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[32] »Der Mensch lebt nicht, um zu essen,
sondern er ißt, um zu leben«.
Angenehm ist Hunger und Durst,
Kann man sich reichlich laben
Mit Speis' und Trank, Brot, Bier und Wurst
Und andern Gottesgaben.
Doch fürchterlich der Hunger quält,
Wenn's an gesunder Nahrung fehlt.
Schrecklich ist es, hungern müssen,
Mangelt es an den nötigen Bissen.
O Kinder, wenn ihr euch setzet zu Tisch
Und euch erquickt an Braten und Fisch,
So denkt an den Hunger der Armen
In Mitleid und Erbarmen.
Ach, viele Kinderleben in Not
Und rufen weinend nach einem Stück Brot!
[32]
Bei Tische finde dich rechtzeitig ein,
Mußt immer pünktlich zu Hause sein;
Darfst nicht dich herumtreiben auf den Gassen,
Zu Hause nicht auf dich warten lassen.
Gesittet mußt du bei Tisch dich benehmen,
Den üblichen Regeln dich anbequemen.
Wie's bei Erwachsenen Brauch,
So mach' du's auch.
Bevor die Erwachsenen Platz genommen
Auf ihren Plätzen,
Sollen sich die Kinder
Nicht an die Tafel setzen.
Setzet euch nicht zu hart an den Tisch,
Auch nicht zu weit davon:
Das eine wie das andre verstößt
Gegen den guten Ton.
Bindet hübsch um den Hals
Die Serviette.
Ins Knopfloch sie zu stecken,
Ist gegen die Etikette.
[33]
Aufrecht soll man am Tische sitzen,
Mit dem Leib nicht fackeln,
Den Kopf nicht über den Teller neigen,
Mit dem Stuhl nicht wackeln.
Vom Schmatzen und Schlürfen enthalte dich,
Denn solches ist ganz widerlich.
Auch schickt es sich nicht, laut zu knabbern,
Oder mit dem Besteck zu klappern.
Beim Essen sollst du dich nicht überhasten,
Als hättest du müssen acht Tage fasten,
Als wärst du übers Hungerkraut gegangen;
Bezähme dein heftiges Verlangen.
Sei nicht unmäßig
Und nicht gefräßig.
Reiß nicht das Brot vom Stück,
Streiche die Butter nicht zu dick.
Ungestüm fordern ist widerlich;
Wart, bis die Reihe kommt an dich.
[34]
Hast du einen Wunsch, so bitte bescheiden.
Vieles Schwätzen sollst du vermeiden.
Kommt auf die Tafel ein Gericht,
Das dir nicht will behagen,
Darfst du dennoch nicht sagen:
»Das mag ich nicht.
Mein Magen
Kann's nicht vertragen«.
Mußt vielmehr versuchen,
Deinen Widerwillen zu zwingen;
Wirst sehen, es wird dir gelingen,
Es hinunter zu schlingen.
Bald schmeckt dir's angenehm wie Kuchen.
Wenn man den Willen dazu hat,
Geht vieles leicht und glatt.
Daß Muß
Ist zuerst eine harte Nuß,
Macht aber zuletzt Genuß.
Linchen war ein artiges Kind, nur eins hatte die Mutter an ihr zu tadeln: so oft geröstete Mehlsuppe auf den Tisch kam, rührte sie dieselbe nicht an. Sagte die Mutter: »Linchen, probier's, nimm nur einen Löffel[35] voll, du wirst sehen, es schadet dir nicht, sie schmeckt doch so gut« – so fing Linchen an zu weinen und weinte so lange, bis ihr die Mutter eine andere Suppe kochte. Eines Tages, während der Vakanz, machte Linchen mit ihren Mitschülerinnen einen großen Spaziergang in den Wald. Als sie heimkam, hatte sie einen Wolfshunger. Da dachte die Mutter: »Ich will doch sehen, ob ich meinem Linchen nicht ihren Widerwillen abgewöhnen kann«. Flugs kochte sie eine geröstete Mehlsuppe, setzte sie Linchen vor und sagte: »Hier, iß ich muß schnell fort auf die Post, um für Papa etwas aufzugeben. Adieu, Linchen«. Und fort war sie. Als Linchen die Suppe sah, war sie verdutzt und wollte nicht zugreifen. Sie suchte im Tischkasten, im Speiseschrank, aber nichts andres war zu finden. Der Hunger aber quälte sie schrecklich, und siehe, sie faßte sich ein Herz, nahm einen Löffel voll, und merkwürdig! die Suppe schmeckte ihr vortrefflich. Wenige Minuten und die Suppe war ausgelöffelt bis auf den letzten Tropfen. Als die Mutter heim kam und den leeren Suppennapf sah, da lächelte sie, und Linchen lächelte auch, fiel der Mutter um den Hals und gab ihr einen Kuß. Seit diesem Tag war Linchen von ihrem Widerwillen gegen die geröstete Mehlsuppe kuriert.
Der Hunger ist der beste Koch.
[36] Regeln über die Suppe,
Merkt euch folgende Gruppe.
Kommt die Suppe zu heiß auf den Tisch,
Darfst du sie doch nicht blasen,
Ob auch dein Hunger groß,
Ueber alle Maßen.
Iß sie aber auch nicht zu heiß,
Verbrenn dir nicht das Mäulchen.
Sie kühlt sich schon von selber ab
Nach einem kleinen Weilchen.
[37]
Gesittete Kinder niemals dürfen
Die Suppe aus dem Teller schlürfen.
Ihr kommt ja nicht aus Afrika.
Wozu ist denn der Löffel da?
Den Löffel muß man halten korrekt,
Die Suppe dann viel besser schmeckt.
Brot in die Suppe brocken – nein,
Das darf nicht sein!
Mit der Schnauze packt den Fraß der Hund,
Der Vogel mit dem Schnabel.
Der Mensch bringt seine Speise zum Mund
Mit Löffel, Messer und Gabel.
Gebrauche Messer und Gabel beim Speisen,
Wie die Erwachsenen dich unterweisen.
Zum Messer sprach die Gabel:
»Der Franz hält dich miserabel.«
»Der Franz,« erwidert' das Messer,
»Ist ein unartiger Fresser.«
Flugs schnitt den Franz es in die Haut,
Das Blut fing an zu fließen.[38]
Vor Schmerzen schrie der Knabe laut
Und mocht' nichts mehr genießen.
Der Vater schalt, die Mutter eilt,
Die Wunde zu verbinden.
Noch Wochen erst war sie geheilt,
Wohl wieder sein Befinden. –
Franz hielt von nun an besser
Die Gabel und das Messer.
In kleine Bissen
Sollst du den Braten schneiden,
Große Stücke in den Mund zu nehmen
Mußt du vermeiden.
Hast du im Mund etwas,
Das Sprechen unterlaß.
Es schickt sich nicht, ist beschwerlich,
Sogar gefährlich.
Schluck' erst die Speise hinunter,
Dann rede munter.
Vorsichtig muß man sein,
Trinkt man Bier oder Wein.
Es schmeckt ja so gut;
Doch trinkt man zu viel,
[39]
Kommt in Aufruhr das Blut,
Wird's euch schwül.
Benebelt wird der Geist,
Was man ein Räuschchen heißt.
Muß man die Zähne stochern bei Tisch,
Darf's nicht vor aller Augen geschehen,
Man halte die linke Hand vor den Mund,
Oder mag sich zur Seite drehen.
Kaffee
Oder Thee
Zu trinken aus der untern Tasse
Unterlasse!
Zum Fortgehn erst dich wende,
Wenn das Mahl zu Ende.
Doch nicht allzu behende,
Als ob das Haus in Flammen stände.
Wenn ihr bei Fremden zu Gaste seid,
Befleißigt euch sehr der Bescheidenheit.
Auch zu große Schüchternheit
Nicht paßt
Dem Gast.
[40]
Ist die Tafel aufgehoben,
Mag man die Bewirtung loben,
Erstatten Dank
Für Speise und Trank.
Mit dem Ellenbogen
Sich stützen auf den Tisch,
Ist ungezogen,
Ist bäuerisch.
Wenn August Kirschen und Zwetschgen aß,
Schluckt' er oft Steine hinunter;
Der Mutter Warnung er vergaß.
Da eines Tags, o Wunder!
– War es ein Traum? –
Ein Zwetschgenbaum.
– Ein Zwetschgenbaum sage und schreibe –
Wuchs ihm heraus zum Leibe!
Wie weinte der August da,
Als den Baum er sah:
»O je! O weh!
O jemine!
O hätt' ich doch gehorcht der Mama!«
Er schrie, als ob er steckt' am Spieß.
Die Mutter den Gärtner holen ließ.
Der Gärtner war nicht träge,[41]
Entfernte den Baum mit der Säge.
Bald aber ist er nachgewachsen.
Die Geschichte trug sich zu in Sachsen,
Und wer nicht glaubt meinem Wort,
Geh' hin und frage dort.
* * *
[42] Drum, Kinder, verschlucket die Steine nicht,
Wenn ihr Zwetschgen eßt oder Kirschen.
Damit euch kein Baum zum Leib heraus wächst,
Wie Geweihe vom Kopfe des Hirschen.
Vor unreifem Obst nehmt euch in acht.
Das hat schon viele krank gemacht
Und manchen unter den Boden gebracht.
Kinder, laßt das Naschen
Aus Kästen und Flaschen,
Aus Schüssel und Teller
In Küche und Keller.
Naschen und Stehlen sind nahe Verwandte,
Wie Onkel und Tante.
Allzuviel Süßigkeiten
Thun nicht gut,
Schaden den Eingeweiden,
Verunreinigen das Blut.
So manches schmeckt im Anfang süß,
Doch später bitter wie Galle.
So manches Geschöpf mit samtenem Vlies
Hat eine giftige Kralle.
[43]
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