke Tiere, vor allem Pferde, von weither oder schickten Wagen, ihn zu holen, so daß er sich des Andrangs oft kaum erwehren konnte. Im übrigen war er ein kleiner kränklicher Mann, er hatte es »auf der[66] Brust«, wie man bei uns sagte; er führte die Krankheit selbst auf die Teilnahme an dem Winterfeldzug gegen Bernadotte 1814 zurück. Doch brachte er sein Leben trotz manchem Ach und Krach auf über siebzig. Nach dem Tode des Vaters blieben die Kinder, außer Tine noch eine Schwester und ein Bruder, unter der Obhut des Vaterbruders, Ketel. Er war unverheiratet geblieben und diente seit Menschengedenken seinem nur ein paar Jahre älteren Bruder als erster Knecht; ich weiß nicht, ob er auch Lohn erhielt, ich halte es für wahrscheinlich, denn Pflicht um Recht war der herrschende Grundsatz. Im übrigen war er ein wohlhabender Mann, mit einem ganz stattlichen Vermögen; aber er wollte und suchte nichts andres, als eine Stelle, wo er leben und arbeiten konnte. Wie die Führung des Haushalts, so erbte er auch die Kunst des Bruders, die er übrigens vertretungsweise wohl auch früher schon geübt hatte. Mit ihm ist sie ausgestorben; der Vater wollte nicht, daß der Sohn sie lerne, es sei eine große Last ohne Ertrag. Ebenso war auch die altererbte ungelernte Menschenheilkunst, die in meinen ersten Jugendjahren auch noch an mir einmal mit Erfolg geübt worden ist, kurz zuvor ausgestorben. Ich war als kleines Kind bei einem Besuch auf dem Lande in einen tiefen trockenen Graben gefallen und hatte mir einen Arm aus dem Gelenk gefallen; sogleich wurde angespannt und ich zu unserem alten Ingwer Gliedsetzer (Lasetter) gebracht. Der renkte den Arm wieder ein, und die Sache war erledigt.
Das dritte Haus, das mir sehr lieb und vertraut war, war das Elternhaus meiner Mutter; es lag in dem 11/2 Stunden entfernten Dorf Sande, Kirchspiel Enge. Hier lebten, als ich ein kleiner Knabe war, noch die Großeltern, bei ihnen im Hause der ältere Bruder der Mutter Ketel Moritz und die jüngere Schwester Agathe Margarete. Onkel Ketel war seit 1848 verheiratet mit der Schwester meines Vaters Tante Naëmie Johanna, so daß wir durch doppelte Verwandtschaft verbunden waren. Drei Kinder wuchsen ihnen heran, so daß die engen Räume des kleinen Hauses übervoll waren. Aber herzliche Neigung und Ehrerbietung aller Glieder des Kreises gegeneinander ließen die Enge keinen Augenblick zu lästiger Bedrängtheit werden. Ich habe ein klareres, herzlicheres, harmonischeres Gemeinschaftsleben, als es in diesem Hause herrschte, nirgends gesehen.
Seit dem Tode des Großvaters (1854) war Onkel Ketel das Haupt des Hauses. Er war ein Mann von seltener Sicherheit und Klarheit[67] des Wesens. Gelernter Zimmermann, er hat noch für die Aussteuer der Mutter dies und das Stück mit eigener Hand gearbeitet, stellte er das Handwerk mehr und mehr beiseite und widmete sich, da auch der kleine Landbesitz allmählich vergrößert wurde, ganz der Landwirtschaft. Es war ein Betrieb ähnlich dem unsern, etwas kleiner. Onkel Ketel war ein vortrefflicher Erzieher, er besaß das Geheimnis der Leitung und Zucht: die rechte Mischung von Ernst und Freundlichkeit, oder mit E.M. Arndts Worten, von Liebe und Notwendigkeit, wobei der Ernst oder die Notwendigkeit voranstand, so daß die Liebe nie in Gefahr kam, mißverstanden zu werden. Bei der Tante Johanna war es umgekehrt, hier stand die Liebe so sehr voran, daß die Notwendigkeit Mühe hatte, irgendwo der Nachsicht ein Rändchen Boden abzugewinnen. Sie war der Schwester Paulene in ihrer Herzensgüte nächstverwandt, sie konnte niemand etwas abschlagen oder ihm entgegentreten. So war denn die Festigkeit des Vaters eine sehr glückliche Ergänzung.
Die »Reisen« nach dem Sande waren für mich von klein auf Festtage. Ich erinnere mich eben, wie ich als ganz kleiner Kerl auf dem Hinweg neben dem Vater auf dem vordersten Wagenstuhl saß und die Peitsche in der Hand hielt, um am späten Abend, wenn es kühl geworden war, unter dem großen Mantel der Mutter schlafend wieder zu Hause anzukommen. Auf dem Sande war der große Anziehungspunkt der »Strom«, die Scholmerau, die eine Viertelstunde entfernt, den Landbesitz des Onkels durchschnitt, was ein Boot notwendig machte. Das Boot und die Fahrt über den Strom spielt in meiner Jugendphantasie eine bedeutende Rolle; es war das erste große lebendige Wasser, das ich so aus der Nähe kennen lernte; auf seinem Spiegel breiteten Wasserrosen, die mit unendlich langen Stengeln in die geheimnisvolle Tiefe hinabragten, ihre großen runden Blätter aus und entfalteten die weißen und gelben Blüten und die großen Samenkapseln, die wir pflückten und nach Hause brachten. Am Rande wuchs eine Schilfart (Bawelte), zwei, drei Meter lang und daumendick. Und die Niederungen am Ufer standen schon um Ostern, wo in der Regel nach der langen Winterpause die erste Ausfahrt gemacht wurde, in vollem Goldschmuck: die große gelbe Dotterblume bedeckte weithin die Wiesen an den Krümmen des Stromes. Als ich größer wurde, begann ich die Reise nach dem Sande allein und zu Fuß zu machen; ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre, als ich zum erstenmal das Abenteuer bestand: es[68] war damals gar nicht so einfach; die Chaussee war noch nicht da, der Weg ging durch drei fremde Dörfer; mancher Irrweg war möglich, er wurde mir mit dem richtigen von der Mutter zu Hause sorgsam eingeprägt, und doch stand ich dann hinterher zweifelnd vor der Entscheidung. Dazu überall unbekannte Menschen und fremde Hunde, die mich fremd ansahen und mir beharrlich nachbellten. Ja fremde Hunde, das war keine Kleinigkeit; vor allem stehen mir noch zwei große schwarze zottige Pudel vor Augen, die an einem einsamen Haus am Deich schon von ferne dem kleinen Wanderer auflauerten und ihn weithin kläffend verfolgten; sie sind mir lange ein Schreckbild geblieben. Dafür war es dann kein kleiner Stolz, wenn ich geborgen aus soviel Fährlichkeit bei den Großeltern ankam und nun in Sicherheit davon erzählen konnte.
Wie oft hab ich in der Folge den Weg nach dem Sande gemacht, zu jeder Jahreszeit, zuletzt auf allen möglichen selbstgesuchten Wegen, über Fennen und Gräben, über Dämme und Ströme, im Winter auf Schlittschuhen, immer gleich gern. Meist durfte ich eine oder zwei Nächte drübenbleiben, das Aufwachen am Morgen und das Innewerden: nun habe ich noch einen ganzen Tag hier, war der schönste Augenblick. Die Kinder, zwei Schwestern und ein jüngerer Bruder, wuchsen mir allmählich zu Spielkameraden heran, ich lehrte sie die Spiele, die ich von Hause mitbrachte; wir streiften über die Felder, wo an den Grabenrändern hie und da Brombeerbüsche wuchsen; oder der Strom mit dem Boot zog uns an, freilich war das Boot festgemacht, aber man saß doch darin, und ein wenig ließ es sich auch da und dorthin bewegen, und daß es eigentlich verboten war, gab der Sache noch einen Reizzuwachs. Am allerschönsten war es zu Weihnachten. Dann packte mir die Mutter alle Taschen voll und dazu wohl auch ein rundes Körbchen, und ich erschien drüben als Spender herrlicher Gaben: Puppen und Bälle, hölzerne Pferde und Kühe, ja ein ganzer Stall und eine ganze Stube kamen zum Vorschein, und ein andermal ein Bilderbuch oder ein kleiner Nähkasten, ein Tuch oder eine Mütze, dazu Kuchen in allen Formen und Größen, und Äpfel und Nüsse, was weiß ich alles; und die Augen der Kinder wurden immer größer, und die Tante Johanna meinte ganz wie die Weisen aus dem Morgenlande: und täten ihre Schätze auf, Gold, Weihrauch und Myrrhen. Es stimmte nicht ganz, aber die Stimmung war es doch; die Freude der guten Könige kann auch nicht größer gewesen sein, als sie das Kindlein beschenkten.[69] Daß aber meine Mutter eine solche Verschwenderin geworden war, ja, das lag wohl in der Zeit: als ich ein Kind war, gab es solche Herrlichkeiten noch gar nicht zu kaufen, wenigstens nicht in unserem Bereich; jetzt wurden sie von Umläufern für ein paar Groschen in jedem Haus angeboten; und die Mutter schenkte so gerne.
Zur ferneren Verwandtschaft gehörten noch zwei Familien, die in Langenhorn wenigstens zeitweilig lebten, die Frau Dr. Rickertsen mit ihren vier Kindern, und der schon erwähnte Kapitän Nommensen, der eine Cousine meines Vaters zur Frau hatte. Dr. Rickertsen war ein Vetter meines Vaters, er wie die Cousine, Kinder der einzigen Schwester seines Vaters, Poppe Maria, die mit einem Hofbesitzer Rickertsen aus Fahretoft verheiratet gewesen war, dann in Langenhorn als Witwe gelebt hatte. Dr. Rickertsen hatte Medizin studiert, war aber, als er eben sein Studium vollendet, sich etabliert und verheiratet hatte, allmählich geisteskrank geworden. Er hatte zunächst noch eine Reihe von Jahren zu Hause gelebt, dann hatte ihn mein Vater nach Schleswig in die Irrenanstalt bringen müssen, wo er viele Jahre zugebracht hat, zuletzt lebte er wieder bei der Familie, die inzwischen nach Flensburg gezogen war. Der Vater führte als Kurator die Geschäfte für die Familie. Solange sie in Langenhorn wohnte, bin ich öfter ins Haus gekommen, die vier Söhne waren im Alter von mir nicht weit entfernt, etwas älter oder jünger. Doch wollte zwischen uns nicht ein ganz unbefangenes Verhältnis zustande kommen; sie wurden wie Stadtkinder gehalten und sprachen wie die Mutter hochdeutsch, was gleich einen beträchtlichen Abstand hervorbrachte. Am besten ging es mit der jüngsten Schwester, der Frau Doktor, die bei ihnen lebte; sie sprach plattdeutsch mit mir und nahm sich des etwas verlassen sich vorkommenden Bauernknaben überhaupt mit Freundlichkeit an. Sie kam auch öfter zu den Eltern und war überhaupt vielfach das vermittelnde Element. Sie hat mir auch den ersten und einzigen Weihnachtsbaum gebracht und angezündet, den ich als Knabe gesehen habe; der Tannenbaum war damals in unserer Gegend noch völlig unbekannt. Als die Familie fortzog, ich werde zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein, vermachte sie uns ihren Hund, Zampa. Er ist uns, nachdem er erst wochenlang seine alte Herrschaft mit Fasten und Heulen betrauert hatte, ein sehr treuer Hausgenosse geworden. Vor allem hing er an der Mutter in unaussprechlicher Anhänglichkeit. Mir wurde er ein regelmäßiger Begleiter auf allen Ausgängen, und oft haben wir tagelang[70] zusammen auf dem Felde zugebracht, wo er sich als überaus eifriger Jäger betätigte. Freilich waren nur Mäuse, Wiesel, Wasserratten usw. seine Beute.
Die Beziehungen zur Familie blieben übrigens auch nach ihrem Wegzuge, der Vater behielt die Verwaltung des Vermögens, das in Marschland im Fahretofter Koog bestand und jährlich verpachtet wurde. Jeden Weihnachten kam eine Kiste mit allerlei Geschenken, unter anderem sind so die ersten Apfelsinen ins Haus gekommen, die als Wunderäpfel Staunen erregten. Auch kam hin und wieder ein Besuch, entweder die erwähnte Schwester, die immer gern gesehen war, oder der älteste Sohn, der in Plön das Gymnasium besuchte: Ich erinnere mich noch, wie er mich in der Geographie examinierte und mir den Petschora, der mir nicht bekannt war, auf der Karte zeigte. Einmal sind wir auch bei ihnen zu Besuch gewesen, es muß im Sommer 1859 gewesen sein; der Vater hatte Bauholz zu einer kleinen Erweiterung der Scheune aus Flensburg zu holen. Da entschloß sich die Mutter, wiederholter dringender Einladung zu einem Besuch zu folgen; ich kam auch mit. Die lange Reise, früh um drei Uhr angetreten, führte über den ganzen Geestrücken des Landes, bei Lindau sah ich zum erstenmal im Leben einen Wald, d.h. ein kleines Tannengehölz. Vor Flensburg begegneten wir exerzierenden Soldaten. Wir blieben bis zum Nachmittag des folgenden Tages; unter den vielen Erlebnissen und Wundern ist mir in der Erinnerung die Nacht in einer kleinen beweglichen Bettstatt, die bei jeder Bewegung knarrte und die Mutter nicht zum Schlafen kommen ließ, da war man doch in einer Wandnische sicherer verwahrt; der Hafen mit den vielen großen Schiffen und der Schiffbrücke, in Ockholm lag höchstens einmal ein kleines einmastiges Fahrzeug; ein Ausgang am Abend, um die hellbeleuchteten Läden zu sehen, was die Frau Rickertsen als ein ganz besonderes Glanzstück des Besuchs betrachtete, was aber von der übermüdeten Mutter nur mit Aufbietung der letzten Kraft ertragen wurde; ein Malheur am Hafen: mein weißer Strohhut, den ich zum Geschenk erhalten hatte, der aber keineswegs wie die gewohnte Mütze dem Kopf sich fest verbinden wollte, wurde vom Winde ins Meer entführt, aber von einem Bootführer glücklich wieder herausgefischt und zurückgebracht; die großen Schnecken und die dänischen Fahnen auf dem Kirchhof; endlich zu guter Letzt die erste Eisenbahnfahrt in meinem Leben. Gehört hatten wir schon davon, daß ein Engländer, ich weiß seinen Namen noch, Sir Peto, eine Bahn von[71] Husum nach Flensburg baue. Jetzt sollten wir sie sehen und sogar ein Stück darauf fahren: der Vater brachte unsern Wagen nach der nächsten Station, dem Holzkrug, voraus, und dann fuhren wir auf der Eisenbahn nach, II. Klasse, denn die Frau Dr. Rickertsen begleitete uns. Ich war eigentlich darüber verwundert, daß es nicht schneller ging, ich hatte gedacht, oder hatte man es uns erzählt? die Fahrt ginge so schnell, daß man draußen gar nichts unterscheiden könne. Dann setzten wir uns, nicht allzu bequem, auf unsern mit Brettern beladenen Wagen und ich kam, schlafend unter dem Sternenhimmel, von meiner ersten Reise in die große Welt nach Hause.
Der Bau der Scheune gab übrigens zur Übung der Kletterkünste günstigste Gelegenheit. Ich benutzte Sparren und Latten, um auf den First des Hauses zu klettern und hier equilibristische Kunststücke zu machen, auf den Schornstein zu steigen und die Mädchen in der Küche zu erschrecken. Manche Stunde hab ich oben gesessen und ins Weite geschaut, auch wohl mit einem Buch oben gelegen.
In das Haus des Kapitän Nommensen bin ich nicht oft gekommen. Er war ein wenig freundlicher, barscher Mann, die Familie befand sich, wenn er im Winter zu Hause war, unter einem starken Druck, der sie nicht recht aufatmen ließ. Die Mutter war eine Null. So fand eigentlich überhaupt kein Verkehr zwischen den Familien statt, nur daß der Kapitän hin und wieder zu uns kam und bei einer Tasse Kaffee eine mächtige lange Pfeife im Mund, von seinen Fahrten erzählte und über die schlechte Zeit räsonnierte: durch die aufkommenden Dampfschiffe werde den Segelschiffen der Verdienst genommen. Die Menschen pflegen das Schicksal und die Zeit anzuklagen, wenn sie sich zu ihrer Aufgabe verquer stellen; er hatte ein gutes, neugebautes Schiff, und an Gelegenheit zu Verdienst hätte es wohl nicht gefehlt, wenn er den rechten Weg eingeschlagen hätte; seine Großspurigkeit war wohl die Hauptschuld dafür, daß er nicht auf einen grünen Zweig kam und das Vermögen der Frau allmählich bei der Schiffahrt zusetzte, wie es der Vater mit wachsendem Mißvergnügen sah. Mich interessierten mehr die Seeabenteuer oder seine Erlebnisse in Archangel oder in Messina, von denen er nicht ohne Nachdruck zu erzählen wußte. Über den Ausgang des Kapitäns und die weiteren Schicksale der Familie ist schon oben berichtet worden.
So eröffneten diese Beziehungen dem Knaben einen kleinen Durchblick in die größere Welt draußen.
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